Jetzt sitze ich wieder hier. Ich bin allein. Der starke Regen prasselt an mein Fenster. Die Blitze, die mich im Minutentakt immer wieder zucken lassen, folgen einem lauten Donner. Genau so sieht es in diesem Moment in mir aus. Ich fühle mich leer.
Eine gefühlte Stunde sitze ich nun schon hier – regungslos. Mit dem schrillen Klingelton meines Handys werde ich zurück in die Gegenwart geholt. Es ist Elena, meine beste Freundin. Mit einer gespielten fröhlichen Stimme nehme ich ab.

- „ Hey, was gibt es neues ?“

Aber statt der gewohnten aufgedrehten, dauerglücklichen Elena höre ich nur ein jämmerliches Schluchzen. Ich lege auf. Überlege einen Moment und greife mit einer ungewöhnlichen Hektik meine Jacke und meine Tasche. Ich bin schon längst wieder in meiner eigenen Welt und merke nicht, wie der weiße Tonengel meiner Mutter herunterfällt und zerbricht.
Drei Minuten Fußweg liegen zwischen Elena und mir. Sie kommen mir in dem immer stärker werdendem Regen vor wie Stunden. Ich sehe sie vom Weiten auf der Treppe vor ihrer Haustür sitzen. Ein Bild liegt in ihrer Hand. Und meine Befürchtung bestätigt sich von Schritt zu Schritt.

Sie murmelt schluchzend vor sich hin. Einige Sätze kann ich verstehen. Ich setze mich neben sie auf die Kalte Steintreppe; lege meinen Arm um sie. Der weiße Briefumschlag, der aus Elenas Tasche ragt, ist mit Herzen und Blumen bemalt.
Es herrscht eine seltsame Stille zwischen uns. Jedoch sehe ich in ihrem Gesicht, dass wir an das Gleiche denken.
Ich zünde uns eine Zigarette an. Eine letzte. Mit zittrigen Händen halte ich sie und nehme die letzten Züge. Die Asche verweht in den Sturmböen.
Gemeinsam gehen wir die ersten Schritte in Richtung Treppe. Ich versuche die Stufen zu zählen.
Dreihundertneunzehn... Dreihundertzwanzig.. Angekommen.
Kein einziges Wort, vom ersten bis zum sechzehnten Stockwerk des heruntergekommenen Hochhauses. Der Aufgangsbalkon sieht dunkler als sonst aus. Das Geländer links in der Ecke ist abgerissen. Schon seit Jahren kommt keiner her um es zu reparieren. Zu stark ist die Angst vor den Schlägern, die hier in Marzahn wohnen.
Ich spüre Elenas Hand an meiner. Langsam gehen wir auf die Ecke zu. Ein Schritt. Und noch ein Schritt.
Und dann - der letzte Schritt.


© Jana95


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