Es war einmal ein kleiner Junge. Er war klein und knochig und trug einen viel zu großen, grünen Mantel und abgelaufene Stiefel. Unter der Kapuze, die ebenfalls zu groß war und über sein linkes Auge ragte, erblickte man ein verschrumpeltes, grau und eingefallen wirkendes Gesicht. Seine Nase war breit und unförmig und mit Warzen übersäht und seine Lippen dünn wie Papier.

Der Junge wohnte in einer kleinen Hütte im Wald. Er wurde als Kind von seiner Familie verstoßen, weil er mit seinem unförmigen Körper und dem düster und hässlich anzuschauenden Gesicht, eine Schande für die Familie war. Niemand sollte ihn zu Gesicht bekommen.

Zu allem Überfluss wurde er zusätzlich mit unglaublichen, doch leider sehr belastenden Talenten beschenkt. So konnte er unter anderem die Gefühle seiner Mitmenschen fühlen, sowohl die Freude über einen schönen Sommertag als auch erdrückende Traurigkeit und Kummer.
So fühlte er auch den Hass und die Abscheu, die die Menschen empfanden, wenn er durch die Straßen zog und sie ihn ansahen. Und die Angst, die klopfenden Herzen der kleinen Kinder, wenn er auch nur eines ansah.
Und so zog er sich immer mehr in seiner Hütte zurück, obwohl er sich nichts mehr in der Welt wünschte, als einen Freund. Jemanden, mit dem er reden konnte.

Viele Jahre vergingen in Einsamkeit, bis er plötzlich eine unglaubliche Angst verspürte. Eine Angst, die so stark war, dass sie den ganzen Weg vom Dorf bis in seinen Wald gefunden haben musste. Irgendjemand in diesem Dorf muss wohl um sein Leben bangen, dachte er sich. Doch als er sich auf die Angst zu konzentrieren begann, merkte er, dass die Person, die diese Angst spürte, um das Leben eines Anderen fürchtete. Jemand, der ihr sehr nahestehen musste. Er war sehr ergriffen von diesem Gefühl und so beschloss er, trotz seiner Angst vor den Menschen, diese Person zu suchen.
Er zog sofort los und kam noch am selben Abend am Dorf an, immer dem Gefühl in seiner Brust folgend, dass nun immer stärker und verzweifelter wurde. Solange, bis er an einem Turm ankam. Er spürte, dass sich die Person in diesem Turm befinden musste. Und auch wenn die Wände steil und glatt waren, tat er ein leichtes daran, einfach hochzuklettern. Denn durch das Leben in der Natur war er stark und flink geworden. Als er nun das Fenster erreichte, erblickte er ein junges Mädchen. Er spürte, wie sich ihre Angst veränderte und ihr kleines Herz schneller schlug und sah wie sie vor Schreck einen großen Satz zurück machte. Vorsichtig und langsam kletterte er dennoch in das Zimmer hinein und da standen sie erst einmal eine Weile und sahen sich an.
„Was willst du hier? Lass mich in Ruhe, bitte!“, sagte das Mädchen irgendwann mit zitternder Stimme. Doch der Junge hatte nie wirklich sprechen gelernt, da er früh von Zuhause ausgesetzt worden war und so kannte er nur wenige Wortbrocken. „Ich nicht böse, ich spüre Angst, ich helfen.“, sprach er und zeigte auf das Mädchen. Es sah verwundert drein und schien nicht zu verstehen, was er von ihr wollte.
„Wieso Angst?“, versuchte es der Junge noch einmal. Das Mädchen, dass immer noch am anderen Ende des Raumes stand, beruhigte sich langsam und der Junge bemerkte, dass ihre Angst in Gleichgültigkeit umschlug. „Im Grunde ist es doch egal, ob du mich umbringen willst oder nicht. Morgen werde ich sowieso sterben müssen.“ Der Junge sah sie verwundert an. Er hatte doch eindeutig Angst um jemand anderen gespürt.
„Schlimm“ brachte er heraus. „Ja … aber ach, eigentlich wäre das gar nicht so schlimm für mich. Hätte mein Vater doch nur all die Steuern bezahlt. Dann würde ich mit dem meinen Tod morgen nicht auch ihn zum Tode verurteilen.“ Mit diesen letzten Worten brach ihre Stimme ab und Tränen rollten über ihre Wangen. Und auch der Junge fing an zu weinen. Er musste diesem Mädchen helfen, koste es was es wolle.
Und so sammelte er all seine Kräfte, bündelte all seine Magie und verwandelte das Holz, dass in der Ecke lag und auch den Stuhl, auf dem das Mädchen saß in reinstes Silber. Das Mädchen erschrak und sah den Jungen misstrauisch an. „Für dich!“, entgegnete dieser. Da fing das Mädchen noch mehr zu weinen an. Doch dieses Mal war es vor Freude. „Ich weiß nicht, wieso du das für mich getan hast. Ich werde für immer in deiner Schuld stehen und habe doch Nichts, was ich dir geben kann.“ Der Junge kannte nur eines, dass er wollte und das war die Freundschaft dieses Mädchens und so zeigte er mit dem Finger auf sie: „Das!“ Doch das Mädchen dachte, er zeige auf ihre Goldkette, zog sie sich aus und legte sie in seine Hand. Enttäuscht nahm er sie entgegen. Doch als er die Hand gerade auszustrecken versuchte, verrutschte seine Kapuze und sein linkes Auge kam zum Vorschein. Es war klein und angeschwollen und starrte in eine andere Richtung. Das Mädchen erschrak und ekelte sich vor dieser Missbildung. Das verletzte den Jungen so sehr, dass alle Demütigungen, all der Hass und der Schmerz, den die Menschen ihm angetan hatten, plötzlich wieder da waren. Plötzlich war sein einziges Ziel, dieses Mädchen genauso zu verletzten, wie er auch selbst so oft verletzt wurde. Und so suchte er in ihren Gefühlen nach dem, dass sie am meisten liebte und kurz darauf kreischte er mit schriller Stimme: „Gib Kind mir! Gib Kind mir!“. Das Mädchen erschrak und verstand nicht, was geschehen war. Doch der Junge begann, die Angst des Mädchens zu genießen. Er fühlte sich zum ersten Mal mächtig und stark und nahm sich fest vor das einzige Kind des Mädchens für sich zu behalten. Sie sollte bezahlen, für alles, was ihm angetan wurde. Er wollte das Kind. Er wollte es großziehen und es sollte sich nicht vor ihm gruseln, er könnte ihm die gleiche Liebe schenken, wie dieses Mädchen und eines Tages würde es ihn zurück lieben.

