Das Erinnerungsgeschenk…


Liesbeth Kunze wohnte in Schellenberg in der Brühlerstraße 114.
Liesbeth hatte die „86“ erreicht, und auf Grund ihrer Schaffenskraft
und ihres behänden Wesens konnte man annehmen, dass sie gut
und gerne die „ Hundert“ erreicht.
Liesbeth Kunze lebte allein, allerdings hatte sie noch die Katze
Minka, die ihr Gesellschaft leistete. Beide waren ein eingeschworenes
Team, und man sah sie oft gemeinsam am Küchenfenster.
Liesbeth arbeitete trotz ihres hohen Alters täglich in der städtischen
Tafel mit. Ihr machte es viel Freude, alte Leute zu beköstigen.
In der Stadt nannten alle Bürger sie „Mutter Kunze.“
Des weiterem war sie noch aktiv in der evangelischen Kirchengemeinde. Hochwürden Langrock sagte oft schalkhaft:
„Mutter Kunze ist eins meiner besten Schäfchen“. Ihr Markenzeichen
war eine blau-weiße Kittelschürze, die sie zu allen Anlässen trug.
Nun begab es sich, dass sie für einige Tage ins städtische Krankenhaus musste, denn eine starke Grippe hatte sie erreicht.
Es war ein Freitag an dem sie wieder entlassen wurde. Als sie in ihre Straße kam, hörte und sah sie, wie Arbeiter die vorhandenen Bäume fällten. Die Bäume waren Kornelkirschen, die sich im Frühjahr mit ihren duftenden Blüten zeigten. Mutter Kunze begann zu zittern, als sie sah, wie die Arbeiter ihren Lieblingsbaum fällten. Der Baum war gesund und trotzdem wurde er gefällt. Wütend und mit erhobenem Krückstock ging sie auf die Arbeiter los. „ Muttchen, aber Muttchen“ sagte der Vorarbeiter „ du wirst uns doch nichts antun?“
Sie erklärten Liesbeth, dass die Stadtverwaltung das Fällen der Bäume beschlossen hat.
Ein Arbeiter sagte zur Mutter Kunze. „ Ein Unding sei, dass auch die gesunden Bäume, wegen der neuen Pflanzung, gefällt werden müssen.“ Liesbeths Baum war ein gesunder Baum. Sie hatte ihn stets gepflegt. Im Sommer gegossen, und im Herbst das Laub von ihm entfernt.
Es ist schon sehr schlimm, wenn solche „Schreibstubenhengste“ das Sagen haben. Ein Arbeiter, der die Kettensäge führte, sagte: „Muttchen, ich werde dir eine Baumscheibe schneiden, dann hast du eine bleibende Erinnerung an deinen Baum.“ Er schnitt eine Baumscheibe heraus und übergab sie Liesbeth. Sie bedankte sich und stellte die Baumscheibe auf ihre Kommode, und zwar in eine silberne Schale.
Nun stand die Scheibe erhaben, zwischen dem ganzen Silbergeschirr.
Jeden Morgen, nach dem Aufstehen, ging sie zur Baumscheibe und redete mit ihr.

Katze Minka konnte ihr Handeln nicht verstehen.


© Jürgen


3 Lesern gefällt dieser Text.







Kommentare zu "Das Erinnerungsgeschenk..."

Re: Das Erinnerungsgeschenk...

Autor: Ikka   Datum: 08.08.2019 22:24 Uhr

Kommentar: Berührend geschriebener Text zum Nachsinnen ..., lieber Jürgen!
Abendgruß,
Ikka

Re: Das Erinnerungsgeschenk...

Autor: possum   Datum: 09.08.2019 2:57 Uhr

Kommentar: Sobald ein Baum fällt könnte ich gleich losheulen,
sehr ergreifend!

lieben Gruß!

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