Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

ich möchte den Gedankengang, an den ich Sie heute heranführen will, mit einer unbestreitbaren Wahrheit beginnen:

1+1=2

Niemand im Saal wird diese simple Wahrheit bestreiten. Aber was bewirkt diese Wahrheit? Sie steht in der Welt wie ein Denkmal, steinern, unbeweglich, nichts bewirkend, nichts aus sich erwachsen lassend, also wirklich simpel.

Stellen wir einen anderen Satz dagegen:

Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.

Dieser Satz ist zweifellos zum großen Teil unwahr. Schwalben können zwar problemlos die Fluten eines Sees streifen. Fahrt, also eine Bewegung, und Nacht, also ein Zeitraum, kann ihnen aber zweifellos nicht als Getränk dienen.

Wir sehen also, dass Kunst – die beiden Verszeilen stammen übrigens von Gottfried Benn – sich ganz selbstverständlich und ungestraft der Unwahrheit bedienen kann, und Sie werden zweifellos auch andere Beispiele aus anderen Kunstbereichen finden, die ebenfalls der wahren, zumindest von uns wahrnehmbaren Realität nicht entsprechen.

Wenn wir allerdings davon ausgehen – und das tue ich, wie ich ausdrücklich betonen möchte – dass jeder Mensch grundsätzlich nach Wahrheit sucht, dann wären annähernd die gesamte Tätigkeiten von Künstlern kontraproduktiv.

Was also bringt Kunstschaffende dazu, ausgenommen vielleicht von ganz wenigen Perioden in der Kunstgeschichte, sich im der Unwahrheit zu bedienen, um zur Wahrheit zu gelangen?

Ist es die lediglich zum Zwecke des Überlebens entstandene evolutionäre Eigenschaft, im Chaos plausible Strukturen zu entdecken? Jeder von Ihnen hat das schon einmal oder auch öfter erlebt, wenn er einen grob gewebten Teppich oder einen groben Strukturanstrich einer Wand längere Zeit betrachtet hat; ich musste das übrigens schon als Kind des öfteren tun, wenn ich wegen Ungehorsams in der Ecke stehen musste: Nach einer Weile sieht man hier und dort sinnvolle Figuren, meistens aber Gesichter. Das ist nachvollziehbar, denn das Erkennen von Gesichtern, also den Spiegelbildern von Gefühlen und Absichten, bringt uns den Vorteil, in Sekundenbruchteilen die Absichten von Unbekannten „lesen“ zu können. Das führt natürlich zu einer deutlich gesteigerten Überlebenschance, falls dieser Unbekannte ein Feind ist, also eine Bedrohung darstellt.

Oder wachsen dem Künstler die Strukturen nicht durch eine Zufälligkeit der Evolution zu wie eben ausgeführt, sondern nutzt er sie mit voller Absicht, indem er in eine klare, reale und damit wahre Welt das Chaos hineinträgt, um eigentlich von der Suche nach Wahrheit abzuweichen? Sozusagen eine Wahrheitssuche abzubrechen, weil er dieses Ziel möglicherweise sogar für nicht erreichbar hält?

Ich bin der Überzeugung, dass er keines von beidem tzutrifft. Der Künstler sucht natürlich nach der Wahrheit. Aber ist er eigentlich in der Lage, diese zu finden, wenn er doch so scheinbar untaugliche Mittel dazu einsetzt?

Nein, er findet die Wahrheit auf diese Weise nicht. Er findet viel mehr, nämlich eine wahrere Form der Wahrheit.

Gibt es überhaupt eine Steigerung von wahr? Mancher hier im Saal wird sagen, dass wahr eben wahr sei, so wenig steigerbar wie „tot“, wie „unbestreitbar“. Wahr ließe sich nicht steigern, wird er argumentieren, denn nichts kann wahrer sein als wahr. Genauso wie das Ergebnis der Addition von 1 und 1 nicht zweier sein kann als zwei.

Ich halte das für einen Irrtum. Es gibt sehr wohl eine höhere Form der Wahrheit. Sie erschließt sich uns, wenn wir eine Fuge von Bach hören, ein Bild von Monet betrachten und eben die Metaphern eines genialen Gedichtes lesen oder vernehmen. Die höchste Form von Wahrheit wird aus dem Chaos geboren. Das erinnert mich an die Entstehung des Universums. Ich rede nicht vom biblischen Schöpfungsmythos sondern vom Urknall. Aufgrund winziger Abweichungen von Gravitationsfeldern haben sich nach diesem singulären Ereignis ja im Wirbel der Atome und Elementarteilchen Cluster gebildet, die am Ende zu Welten, zu Galaxien von solch überwältigender Schönheit angewachsen sind, dass viele Menschen sie für nicht weniger als göttlich halten.

Genau das Gleich geschieht beim künstlerischen Schaffens­prozess, der Künstler schafft aus dem Chaos herrliche Strukturen und – schelmisch wie er ist – lässt er am Ende Reste des Chaos in seinen Werken weiterwirken. Uns zum Rätsel oder zur Erbauung.

So wie das Echo des Urknalls noch heute messbar ist, so zeugt auch jeder Überrest des Chaos, das wir in einem Kunstwerk vorfinden, als abstruse Metapher, als Klangverzerrung, als das blaue Fell eines Pferdes von einem Schöpfungsakt, der wahrhaft göttlich zu nennen ist. Und der etwas für viele verbirgt und für manche auch enthüllt. Ich nenne es die höhere Wahrheit.

Denken Sie einmal darüber nach, wenn Sie in der nächsten Zeit – wie ich nicht zweifle ergriffen und zugleich demütig ein Turnergemälde, eine Brahms-Symphonie oder ein Rilke-Gedicht genießen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über die höhere Wahrheit, die aus dem Chaos entsteht (Episode 27)"

Ein neuer Vortrag des irrwitzigen Professors Anatol Schwurbelzwirn (der manchmal gar nicht so dumme Gedanken hat)

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