In einem einsamen Tal eines gebirgigen Landes, das heute keiner mehr kennt, lebte einmal ein Bauer, der war ein rechter Ganove. Er beutete seine Diener aus, nahm von anderen viel zu hohen Zins und wenn es darum ging, seine eigenen Schulden zu begleichen, zögerte er den Rückzahltermin so lange hinaus, bis der Gläubiger fast bankrott war. Wenn es aber um das Eintreiben von Schulden ging, die andere bei ihm hatten, war er unerbittlich, und zögerte nicht, braven Mitbürgern das Fell über die Ohren zu ziehen.

Eines Tages klopfte es an seine Tür, und vor ihm stand ein gut angezogener, ordentlich gescheitelter, vornehmer Herr, der ihn fragte, ob er denn wirklich, wie in der Gegend erzählt werde, der wohlhabendste und auch schlaueste Bauer in der Umgebung sei.

„Der bin ich in der Tat“, antwortete der Bauer mit peinlich übertriebenen Stolz. „Dann habe ich Euch einen ein interessantes Geschäft anzubieten“, sagte der Herr, „ich habe mit einigen Eurer Nachbarn noch ein Hühnchen zu rupfen, und wenn Euch interessante Möglichkeiten einfallen, das Volk in diesem Tal ein wenig zu ärgern oder Ihnen irgendwelche Nachteile zu verschaffen, dann seid ihr mein Mann. Es soll Euer Schaden nicht sein“.

Der Bauer schlug ein, denn er witterte sofort Vorteile für sich, weil der Fremde sehr wohlhabend und freigiebig aussah. Und außerdem war der bösartige Bauer immer dafür zu haben, anderen Schaden zuzufügen. Schlau gab er dem offensichtlich reichen Fremden zu bedenken, dass seine Dienste nicht billig seien, damit hoffte er, seine Belohnung noch weiter in die Höhe zu treiben. „Kosten spielen für mich keine Rolle“, meinte der Fremde. Und als er sah, dass Gier im Blick des Bauern aufschien, lächelte er unmerkbar.

Schon am nächsten Tag begann es. Einer der Nachbarn kam zu dem Bauern und klagte, dass ihm die Ernte schlecht geraten sei, und ob er seine Schulden nicht einen Monat später bezahlen könne. Der Bauer grinste und meinte, dass dies gar kein Problem sei. Allerdings, fügte er hinzu, erhöhe sich die Schuld dann natürlich, nämlich auf das Doppelte.

„Das ist unmöglich“ klagte der Nachbar, „dann müsste ich ja am Bettelstab gehen“.

„Gut“, sprach der Bauer mit gespielter Gutmütigkeit, „dann gebe ich dir noch einen Monat mehr, doch du wirst sicher verstehen, dass deine Schulden sich dann vervierfachen“. Verzweifelt zog der Bauer ab, und schon am nächsten Tag ging die Nachricht durch das Dorf, dass sich der säumige Schuldner in seiner Scheune ergehängt hatte.

Am Abend stand der Fremde wieder vor der Tür und grinste. „Das hat ja superb geklappt, Geld kann ich Euch nicht geben, denn damit umzugehen ist mir leider verboten, aber welchen Gefallen soll ich Euch stattdessen tun?“

„Mach mein Haus ein bisschen höher“, sagte der Bauer, nachdem er seine Enttäuschung heruntergeschluckt hatte, „setze einfach ein Stockwerk oben drauf. Dann kann ich auch die Umtriebe meiner Nachbarn besser beobachten“. Er wusste, dass die Kosten für die Erweiterung seines Hauses sicher höher waren, als ein bloßes Geldgeschenk.

„So soll es geschehen“, sagte der Fremde, „morgen wird dein Wunsch in Erfüllung gegangen sein“.

Als der Bauer am nächsten Tag erwachte, fand er in seinem Wohnzimmer eine Treppe mit massiven Buchenholzstufen und schmiedeeisernem Geländer vor. Als er hinaufstieg, trat er in ein erstes Stockwerk, das nicht nur großzügig gestaltet, sondern auch noch ganz exquisit eingerichtet war. Schimmernde polierte Truhen standen an den Wänden. Geschnitzte Schränke mit herrlichem goldenen Geschirr hinter den Glastüren blendeten seine Augen. Als der Bauer aus dem Fenster schaute, sah er unten vor dem Haus die gaffende Menge der Talbewohner, die entzückt und neidvoll zu der herrlich geschmückte Außenfront seines Hauses hinüberblickte. Welch ein Luxus war da in ihr Dorf gekommen, welche wundervolle Architektur konnten sie bewundern. In keinem der Nachbartäler hatte je ein schöneres Haus gestanden.

