Hermann Meier stand jeden Morgen um 8 Uhr auf. Er zog seine alte graue Hose an, seinen blauen Pullover und stöhnte jedem Morgen, wenn er sich die Strümpfe und Schuhe anzog. Mit seinen 71 Jahren war er morgens immer etwas steif. Er setzte sich an seinen kleinen wackeligen Frühstückstisch und nahm eine Scheibe von dem altbackenem Brot. Das beschmierte er mit Margarine und dann mit Erdbeermarmelade. Dazu trank er jeden Morgen eine Tasse Kaffee. Hermann Meier hatte Zeit, denn er war Rentner und er hatte keine nahen Verwandten und keinen großen Bekanntenkreis. So flossen seine Tage gleichförmig dahin. Mit seiner kleinen Rente konnte er sich nicht viel leisten. So wohnte er sehr einfach und ärmlich in der kleinen 2-Zimmer Wohnung, deren Zimmer wirklich kleine Kammern waren. In seinem Schlafzimmer standen ein Bett, ein Ofen und eine kleine, schmale Kommode. Sein Bad war nur mit Waschbecken und Toilette ausgestattet und auch sein Wohnzimmer war winzig und spärlich eingerichtet. Die Wohnung befand sich im vierten Stock, im Dachgeschoss eines alten Hauses, das mitten in der kleinen Stadt stand.

Nach dem Frühstück ging Hermann Meier regelmäßig aus dem Haus. Das war seine tägliche Beschäftigung. Er ging an den Läden vorbei und schaute sich die Auslagen an. Hinein ging er nicht oft, denn er konnte immer nur das Nötigste einkaufen.

Hermann Meier schaute aus dem Fenster und sah, dass es an diesem Tag im Oktober kalt und regnerisch war. Also nahm er seinen Mantel, seinen Hut, den Gehstock und seinen Regenschirm. Im Hausflur begegnete ihm die Nachbarin aus dem Erdgeschoss, die gerade den Hausflur reinigte. Sie beachtete ihn kaum und grüßte nur knapp. „Ja,“ dachte Hermann Meier, „jeder ist mit sich selbst und seinem eigenen Leben beschäftigt.“ Doch was hatte er für ein Leben, dachte er. Eigentlich hatte er kein Leben. In einem bescheidenen Elternhaus war er aufgewachsen und wurde Fabrikarbeiter wie sein Vater. In jungen Jahren hatte er wohl das eine oder andere Mädchen kennengelernt, doch es wurden nie feste Freundschaften daraus. Die jungen Mädchen suchten sich bessere Partien, Männer, die in Berufen arbeiteten, in denen sie mehr Geld verdienten als Hermann Meier in seiner Fabrik. Hermann Meier war nie der Aufsteiger gewesen. Unscheinbar aber zuverlässig und immer präsent fand man ihn an seinem Arbeitsplatz. Er war derjenige, der nie aufbegehrte und sich allem beugte. Daher waren auch sein Gehalt und seine Position in der Fabrik so unscheinbar wie Hermann Meier selbst. Seit einigen Jahren bekam Hermann Meier seine kleine Rente. Seitdem hatte er viel Zeit und wusste nie, wie er diese Zeit ausfüllen sollte. Also ging er bei jedem Wetter stundenlang spazieren, schaute sich die Auslagen der Läden an und hing seinen Gedanken nach. Es war 10 Uhr morgens und Hermann Meier beschloss, zum ersten Mal in seinem Leben etwas zu ändern. In seinem Portemonnaie hatte Hermann Meier noch vierzig Euro. Damit musste er noch 8 Tage auskommen. Erst dann hatte er wieder Geld auf seinem Konto. Heute war ein besonderer Tag. Hermann Meier spürte das. Er setzte sich heute in das Café, an dem er sonst immer vorbei ging und bestellte sich ein Stück Torte und ein Kännchen Kaffee. Die Bedienung war freundlich und flink. Hermann Meier verbrachte eine Stunde in dem Café, ließ sich den Kaffee und die Torte schmecken und las einige Zeitungen, die dort lagen.
Nach einer Stunde hatte Hermann Meier sich genug ausgeruht und ging einkaufen. Er kaufte sich einen neuen Schal und dazu neue Handschuhe. Dann kaufte er sich noch verschiedene Leckereien. Von seinem letzten Geld kaufte Hermann Meier sich ein Würstchen am Imbiss. Dann machte Hermann Meier sich auf den Heimweg. Daheim angekommen, legte er sich hin und wollte ein wenig ausruhen. Doch Hermann Meier schlug die Augen nie wieder auf. Er starb wie er auch gelebt hatte. Bescheiden und ohne Beachtung. Sein Leichnam wurde erst einige Wochen später entdeckt und beerdigt.


© dagmar scholz


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Hermann Meier, oder wie es ist, wenn man kein Leben hatte

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