Und ein Junge hört auf, sich zu krümmen
Ich stehe in der großen Aula der Universität, in der ich Psychologie studiere. Am Schwarzen Brett hängt ein Flyer. Für gewöhnlich nehme ich die Flyer am Schwarzen Brett gar nicht wahr. Es gibt so viele von ihnen. Aber dieser fällt mir ins Auge. Er ist schön bunt gestaltet und erregt sofort meine Aufmerksamkeit. Ich gehe näher ran und lese
Versuchspersonen für Schlafstudie gesucht! Zeitaufwandsentschädigung: 50€.
Attraktives Angebot. Im unteren Drittel des Flyers lese ich nähere Informationen über die Studie. Und eine Handynummer. Ich rufe an.

"Glaub bloß nicht, dass du jetzt schlappmachen kannst" rufe ich der hübschen, jungen Frau entgegen, die spärlich bekleidet für mich tanzt. "Du Schlampe!" füge ich dann noch hinzu, um sie daran zu erinnern, dass ich über ihr stehe.
"Sag mir, wieso du das machst!" befehle ich ihr.
"Weil ich das Geld für meine Kinder brauche" antwortet sie und tanzt weiter. Sie bewegt sich so elegant, als hätte sie nie etwas anderes getan.
"Du willst doch nicht etwa, dass ich schlechte Laune bekomme? Brumme ich. „Du Schlampe!“ füge ich dann noch hinzu, um sie daran zu erinnern, dass ich über ihr stehe.
"Du weißt, was ich hören will. Also sag mir, wieso du das machst!"
"Weil es mir gefällt!" antwortet sie. Ihre Stimme zittert ein wenig, aber sie tanzt weiterhin so elegant, also kann ich ihr nicht böse sein.
"Da hast du verdammt noch mal recht. Du liebst es, für mich zu tanzen" sage ich zufrieden und beobachte jede ihrer Bewegungen mit dem allergrößten Vergnügen.
"Du Schlampe!" füge ich dann noch hinzu, um sie daran zu erinnern, dass ich über ihr stehe.

"Es freut uns, dass du dir die Zeit nimmst, an unserer Studie teilzunehmen" sagt eine hübsche Studentin zu mir und schüttelt meine Hand. Wenn sie meine Freundin wäre, würde ich sie auf der Stelle küssen, weil sie mir so gefällt. Aber sie ist nicht meine Freundin, also reiße ich mich zusammen und versuche diesen Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben.
Ich muss einige Aufgaben erledigen, die meine Reaktionsschnelligkeit und Geschicklichkeit messen. In den Geschicklichkeitstests schneide ich schlechter ab, als in den Reaktionstests. Aber trotzdem bin ich in beiden Bereichen durchschnittlich gut. Ich bin zufrieden mit meiner Leistung. Dass ich vor knapp einer Stunde noch die hübsche Studentin küssen wollte, habe ich inzwischen vergessen.
"Ich habe meine Versprechen gehalten!" rufe ich in die Menge. Vor mir sehe ich ein Meer aus Menschen. Männer, Frauen, Jungen, Mädchen. Jede dieser Personen ist auf ihre eigene Art einzigartig. Aber gemeinsam sind sie eine einzige Masse. Mir gefällt dieser Gedanke und ich freue mich, dass sie mir zujubeln.
"Ich habe meine Versprechen gehalten!" rufe ich noch einmal. Ich wiederhole mich gerne. Vielleicht haben es einige nicht gehört, als ich es zum ersten Mal gesagt habe. Also ist es nur vernünftig, es ein zweites Mal zu rufen.
"Ich habe euch Arbeitsplätze versprochen und stehen wir nicht unmittelbar vor der Vollbeschäftigung?" brülle ich in die Menge. "Aber hütet euch! Hütet euch vor den Juden, denn sie werden kommen und euch alles wegnehmen. Sie nehmen euch alles weg, was ich euch verschafft habe, was ihr euch unter meiner Führung erarbeitet habt. Fürchtet den Juden mehr als alles andere. Fürchtet ihn wie den Tod!" brülle ich in die Menge. Und die Menge jubelt, weil sie mir glaubt, was ich sage. Natürlich habe ich Recht. Es wäre dumm, mir nicht zu glauben.

Nach den vielen Tests, die meine Reaktionsschnelligkeit und Geschicklichkeit messen sollen, werde ich ins Bett geschickt. Ich bekomme eine Art Armbanduhr. Die hübsche Studentin erklärt mir, dass ich auf den großen gelben Knopf drücken muss, wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin. Ich frage mich, woher ich wissen soll, zu welchem Zeitpunkt ich kurz vor dem Einschlafen bin, aber im selben Moment erklärt mir die hübsche Studentin, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn ich etwas zu bald auf den gelben Knopf drücke. Sie brauchen nur einen ungefähren Richtwert.
"Alles klar" sage ich und lächle.

