Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

Verhüllungen werden oft dazu benutzt, Dinge vor dem optischen „Zugriff“ zu verbergen. Das gelingt bei Postpaketen, Transportkisten oder Kuverts für persönliche Botschaften durchaus. Zuweilen jedoch wird mit Verhüllungen genau das Gegenteil erreicht, nämlich eine Enthüllung. Zwar wird das Ding an sich verborgen, seine Bedeutung jedoch gerade dadurch erst spektakulär offengelegt. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen:

Es geht um die Prachtgewänder von Königen, Kaisern und Päpsten. Auch sie verhüllen einen armseligen nackten Menschen. Aber indem sie diesen verhüllen, enthüllen sie zugleich sein Unbedeutendsein gegenüber dem Universum oder – um auch die Gläubigen unter Ihnen zufrieden zu stellen – vor Gott.

Es ließen sich sicher noch eine Reihe weiterer Beispiele anführen, lassen Sie mich aber lieber zu dem kommen, worauf ich eigentlich hinauswill. Nämlich auf die Kunst.

Ein ganz aktueller Fall ist das Werk des leider kürzlich verstorbenen Künstlers Christo. Dieser hat ja bekanntlich verschiedene Objekte verhüllt, unter anderem auch den Reichstag. Hat diese Verhüllung etwas verborgen? Nein, im Gegenteil! Sie hat etwas enthüllt, nämlich die aufdringliche und gnadenlose bauliche Präsenz der Macht.

Jetzt aber zu weniger martialischen Beispielen. Nehmen wir den Impressionismus in der Malerei. Die wahre präzise Gestalt der Objekte wurde hier so weit „verhüllt“, dass zeitgenössische Kritiker die Bilder von Monet, Sisley, Turner und anderen Zeitgenossen empört als „Schmiererei“ bezeichnet haben. Aber haben diese Künstler nicht eigentlich gerade durch die Zurückdrängung der vordergründig realistischen Gestalt der Dinge deren wahres Wesen geradezu provokativ enthüllt? Wenn auch freilich nicht für diejenigen, die für das wahre Wesen kein Wahrnehmungsorgan besitzen, also unter einer gewissen Form kunstbezogener Debilität leiden.

Ebenso ist dieses Phänomen in der Literatur zu beobachten. Eine gute Metapher in einem Gedicht verhüllt einen Tatbestand in einem Maße, dass ein Redakteur, der der realistischen Berichterstattung verpflichtet ist, seine Aufgabe sträflich vernachlässigen würde, benutzte er metaphorische Darstellungen beispielsweise in einer Tageszeitungsinformation.

Ein Dichter jedoch verwendet sie, um durch die sprachliche Verhüllung die Bedeutung eines Dinges oder eines Vorganges um so deutlicher herauszustellen. Er enthüllt durch die Verhüllung ihres realistischen vordergründigen Soseins eigentlich erst ihre wirkliche Wahrheit. Dies und sonst nichts sollte meiner Überzeugung nach ja auch das eigentliche Wesen der Kunst sein.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen als Beispiel ein Gedicht von Theodor Storm vorführen. Es trägt den Titel „Die Nachtigall“.

Das macht, es hat die Nachtigall

Die ganze Nacht gesungen;

Da sind von ihrem süßen Schall,

Da sind in Hall und Widerhall

Die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Blut;

Nun geht sie tief in Sinnen,

Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut

Und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall

Die ganze Nacht gesungen;

Da sind von ihrem süßen Schall,

Da sind in Hall und Widerhall

Die Rosen aufgesprungen.

Dieses wunderbare Gedicht „verhüllt“ eine Situation, indem es von einem Vogel erzählt, der die die ganze Nacht gesungen hat, außerdem von einem Mädchen, welches vergisst, sich vor der prallen Sonne zu schützen und nicht so recht weiß, was es mit sich anfangen soll.

Doch gerade diese „Verhüllung“ eines realistischen Tatbestandes enthüllt, dass es sich in diesem Gedicht eigentlich viel eher um die erste Liebe eines jungen Mädchens handelt, um ihr Erwachen aus dem Zustand der Kindlichkeit und ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen und damit in eine Welt, in der auch körperliche Anziehung, Hormone, Sexualität und Begehren ihren Platz haben.

Dies ist die innere Wahrheit dieser Verse. Und dies ist zugleich das, was Storm empfand, als er diese Zeilen niederschrieb und ebenso das, was der Leser ihnen entnehmen soll. Mitnichten wollen sie dem Leser Informationen aus dem Bereich der Ornithologie oder der Sonnenbrandprävention vermitteln.

Ich wollte Ihnen, liebe Zuhörer, mit diesem kurzen Vortrag vor Augen führen, dass es oft unbedingt notwendig ist, etwas zu verhüllen, um es bloßzulegen. Dies ist die Wahrheit der Dichter, die Wahrheit der Kunst. Und damit ihre ureigentliche Bedeutung und Aufgabe.

Ich hoffe, dass Sie an diese Ausführung zurückdenken, wenn Sie in der nächsten Zeit beispielsweise ein Seerosenbild von Monet betrachten (also eigentlich das Zuhausesein in der Schönheit der Natur) oder das Gedicht „Die Mondnacht“ von Eichendorff lesen (also eigentlich den Ablauf eines Lebens von der Zeugung bis zum Heimgang in die Ewigkeit).

Und zugleich danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über Enthüllung durch Verhüllung"

Ein neuer Vortrag des bekannten Querdenkers und Professors Prof. Dr. Anatol Schwurbelzwirn

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