Er saß auf seinem Bürostuhl, wippte nachdenklich mit einem Fuß und kaute an dem Ende eines Kugelschreibers. Über den Tisch verteilt lagen Blätter und Notizzettel, allesamt beschriftet mit Formeln, kurzen Gedankenzuckungen, quer mit Pfeilen und Linien versehen und zusammengeführt. Mitten in dem Wirrwarr aus seinen Gedanken stand das Endprodukt aus alledem. Es war eine Brille, eine Brille, die ihn reich machen könnte. Doch er wollte nicht reich sein. Denn was aus dem Verkauf der Brille oder dem Einweihen von machtvollen Personen folgen würde, war noch mehr Machthunger, als diese Menschen eh schon besaßen. Große Firmen würden sich auf ihn stürzen, er wäre mitten in das Netz der Spinnen hineingeflogen.

Er nahm die Brille in seine Hände, schaute sie liebevoll an und streichelte das Gestell. Er würde sich selber mit der Brille beglücken und niemand anderes hätte an seinem Glück teil. Es gehörte nur ihm, ihm ganz allein. Er stand auf, die Brille vor sich haltend wie eine kostbare, zerbrechliche Vase. Er ging sicher, dass alle Türen abgeschlossen waren und setzte sich zurück in den Bürostuhl. Mit zitternden Händen umfasste er die Brille. Das war sie, seine Chance. Er könnte die Brille nur kurz aufsetzen, nur kurz einen Blick hindurch werfen. Dann würde er sie wieder absetzen und sie zerstören.

Jahre hatte er gewerkelt, für nur fünf Minuten, die er dann von der Brille hatte. Doch das genügte. Nicht der Wissensdurst wie von anderen Erfindern hatte ihn getrieben, sondern seine pure Neugierde. Endlich setzte er die Brille auf. Kurz war alles verschwommen, dann klärte sich das Bild. Sein Herz pochte, als er es sah. Es funktionierte tatsächlich! Er sah eine Straße, sah, wie er sich auf ihr bewegte – nein, wie sie sich bewegte. So abgelenkt von dem Wunder, das er vollbracht hatte, bemerkte er nicht, dass sie die Straße vor seiner Haustüre entlanglief, merkte nicht, dass sie bei ihm klingelte, um einen Termin mit ihm zu vereinbaren, weil sie Unternehmerin war und auf eines seiner Produkte gestoßen war.

Er bemerkte nicht, dass sie auf ihn wartete, war verzaubert von dem Blick durch die Brille. Sie wandte sich um, seufzend. Sie holte ihr Handy hervor, wählte einen Kontakt aus und sagte, dass sie sich nach einem neuen Angebot umschauen müsse, denn die Zeit drängte. Fünf Minuten waren längst herum, doch er dachte nicht daran, den Blick aus ihren Augen zu vergessen und durch seine eigenen zu schauen, zu realisieren, dass sie bei ihm geklingelt hatte, dass der Moment vorüber war, in dem sie sich getroffen hätten, dass er ihr hinterher rennen musste, ihr nacheilen, damit er den Moment doch noch erlebte. Er hatte alles vergessen, sah nur noch durch sie. Sie schloss ihre Wohnung auf, warf den Schlüsselbund in eine Ecke und machte sich etwas zu Essen. Essen, huschte der Gedanke kurz durch sein Gehirn. Er bewegte sich mechanisch zu seinem Kühlschrank, holte etwas heraus und ließ sich wieder in den Bürostuhl sinken. Er schaute zu, wie sie ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen. Sie war wunderschön, realisierte er, dann wurden seine Gedanken wieder verschwommen und er verlor sich in ihrem Blick. Sie ging schlafen.

Setz deine Brille ab, dachte ein klitzekleiner Teil, doch stattdessen schloss er die Augen und schlief in seinem Stuhl ein. Er wachte auf, als sie aufwachte. Setz deine Brille ab, kam wieder der Gedanke, doch er ignorierte ihn und machte sich Frühstück, als sie sich Frühstück machte. Er hatte keine Milch mehr da, doch er wollte auch ein Milchmüsli essen, wenn sie eines aß. Er wankte in Richtung Supermarkt, blieb an der Ampel zur rechten Zeit stehen.

Er sah, wie sie in ihr Auto stieg, während er vor den Milchwaren stand und nach einer Milch angelte. Als er aus dem Laden trat, fuhr sie an ihm vorbei, doch er konzentrierte sich so sehr auf sie, dass er nichts bemerkte. Er kam zurück in seine Wohnung, schottete sich wieder ab, indem er die Tür abschloss und schaute durch ihre Augen, die Augen der Frau, die er später einmal heiratete, das fühlte er, irgendwann würden sie einander begegnen.

Doch sie wären einander schon begegnet, dieses Wissen war ihm vorenthalten. Es verging eine Woche, ein Monat, in denen er nur das Nötigste tat und ihr zusah, wie sie einen Freund fand und sich verliebte.

Betrüger, dachte er, denn er dachte, ihr Freund würde sie verlassen, denn irgendwann, irgendwann traf er sie, irgendwann küsste er sie an der Stelle ihres Freundes. Doch der Freund ging nicht, er machte ihr einen Heiratsantrag, sie sagte begeistert zu und er, er sah zu, wie sie heirateten, wie sie älter wurden, wie er sie verließ, als er eine Jüngere traf, wie sie älter wurde, immer älter, so viel älter.

Dann war irgendwann die Zeit gekommen, sie starb, ihre Kinder an ihrer Seite und er, er realisierte mit Schmerz die Wahrheit, er setzte die Brille ab, sah seinen alten Körper, seine sehnigen Hände. Er stand aus seinem Stuhl auf, der Stuhl von Spinnweben benetzt, zerbrach die Brille, Funken stoben auf. Die Drähte in ihrem Inneren funkten noch ein letztes Mal auf, dann war die Brille still und er trat aus dem Raum.

Er schloss den Raum ab, diesen verhängnisvollen Raum, und öffnete die Haustüre. Das einzig wahre Tageslicht leuchtete ihm in seine eigenen Augen und zitternd trat er aus seiner Wohnung, zurück in die Wirklichkeit.


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Beschreibung des Autors zu "Durch ihre Augen"

Er hat lange daran gearbeitet, eine Brille zu erschaffen, die ihm einen Blick durch die Augen von ihr, seiner großen Liebe, gewährt. Er setzt die Brille auf und wird in ihre Welt hineingezogen... Doch ob er es wieder herausschafft?




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