Und so wandte er sich ab, sprang aus dem Fenster und verschwand in seinem Wald. Dort wartete er, bis das Mädchen freigelassen wurde und den Heimweg antreten wollte und er ihr folgen könnte.

Am nächsten Abend war es soweit und bald stand er vor einem kleinen Häuschen, indem warmes Licht brannte. Er sah, wie das Mädchen von ihrem Mann und ihrem Vater begrüßt und in die Arme geschlossen wurde. Und als er die Holztür aufstieß konnte er gerade noch sehen, wie das Mädchen ihr Kind im Arm hielt und fühlte noch für einen kleinen Moment fühlen, welch Liebe und welch Glück sie empfand.
Und da stand er nun, unfähig sich zu bewegen. Ein Teil von ihm wollte unbedingt dieses Kind, wollte unbedingt diese Liebe. Und ein anderer Teil war überflutet von Mitgefühl für diese jungen Eltern. Völlig unfähig irgendeine Entscheidung zu treffen, mit der er weiter hätte leben können, stand er weitere endlos erscheinenden Sekunden einfach nur da.
Und dann packte er die eine Hälfte seines Kopfes, die das Kind haben wollte mit der einen und die andere Hälfte, die niemanden verletzten wollte mit der anderen Hand, bündelte seine wenige noch übrig gebliebene Kraft und alles was er hatte und riss sich unter einem schrillen, hohen Kreischen in zwei Hälften auseinander.

Die junge Familie jedoch erzählte die Geschichte von Generation zu Generation weiter und nannte ihn nur noch „Das Rumpelstilzchen“.


© Salome


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