Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

neulich habe ich mich einen ganzen Abend lang bei einem guten Rotwein mit einem emeritierten Kollegen unterhalten, der vor einigen Jahren Politikwissenschaften an unserer Universität lehrte. Es war eine lebhafte Unterhaltung, die umso lebhafter wurde, je weiter der Abend fortschritt und je leerer das Rotweinflaschenregal in seinem Keller wurde.

Er entwickelte an diesem Abend eine kühne Idee. Ich möchte Ihnen die Grundzüge seiner Gedankengänge heute einmal zum Zwecke des Nachdenkens und zur Diskussion vorstellen.

Wie wäre es, so meinte er, wenn diejenigen europäischen Länder, die gemeinsame Werte, Verzicht auf autoritäre Tendenzen, gemeinsame Steuer-, Wirtschafts- und Außenpolitik zu vertreten willens wären, eine neue Union gründeten. Natürlich eine, in der es kein Vetorecht für einzelne Länder mehr gäbe, sondern höchstens die absolute Mehrheit Gültigkeit habe, wobei jedem einzelnen Land unabhängig von seiner Größe oder Wirtschaftskraft die gleich Anzahl von Stimmen zustünden.

Vor der Gründung dieser Union müssten die willigen Länder natürlich erst einmal aus der derzeitigen EU austreten. Anschließend würden sie sich zur EWU zusammenschließen, der Europäischen Werte-Union. Wer dieser EWU beitreten wolle, müsse deren Werte teilen und zwar derart, dass ihre Einhaltung jederzeit von unabhängigen Prüfungskommissionen sichergestellt würde, denen natürlich auch die Macht verliehen wäre, sie durchzusetzen.

Die EWU wäre äußerst finanzstark, da sie vermutlich Frankreich, Deutschland, die nordeuropäischen Länder und wahrscheinlich auch Österreich, Italien, Spanien und Griechenland umfassen würde. Sie würde sich Subventionen an diejenigen vornehmlich osteuropäischen Länder sparen, die die Einhaltung der gemeinsamen EWU-Rechte, vor allem natürlich der Menschenrechte, zu lax oder auch gar nicht wahrnehmen würden.

Jedem Land, das der EWU angehörte, müsste von den anderen Mitgliedern geholfen werden, natürlich nur dann, wenn dieses Land seine Steuer-, Wirtschafts-, Rechts- und Finanzpolitik durch Reformen auf dem vom gemeinsamen EWU-Parlament beschlossenen Standard hielte, beziehungsweise sich unumschränkt von anderen Ländern bei der Verwirklichung dieser Reformen helfen ließe, falls es sie alleine nicht zustande bringt.

Jeder EWU-Bürger hätte Anrecht auf ein bedingungsloses Grund­einkommen und kostenfreie Internetanbindung, deren Finanzierung durch eine konsequente Transaktionssteuer sichergestellt würde. Die menschlichen Grundbedürfnisse wie der Öffentliche Personennahverkehr, die Versorgung mit Wohnraum, Wasser, Energie, Gesundheit und Bildung wäre Sache des gemeinsamen EWU-Staates, der einer weisungsbefugten Effizienzkontrolle unterstünde. Ein gemeinsamer EWU-Gerichtshof hätte uneingeschränkte Unabhängigkeit und durchgreifende Rechte, Vergehen zu verfolgen und zu bestrafen.

Soziale Netzwerke wären in der EWU nur dann zugelassen, wenn sie die EWU-Regeln nicht nur akzeptierten, sondern auch nachdrücklich durchsetzten. Außerdem müssten sie ihre in der EWU erwirtschafteten Werbeeinnahmen nach den EWU-Steuersätzen und selbstverständlich auch in der EWU versteuern. Steuerpflicht gälte auch für internationale Internet-Verkaufsplattformen, wo in der Welt auch immer ihr Hauptfirmensitz läge.

Asylsuchende Flüchtlinge würden in der EWU aufgenommen und auch sofortige Arbeitserlaubnis erhalten. Falls sie schwer straffällig würden, können sie jedoch ohne Vorbehalt abgeschoben werden, zur Not sogar in Krisengebiete, was sie durch Vermeidung von Straftaten ja jederzeit verhindern könnten.

Es war ein sehr interessanter Abend, den wir damit beschlossen, dass wir uns mit schon etwas schwerer Zunge und natürlich in der lateinischen Originalversion von 1516 abwechselnd Kapitel aus „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ von Thomas Morus vorlasen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie in einer Zukunft aufwachsen, in der zumindest ein Zipfelchen der an diesem Abend entwickelten Gedanken verwirklicht würde und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über eine Europäische Werte-Union (Episode 34)"

Das 34. Kapitel in den Vorträgen des absonderlichen Querdenkers Professor Dr. Anatol Schwurbelzwirn

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