Der Bauer rief eitel hinab: „Schaut her, wie schön mein Haus ist. Wenn ihr nicht solche faulen Halunken wäret, könntet ihr längst auch so eine schöne Bleibe besitzen“. Schulterzuckend ging die Menge auseinander.

Am Abend gab der Bauer ein großes Fest zur Feier seines Hauses. Es wurde getanzt und getrunken, und er merkte sich gut, welcher der Bauern mit einem hübschen Mädel im Heu verschwand, die nicht seine Ehefrau war.

Er notierte sich die Namen gut, und schon am nächsten Tag schaute er beim reichsten von ihnen vorbei und sagte: „Du willst doch sicher nicht, dass deine Frau erfährt, was du gestern mit der jungen Dienstmagd Zenzi getrieben hast“.

„Psst“, flüsterte der Nachbar, „das darf meine Frau auf keinen Fall erfahren“.

„Das wird sie auch nicht, sicher nicht, wenn du mir einfach nur den Acker hinter deinem Haus überschreibst“.

„Aber dann kann ich ja nur noch eine halbe Ernte einbringen“.

„Aber dafür hast du ein friedliches Heim, das nicht von einer wütenden Ehefrau in Unruhe versetzt wird. Wenn ich übrigens richtig informiert bin, gehört ihr ja sogar dein gesamter Hof, wenn sie sich also scheiden ließe, hättest Du gar nichts“.

Da gab der Nachbar nach. Er ging mit dem Bauern zum Grundbuchamt und ließ ihm den Acker überschreiben.

Am Abend stand wieder der geschniegelte Fremde vor der Tür und er versprach dem Bauern zum Dank für seine Übeltat die Erfüllung eines weiteren Wunsches.

„Mach mein Haus noch höher“, sagte dieser.

Am nächsten Tag rieben sich die Dorfbewohner erstaunt die Augen, als sie aus dem Fenster sahen, denn des Bauern Haus hatte über Nacht noch ein weiteres Stockwerk dazu bekommen. Es war ebenfalls wunderbar schön gestaltet, die Fassade war kunstvoll bemalt und die Fensterrahmen bestanden aus den edlen Hölzern von erlesenen Bäumen aus exotischen Ländern.

Als der Bauer durch die Innenräume ging, erblickte er an den Wänden sogar Bilder weltberühmter Maler, deren Schönheit der Bauer zwar nicht zu würdigen wusste, die er aber anerkennend betrachtete, zumal er an jedem der Gemälde ein Zettelchen vorfand, auf dem Preis des jeweiligen Kunstwerks notiert war. Die Bilder hatten einen Wert, der beim einfachsten mit ein paar hunderttausend Talern begann und bis zu 3 Millionen beim teuersten reichte.

Der Bauer verkaufte sie über eine große, vielbeachtete Auktion in der nahegelegenen Stadt, was sein Barvermögen ganz beträchtlich vermehrte. Von einem kleinen Teil des Erlöses kaufte er bei einem Tandler neue Bilder, die ihm besser gefielen, es waren Bilder von röhrenden Hirschen und schneebedeckten Bergen, auch ein paar Stillleben waren dabei. Für ein Dutzend dieser Kunstwerke bezahlte er gerade mal 100 Taler, was eigentlich alles über ihren Wert aussagt.

Am nächsten Tag kam seine Magd zu ihm und gestand, dass sie ein Kind erwarte und bereits am Ende des neunten Monats sei. Sie bat ihn um drei Tage Urlaub, in denen sie das Kindlein zu Welt bringen wollte.

„Diesen Urlaub gebe ich dir gerne, du bekommst sogar noch viel längeren Urlaub obendrauf, ich werfe dich nämlich hinaus. Was soll ich mit einer Magd anfangen, die ein Kleinkind mit sich herumschleppt?“

„Aber dann muss ich verhungern“, jammerte die Magd.

„An der Landstraße stehen ein paar Apfelbäume, ab und zu fällt ja mal ein Apfel herunter, das wird dir sicher reichen“, rief der Bauer und stieß die arme Magd zur Tür hinaus.

Diese verließ weinend das Haus, und da ihr ein gelegentlicher Apfel nicht ausreichte, um genug Milch für das Kleine zu bilden, musste sie in wenigen Wochen ihr kläglich verhungertes Kindlein begraben.

