Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

eine Reihe von Journalisten erhebt harsche Kritik an der Berichterstattung über Katastrophen, wie beispielsweise gerade wieder, wo in Beirut eine verheerende Explosion von Chemikalien das gesamte Hafengelände zerstörte, über 150 Menschen tötete, 5000 Verletzte hinterließ und die Wohnstätten von weiteren 250.000 Personen in Schutt verwandelte.

Diese Journalisten, die sich dabei für besonders redlich halten, bezeichnen die Form der Berichterstattung, bei der blutende Opfer gezeigt werden und die Auswahl der Bilder ganz offensichtlich darauf abzielt, ein möglichst hohes Maß an Mitgefühl und Verständnis zu erzeugen, als „Katastrophenpornographie“. Sie gehen also davon aus, dass es Menschen in wohl verachtenswerter Weise „erregt“, wenn sie diese Bilder sehen. Die Wortschöpfung Katastrophenpornographie legt dies nahe. Ich halte das für unüberbietbar zynisch.

Denn wirkliche Journalisten haben begriffen, dass eine bloße Benennung von Ereignissen und Opferzahlen in den Nachrichten die Menschen nicht in dem Maß „erregt“, die notwendig ist, um in die eigene Geldbörse zu fassen und eine Spende auf den Weg zu bringen. Das vermag nur eines, worauf ich auch in meinen anderen Vorträgen hin und wieder abhebe, die Bloßlegung der tieferen Wahrheit. Diese unterscheidet sich von der oberflächlichen Wahrheit dadurch, dass sie nicht nur Vorkommnisse und Zahlen benennt, sondern dass sie auch die Schichten freilegt, welche die wahren Tragödien von Katastrophen offenbaren.

Dass beispielsweise eine Mutter ihr Kind genau in dem Moment verloren hat, in dem sie mit ihm seinen sechsten Geburtstag feierte, dass ein Vater mit dem Teddy seines Sohnes herumläuft und zugleich hofft, den Sohn wiederzufinden, indem er Fremde hilflos stammelnd fragt, ob sie einen kleinen Jungen gesehen hätten, der nach seinem Teddy sucht, oder dass das Mädchen, dessen Eltern vor ihren Augen von Terroristen massakriert wurden, seit drei Jahren kein einziges Wort mehr spricht.

Es sind manchmal erst die scheinbaren Kleinigkeiten, welche die innere, tiefere Wahrheit bloßlegen, und erst diese sind in der Lage, Emphatie bei den Mitmenschen zu wecken. Es sind also zugleich Appelle an das, woran wir glauben wollen und glauben müssen.

Journalisten sind durch ihren Berufsethos dazu verpflichtet, immer bei der Wahrheit zu bleiben. Aber so wie eine Nuss ihren essbaren Teil erst freigibt, wenn man die harte, ungenießbare Schale geknackt hat, offenbart sich die innere Wahrheit erst, wenn man die Schale der äußeren, faktischen Wahrheit durchbricht. Und wer sagt eigentlich, dass Journalisten nur der äußeren Wahrheit verpflichtet sind?!

Dafür gibt es Statistiker, von denen es im Übrigen selten einer geschafft hat, Millionenspenden, ein erhebliches Aufgebot ehrenamtlicher Helfer und ein nationenweites Verständnis für die Not zu aktivieren, die auf der Welt etwas abseits unseres eigenen Wohlbefindens existiert.

Ein gutes Beispiel ist das Bild des kleinen dreijährigen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi, der ertrunken am Strand liegt. Die Meldung „Dreijähriges Kind auf der Flucht ertrunken“ ist zwar absolut korrekt, aber offenbart sie auch im gleichen Maße wie dieses Bild das ganze Unglück der Flüchtenden?!

Einen weiteren Aspekt hat dieses Bild auch noch zusätzlich offengelegt, und zwar durch einem Kommentar, der in einem rechtsextremen Portal gepostet wurde. Dort wurde das Bild des kleinen Toten gezeigt mit der Unterschrift: „Wer’s findet, darf’s behalten“.

Nicht dieses Foto sondern der unfassbare Kommentar ist die eigentliche Form einer Pornographie, die an Zynismus nicht zu überbieten ist, und eine solche ekelerregende Gesinnung ist ebenfalls nicht an der Oberfläche sondern nur im tiefsten Inneren der Wahrheit zu finden. Dort müssen Journalisten sie suchen und offenlegen. Und es ist gut, dass auf diese Weise zugleich jedem klargemacht wird, in welchen Ecken wir kehren müssen, um Unrat zu entsorgen.

In diesem Sinne kann ich nur hoffen, dass auch Sie sich bemühen, bei allen Ereignissen immer hinter die statistische, numerische, äußere Korrektheit zu blicken. Denn erst dort finden Sie das, worauf es wirklich ankommt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über sogenannte Katastrophenpornografie (Episode 38)"

38. Vortrag des exzentrischen Professors Schwurbelzwirn, diesmal sehr ernsthaft gemeint.

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Kommentare zu "Über sogenannte Katastrophenpornografie (Episode 38)"

Re: Über sogenannte Katastrophenpornografie (Episode 38)

Autor: possum   Datum: 11.08.2020 1:09 Uhr

Kommentar: Ein Einblick, welcher so Mancher übergeht,
sehr gut getroffen in deinem Werk, lieber Peter,
lieben Gruß!

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