"Wein" rufe ich dem kleinen Jungen zu und er ist gehorsam und bringt ihn. Aber er lässt sich etwas zu viel Zeit für meinen Geschmack. Ich kann nicht zulassen, dass er mich vor meinen Gästen beschämt. Ich muss irgendetwas machen, um nicht wie ein Idiot dazustehen, der seine Angestellten nicht im Griff hat.
"Willst du etwa, dass ich dir ein paar saftige Hiebe mit meinem Gehstock verpasse?" rufe ich dem kleinen Jungen mit drohendem Beben in der Stimme zu. Ich bin sehr zufrieden, dass seine Stimme zittert und Angst sich in seinem Gesicht ausbreitet, als er "Nein, Herr" antwortet. Ich schaue nach links und rechts, um zu kontrollieren, ob alle das Zittern in seiner Stimme gehört haben. Meine Gäste sollen sehen, dass ich meine Angestellten im Griff habe. Sie lachen den Jungen aus. Ich habe also Glück gehabt, sie haben seine Angst registriert. Aber ich sollte meine Autorität unterstreichen, sollte ich. Der kleine Junge bringt den Wein. Er ist sehr gehorsam, aber das soll er auch bleiben. Deswegen versetze ich ihm einen kräftigen Schlag mit meinem Gehstock, den ich immer bei mir habe. Ich treffe ihn in der Seite. Ich freue mich, dass meine Gäste lachen und ich bin froh, dass sie sehen, dass ich meine Angestellten im Griff habe.

Ich bin inzwischen eingeschlafen und träume von einem ganzen Feld voller Karotten. Jede Karotte, die ich aus der Erde ziehe, hat ein Gesicht. Ich glaube, es ist immer das gleiche Gesicht. Die Karotte kann sogar reden und sagt Wörter, die sie selber nicht versteht. "Grenzschutz" sagt die Karotte, aber kann denn eine Karotte wissen, was das heißt?
"Muss die Verträge kündigen, muss ich" sagt die Karotte und ich frage mich, welche Art von Verträge eine Karotte wohl zu kündigen hat. Ich weiß nicht, dass ich träume und für mich ist es völlig normal, ein Feld voller sprechender Karotten vor mir zu haben. Auf einmal befinde ich mich in einem abgedunkelten Zimmer. Ich sitze auf einem Stuhl und eine Frau tanzt für mich. Ich weiß nicht, dass ich träume und für mich ist es völlig normal, abscheuliche Sachen zu ihr zu sagen. Ich höre Jubelschreie. Ist es die tanzende Frau, die mir etwas zuruft? Nein, es sind mehrere. Es sind ganz viele Menschen und ich stehe vor ihnen, an einem Redepult. Ich weiß nicht, dass ich träume. Ich glaube, das ist Realität. Das ist meine Welt. Es ist alles so, wie es gehört. Deswegen ist es ganz normal für mich, abscheuliche Sachen zu sagen. Ich höre Gelächter. Aber es ist nicht das fröhliche Gelächter eines Menschen, der gerade einen köstlichen Witz gehört hat. Es klingt so schadenfroh. Vor mir krümmt sich ein kleiner Junge und ich lasse ein weiteres Mal den Stab auf ihn herabdonnern. Ich weiß natürlich nicht, dass ich träume. Ich glaube, dass dies die Realität ist. Dies ist meine Welt. Deswegen ist es für mich ganz normal, den kleinen Jungen mit meinem Stock zu schlagen. Ich kenne es nicht anders, denn in dieser Welt verhalten sich die Dinge nun mal so.
Und dann wache ich auf.
Vor mir steht eine junge, hübsche Frau. Sie lächelt mich an und fragt mich, ob ich gut geschlafen habe. Sie gefällt mir sehr gut und ich bewundere sie im Stillen. Ich bewundere ihre Schönheit im Stillen, weil ich es nicht anders kenne. In meiner Welt nimmt man sich nicht einfach das, was man möchte. Schon gar nicht eine Frau. Und mir wird bewusst, dass es auf unserer Welt viele verschiedene Welten gibt, denn jeder Mensch wohnt in seiner eigenen und er verhält sich nach den Regeln, die in seiner Welt gelten, denn er kennt es nicht anders. Ich denke darüber nach, wie wichtig es ist, andere Menschen in meine Welt einzuladen und meine Welt auch zu ihrer Welt zu machen. Und eine Frau hört auf, zu tanzen. Und eine Menge hört auf, zu jubeln. Und einige Gäste hören auf, zu lachen.


© ParadeOfBrokenHearts


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