Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

wie Sie vielleicht wissen, bin ich seit längerer Zeit Mitglied in einem literarischen Schreibkreis, wir verfassen dort spontan Geschichten, Gedichte oder andere Textformen zu einem vorgegebenen Thema.

Ich habe bisher meine Texte, die ich dort mit Stift und Papier verfasst hatte, immer später zu Hause an meinem Schreibtisch in den Computer getippt, damit ich sie jederzeit in digitaler Form zur Verfügung habe und – falls sie etwas taugen – auch überarbeiten und archivieren kann. Vor ein paar Wochen wurde mir das zu lästig, und ich habe daraufhin beschlossen, im Schreibkreis mein Tablet zu nutzen. Damit es die anderen Literaturfreunde, die über ihren Texten brüteten, nicht akustisch belästigen möge, versah ich es mit einer externen Tastatur, bei deren Kauf ich darauf geachtet hatte, dass sie nur ein kaum vernehmbares Anschlagsgeräusch verursachte.

Das Mitbringen des Tablets jedoch brachte mir augenblicklich böse Blicke ein, ja der eine oder andere setzte sich am gemeinsamen Tisch sogar an eine andere Stelle. Langsam gewann ich den Eindruck, dass man die Nutzung eines technischen Schreibgerätes eigentlich eher deshalb nicht akzeptierten wollte, weil es gewissermaßen einen Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln abendländischer Schreibkulturtradition darstellte.

Diese Situation führte – als wir nach dem Schreiben bei einem Glas Wein zusammensassen – zu einer erregten Diskussion. Man unterstellte mir zumindest andeutungsweise, intolerant zu sein und andere indirekt wegen ihrer scheinbar altmodischen Schreibausstattung und Denkweise zu verachten, sie als zu dumm zu betrachten, die Bedienung technischer Geräte zu begreifen.

Das entsprach nun durchaus nicht meiner Intention. Ich gestehe jedem zu, sich dem technischen Fortschritt zu verweigern, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht will er für einen Computer oder ein Handy kein Geld ausgeben, weil er sich dafür lieber ein Buch, ein Bild oder eine Brieftaube kaufen möchte. Vielleicht stößt ihn als deutschen „Dichter & Denker“ das Übermaß der teilweise unverständlichen englischen Fachausdrücke ab. Vielleicht träumt er sich mithilfe von Stift und Papier in seine eigene Jugend zurück, obwohl er dann konsequenterweise in vielen Fällen eigentlich mit Kreide auf einer Schiefertafel schreiben müsste. All das gestehe ich jedem zu.

Nicht jedoch gestehe ich ihm zu, mich als Gefährder abendländischer kultureller Traditionen zu begreifen. Technische Paradigmenwechsel haben ja zu allen Zeiten stattgefunden, und geklagt haben darüber immer nur die ewig Gestrigen. Das war sicher auch so, als man von Keilschrift und Tontafeln zum Papyrus übergegangen ist oder später von handgeschriebenen und ausgemalten Niederschriften in den Klöstern zum Buchdruck des Herrn Gutenberg.

Auch erscheint es mir als gedanklich inkonsequent, wenn jemand das Abendland durch den Gebrauch eines Tablets in Gefahr gebracht sieht, gleichzeitig aber mit einem Kugelschreiber schreibt, der ja in den 40er Jahren erfunden wurde, also einer Zeit, in der der 2. Weltkrieg tobte und der abendländischen Kultur wie in wenigen anderen Zeiträumen die völlige Zerstörung drohte.

Doch verfolgen wir doch durchaus einmal kurz einige Gedankengänge über symbolische Werte. Beispielsweise könnte man ja durchaus behaupten, dass die Kugel im Kugelschreiber oder in einer Computermaus ein Symbol für die gemeinsame Kultur dieses Erdballs darstellt, während die Spitze eines Federkieles oder eines gut gespitzten Stiftes ein Symbol für die Waffe darstellt, mit der das Abendland jahrhundertelang die restliche Welt unterdrückt hat. Ebenso aber könnte man die Kugel zum Symbol für die Bedrohung durch moderne Schießgeräte und den Federkiel zum Symbol für den freien Flug des Pegasus, also der Fantasie erklären.

Liebe Studierende, diese von mir konstruierten absurden Beispiele vermitteln Ihnen hoffentlich die Einsicht, zu welchen irrationalen Gedankengängen sich Ideologien versteigen können.

Ich plädiere dafür, dass die Inhalte zählen, und nur diese! Auf welchem Wege sie zum Rezipienten finden, ist dabei absolut zweitrangig.

Also liebe Bewahrer der abendländischen Hochkultur, stilisiert Unkenntnis bitte nicht zu Kultiviertheit um, Desinteresse nicht zu Bewahrung höherer Werte und Alter nicht zum angeblich naturgegebenen Faktum, dass man in fortgeschrittenen Jahren eben leider komplexe technische Zusammenhänge nicht mehr begreifen könne.

Dies, und nur dies wäre Diskriminierung. Denn wer wollte allen Ernstes behaupten, dass ein 80-jähriger das nicht mehr begreifen kann, was ein 30-jähriger begreift, nur weil er 50 Jahre älter ist? Das wäre ja Diskriminierung einer gesamten Generation. Und das wäre es übrigens auch, wenn der 80-jährige es selbst behauptet, denn damit diskriminiert er sich gewissermaßen ja selbst.

In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse, ganz gleich, ob sich das nun durch den Gebrauch eines elektronischen Gerätes oder die Nutzung von Papier und Bleistift offenbart.




© Peter Heinrichs


2 Lesern gefällt dieser Text.




Beschreibung des Autors zu "Über die Frage, ob die Digitalisierung ein Feind abendländischer Kultur ist (Episode 21)"

Dies ist der 21. "Vortrag" des abgedrehten Professors Anatol Schwurbelzwirn. Der immer wieder seinen Studenten meine verrückten Gedankengänge übermittelt.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Über die Frage, ob die Digitalisierung ein Feind abendländischer Kultur ist (Episode 21)"

Re: Über die Frage, ob die Digitalisierung ein Feind abendländischer Kultur ist (Episode 21)

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 13.03.2020 15:38 Uhr

Kommentar: Lieber Peter,
ich bin so froh, dass es diesen Professor Schwurbelzwirn gibt, für den du diese interessanten Vorträge schreibst. Naja, wir haben ja auch etwas davon, und dafür danke ich dir.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Über die Frage, ob die Digitalisierung ein Feind abendländischer Kultur ist (Episode 21)

Autor: mychrissie   Datum: 13.03.2020 17:24 Uhr

Kommentar: Danke, lieber Wolfgang, es geht einem ja immer mal wieder so einiges durch den Kopf, was danach rdarum barmt, dem erlauchten Mund des Professors Anatol Schwurbelzwirn zu entströmen. :-)

Gruß Peter

Kommentar schreiben zu "Über die Frage, ob die Digitalisierung ein Feind abendländischer Kultur ist (Episode 21)"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.