Abends stand wieder der Fremde vor der Tür. Und, wie es zu erwarten war, wünschte sich der Bauer ein noch höheres Haus. „Es soll ein richtiger Turm werden“, sagte der Bauer, „ich will, dass meine Wohnstatt das Dorf überragt und zum eindrucksvollsten Wunderbau des ganzen Tales wird“.

So ging es in dem nächsten Tagen weiter. Dem Bauer fielen immer weitere Wünsche ein, wie sein Haus noch höher und herrlicher werden konnte, und er scheute sich nicht, dafür den Menschen im Dorf die gemeinsten Dinge anzutun, um jedes mal von dem seltsamen Fremden den Wunsch nach einem weiteren Stockwerk für seinen eindrucksvollen Wohnturm erfüllt zu bekommen.

Ja, das Haus war mittlerweile zu einem allseits bewunderten Turmbau herangewachsen. Inzwischen kamen sogar Architekten und Statiker aus der fernen Stadt, und ab und zu waren sogar Bauräte und Minister aus fremden Ländern darunter, die den Turm bewunderten, da er in Höhe und Schönheit nur wenigen Bauwerken glich, die sie jemals vorher gesehen hatten. Einen italienischen Gelehrten erinnerte der Turm gar an die berühmten Geschlechtertürme in San Gimignano, mit deren Bau die Adelsgeschlechter sich einst gegenseitig übertreffen und zugleich beschämen wollten.

Der Bauer saß im obersten Stockwerk und schaute selbstzufrieden über die herrliche Landschaft. Eines Tages aber geschah es. Er konnte plötzlich nicht mehr hinunter, denn der Fremde hatte boshaft lächelnd alle Treppen fortgezaubert, als Strafe dafür, dass sich der unersättliche Bauer einmal über über einen schmiedeeisernen Geländerschmuck beschwert hatte, an dem er mit seiner Jacke hängengeblieben war.

Nun saß er im obersten Stockwerk und wusste nicht, was er tun sollte. Er rief aus dem Fenster um Hilfe, bettelte die Untenstehenden schreiend und winselnd an, ob ihm denn niemand Rettung bringen könnte. Viele, die er geschädigt hatte, waren schon aus dem Tal fortgezogen oder sogar durch die Missetaten des Bauern gestorben. So stand lediglich ein halbes Dutzend Touristen unten, um den Turm zu betrachten. Der war jetzt schon so hoch geworden, dass keiner den um Hilfe rufenden Bauern von unten hören konnte. Außerdem war das Dachgeschoss mit dem Fenster, aus dem der Bauer schrie und gestikulierte, schon von dunklen Wolken verhüllt, die ein kommendes Unwetter ankündigten.

Der verzweifelte Bauer ließ ein Seil hinunter, an dem er sich hinablassen wollte, doch das Seil war viel zu kurz, es reichte nur bis zum zehnten Stockwerk hinunter und er wäre zerschellt, wäre er vom Ende des Seils hinab auf den kostbaren harten Marmorboden gefallen, den ihm der Fremde als Gegenleistung für eine seiner letzten Bosheiten um den Prachtturm gezaubert hatte.

So musste der Bauer im obersten Stockwerk seines Hauses verhungern, was dem Teufel eine zusätzliche Seele verschaffte. Denn der Fremde war natürlich kein anderer gewesen als der Gottseibeiuns selber, der lediglich die Gestalt eines spendablen reichen Fremden angenommen hatte.

Erst Jahre später, als der Turm renoviert werden sollte und bis oben mit einem Gerüst umstellt war, fand man, als man durch ein Fenster einstieg, den Bauern mumifiziert und in sich zusammengekrümmt auf dem edlen Teppich im obersten Stockwerk seines Hauses.

Der Pfarrer aber hatte die Übeltaten des Bauern ordentlich gesammelt und in ein Büchlein niedergeschrieben und als er sie bei einer Predigt verlas, entschied die gesamte Dorfgemeinschaft, dass der Leichnam des vermaledeiten Bauern mumifiziert für immer im oberen Geschoss des Turmes liegenbleiben sollte.

Und wenn die Kinder in dem Dorf einmal allzu gierig waren oder gar eine kleine Bosheit begangen hatten, drohten ihnen die Mütter, dass sie das ja nie wieder tun sollten, sonst erginge es ihnen wie dem geheimnisvollen vertrockneten Mann im Turm.

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© Peter Heinrichs


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