Silence

Stille. Sie umhüllte ihn. Begrüßte ihn. Wie so oft, an den Abenden. Wie jetzt, während nur das Einsaugen des Nikotins in seine Lungen zu vernehmen war, während er an seiner Zigarette zog. Er hatte so oft aufgehört, nur um wieder anzufangen. Jetzt war es auch egal. Dort, wo er hinging, war es egal, ob er vorher noch rauchte oder nicht. Dort würde er seinen besten Freund, den er nur bei Nacht traf, zu jeder Zeit antreffen können. Stille. Sein treuester Verbündeter. Wegbegleiter. Sein Blick zierte das Messer, das vor ihm auf dem Tisch lag und dessen Klinge so hell im Schein des Mondes leuchtete. Als würde man ihm ein Zeichen senden, welch Bedeutung dieser Gegenstand nun in seinem Leben einnehmen würde.
Er blies ein letztes Mal den Rauch aus und drückte die Zigarette aus.
,,Wird es wehtun?", er wusste, wie blöd die Frage war, die er stellte. Er kannte die Antwort bereits und doch bräuchte er Gewissheit.
,,Ja. Aber nicht lange."
Zum ersten Mal hatte der Mann sich zu Wort gemeldet. Bereits vor einer Weile war er aufgetaucht. Urplötzlich, aus den Schatten heraus. Hatte ihn einfach beobachtet. Er hätte etwas zu ihm gesagt, ihm fragen gestellt, wenn er nicht gewusst hätte, um wen es sich hierbei handelte. Weshalb er hier war. Er würde ihn begleiten. Ihn hinüberführen, in die Welt, die er schon bald betreten würde. Die Welt, die ihm mehr Freude bereiten würde als die jetzige. Das Sozialexperiment Leben hatte er nicht bestanden, also gab es auch keinen weiteren Grund, an diesem länger teilzunehmen.
,,Werde ich es wirklich durchziehen?"
Der Fremde schmunzelte bloß. Auch das erkannte er, wollte ihm der Mond an seinem letzten Tag einen freien Blick in das letzte Gesicht bieten, das er sehen sollte?
,,Ich bin hier, weil ich das Ergebnis bereits kenne." Er nickte. Verstand. Würde er es nicht tun, wäre der Mann nicht zu Gast. Hätte ihm nie gewährt, ihm zu Gesicht zu kommen, außer an dem Tag, an dem er ihn schlussendlich abholte. Wie er jeden Menschen früher oder später abholte.
,,Wie ist es dort?"
,,Du hast Angst."
Es war keine Frage. Feststellung. Der Fremde wusste, wie er sich fühlte. Was in ihm vorging. Er war nicht der Erste und sicherlich nicht der Letzte, der das Unausweichliche hinauszögerte. Natürlich hatte er Angst. Er hatte lange über diese Entscheidung nachgedacht. Viele Abende gab es nur ihn, die Stille und das Messer. So viele Male hatte er es sich überlegt und schlussendlich dagegen entschieden. Doch heute war alles anders. Dieser Mann erschien. Er erschien, um ihn schlussendlich mit sich zu nehmen, an den Ort, an dem er landen würde. Wo das auch immer sein würde. War er ein guter Mensch? Ein schlechter? Er konnte es nicht beurteilen. Er war es schließlich auch nicht, der dies bewertete. Doch würde er nicht schlussendlich einen Ort, an dem jeder ihn wegen Geld, Beruf und Liebe bewertete, gegen einen anderen Ort tauschen, an dem er sogleich von Beginn an bewertet wurde?
Er nahm das Messer in die Hand.
,,Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende."
Schmerz. Blut.
Das, was er fühlte und sah, als er seinen Plan in die Tat umsetzte. Er hatte sich getraut. Doch ob es ein Fehler war oder die erhoffte Erlösung, würde sich später zeigen.
Er spürte die wärmende Hand auf seiner Schulter, während der aufkommende Schmerz verging.
,,Komm, ich bringe dich nun nach Hause."
Und wie einen alten Freund, den man schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, hüllte er ihn in eine Umarmung, ehe sie schließlich beide verschwanden.

Nur die Stille war noch zu vernehmen. Der Freund, der ihn so oft begleitete, und nun über sein zurückgelassenes Hab und Gut wachte. Einen letzten Dienst erwies für seinen alten Freund.


© W-B


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Wenn dich die Stille und der Tod besuchen kommen ...

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