Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

es gibt ja – sicher auch unter Ihnen – zahlreiche Naturfreunde. Die Natur, die man von Kind an gewohnt ist, betrachtet man oft als seine eigentliche Heimat. Dieses naturbezogene Heimatgefühl ist umso stärker ausgeprägt, je extremer auch die Ausprägung der Landschaft ist. Wilde Gebirgslandschaften, das Meer, die Wüste – wer an solchen Orten wohnt, hat oft eine besonders starke Bindung an die Natur der Gegend, in der er aufgewachsen ist.

Ich muss Ihnen gestehen, dass mein Heimatgefühl weniger von der Natur geprägt ist, sondern fast ausschließlich von den Menschen, die ich dort vorfinde. Ich habe also kein topografisches Heimatgefühl, sondern eher ein soziales.

Aber zurück zur Naturliebe. Warum finden wir – zumindest seit der Romantik – die Natur „an sich“ schön. Objektiv gesehen ist ein Berg ja lediglich ein Stück mehr oder weniger bewachsener Fels, der aus der Erdoberfläche ragt. Ein See ist eine Wasseransammlung in einer Vertiefung des Erdbodens, das Meer ist das Gleiche nur in größeren Ausmaßen und die Wüste schließlich ist Sand, wie man ihn auch auf einer normalen Baustelle vorfindet, ohne dass man darüber in Begeisterungsrufe ausbräche.

Im Barock war das noch ganz anders. Da fand man nur das schön, was Menschenhand geschaffen hatte. Das lässt sich bis in die Literatur nachweisen. Wenn in Barockgedichten die Natur gepriesen wird, werden dafür häufig handwerkliche Begriffe gewählt. Da begegnen wir „zart gedrechselten Rosenblättern“, „kunstvoll emaillierten Gräsern“, und „anmutig gemalten Sonnenuntergängen“. Eine Verszeile wie Mörickes „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“ wäre keinem Barockdichter aus dem Federkiel geflossen.

Woher rührt also die Anbetung der Natur in der Romantik, diese fast religiöse Beziehung zu Blüten, Bäumen, Feldern, Seen; zu Dingen also, die objektiv gesehen zweckmäßig sein mögen, auch durch ihre evolutionäre Entwicklung optimal in ihre Umwelt eingepasst oder sogar nutzbringend, aber warum findet man sie seit dieser Zeit bedingungslos „schön“?

Da die Natur unser Biotop darstellt, in dem wir, und nur in dem wir existieren können, dann könnten wir ja diese Harmonie zwischen uns und dem, was uns umgibt, zweifellos als perfekt bezeichnen. Vielleicht finden wir Natur ja deshalb schön. Aber dieses Gefühl des perfekten Eingebettetseins in die Natur, also unser eigentliches Biotop, müssten die Menschen doch auch schon vor der Romantik empfunden haben.

Ist es ein (durch nichts sonst bestätigter) Verlust an anthropozentrischem Empfinden, welches die Blicke eher auf die Natur lenkt, als zurück auf uns selbst? Aber was hätte das mit ästhetischen Aspekten zu tun?

Ist es der Gewinn an innerer Ruhe, der sich in uns ausbreitet, wenn wir in stiller Naturbetrachtung an einem See sitzen oder das aktuell in Mode geratene „Waldbaden“ genießen? Auch das könnte natürlich sein. Aber wären da Begriffe wie Harmonie, Zu-sich-selbst-finden oder ein tieferes Empfinden seiner eigenen existenziellen Wurzeln nicht eine viel passendere Bezeichnung als das Wort „schön“?

Vielleicht hilft uns ja die Ethymologie weiter. „Schön“ hängt mit dem Wort „schauen“ zusammen. Ursprünglich bedeutet es also, dass etwas Schönes „anmutig anzuschauen“ war. Wenn wir dem Wort „Natur“ weiter nachspüren, so gelangen wir zu „natus sum“ also zum Geborensein, zum Wachsen, zum Gedeihen.

Vielleicht finden wir die Natur deshalb schön, weil sie „Wachstum“ verkörpert. Dann jedoch müssten wir auch den entgrenzten Kapitalismus „schön“ finden, da er ja den Inbegriff des Wachstums darstellt, auch ein Krebsgeschwür tut dies in ausgeprägtem Maße. Sind diese deshalb schön? Wohl eher weniger!

Das Wesen der Schönheit bleibt also ein Rätsel, obwohl die meisten von uns sehr wohl bestätigen können, dass sie die (unberührte) Natur schön finden. Ja, sie können sogar benennen, warum sie dies tun. Aber wenn wir genau hinhören, klingen ihre Argumente immer eher nach „sich wohlfühlen“, nach „mit etwas eins sein“ oder „seit Ewigkeiten und für Ewigkeiten“. Fast immer gleiten ihre Beschreibungen in ein nebulöses transzendentales Empfinden hinüber.

Vielleicht ist es deshalb ja besser, wir versuchen erst gar nicht, das Phänomen der Naturbewunderung zu enträtseln. Aber lassen Sie uns doch wenigstens so tolerant sein, dass wir den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nicht schelten, wenn er sagt „Natur ist erst schön, wenn Dichter sie beschreiben“. Ein Bewunderer der bildenden Kunst hätte auch sagen können „Natur ist erst schön, wenn Monet sie malt“, oder noch konsequenter „Natur ist erst schön, wenn der Mensch sie konsumiert und wieder als Kunstwerk ausgeschieden hat“.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit – trotz der ablehnenden Reaktionen, die ich hier und dort im Kreise der heutigen Zuhörer beobachtet habe, als ich den Zweifel anklingen ließ, ob der Begriff „schön“ für die uns umgebende Natur anwendbar ist. Diese Zweifel wird Ihnen übrigens auch jeder Afrikaner bestätigen, der in der „natürlichen“ Nachbarschaft eine Müllkippe lebt, sogar wenn auf dieser nur natürliche Objekte, also Bioabfälle gelagert werden.

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© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über die Frage, ob die Natur an sich schön ist (Episode 24)"

Ein weiterer Vortrag des in die Skurrilität abgeglittenen Professors Anatol Schwurbelzwirn.

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Kommentare zu "Über die Frage, ob die Natur an sich schön ist (Episode 24)"

Re: Über die Frage, ob die Natur an sich schön ist (Episode 24)

Autor: possum   Datum: 26.03.2020 23:43 Uhr

Kommentar: Lieber Peter,
jetzt hast du mich direkt ins Schleudern gebracht, so gesehen ...
trotz alledem mein Stückchen Heimat sind auch immer noch die Menschen, mit denen ich groß wurde, aber die Natur und die Stille ist mein Balsam ... so war es schon als Kind, ich frag nicht warum ... und bin einfach mal frech ohne Frage zu genießen ... grins!
lieben Gruß!

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