An einem schönen Sommertag, als die Wellen der Ozeane wie seit Jahrmillionen an ihre Ufer rollten, als die Vögel sangen, die Bienen summten und die Menschen an allen Orten der Erde ihrer Arbeit oder ihrem Vergnügen nachgingen, kreuzte ein großer Planet, der plötzlich in unserem Sonnensystem auftauchte, die Bahn der Erde und verwandelte sie in Staub und Feuer. Bei dem Zusammenprall erlosch alles Leben bis hinab zur kleinsten Mikrobe, endgültig und unumkehrbar.

Am Tage danach stand einer der bei diesem Weltuntergang gestorbenen Menschen, ein weiser Mann, vor dem Thron des Allmächtigen und stellte ihm die Frage: „Gott sage, warum hast du die Erde und mit ihr alle Menschen zerstört?“

Darauf lehnte sich Gott bequem in seinem vergoldeten Sessel zurück und erwiderte: „Mein Sohn, die Antwort ist einfach, aber sie erfordert, dass ich dir die Vorgeschichte meiner Entscheidung erzähle“, und Gott begann:

„Lange vor der Zerstörung eurer Erde stand ein bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückter Mann vor meinem Thron – übrigens an der selben Stelle wie du jetzt. Er hatte Jahre vor seinem Tod einen Menschen kaltblütig ermordet und kurz darauf, unabhängig davon, einem anderen Menschen selbstlos das Leben gerettet.

Jetzt stand ich als oberster Richter vor der Frage: sollte ich ihn wegen des Mordes in die Hölle schicken oder wegen seiner heldenhaften Rettungstat ins Paradies einlassen.

Für euch Menschen wäre die Entscheidung einfach gewesen. Denn die Umstände waren derart, dass viele nur Kenntnis von dem Mord hatten, die hätten sich an meiner Stelle natürlich für die Höllenstrafe entschieden, andere wiederum wussten nur von der mutigen Lebensrettung, die hätten ihm mit Sicherheit den Aufenthalt im Paradies zugesprochen.

Mir aber, dem Allwissenden, war als einzigem sowohl sein Verbrechen als auch seine Heldentat bekannt. Lange dachte ich darüber nach, was ich tun sollte. Dann entschied ich mich dafür, diesen verirrten Planeten, den ich zufällig zur Hand hatte, auf die Erde zu schleudern und sie auf diese Weise zu vernichten“.

Da wiederholte der kluge Mann, welcher vor Gottes Thron stand und diesen Worten aufmerksam gelauscht hatte, seine ursprüngliche Frage: „Gott ich verstehe noch immer nicht, warum hast du die Erde und mit ihr alle Menschen zerstört? Deine Ausführungen konnten mir diese Frage nicht beantworten. Verzeih mir die Bemerkung, aber sie klangen in meinen Ohren sogar ein wenig zynisch“.

Gott erwiderte: „Es ist doch so einfach, mein Sohn! Meine Unfähigkeit, im Fall des Mörders und gleichzeitigen Lebensretters eine gerechte Entscheidung zu finden, hätte meine Allmacht in Frage gestellt. Die Zerstörung der eigentlich recht unwichtigen Erde jedoch nicht. Denn die Bevölkerung eines Planeten ist für mich nicht wichtiger als ein einzelnes Lebewesen. Zudem war es auf diesem Wege möglich, auch die Menschen auszuschalten, die im übrigen nicht nur mich erfunden haben sondern auch den Mythos meiner angeblich alles umfassenden Macht.

So habe ich mich zugleich vom Makel meiner Entscheidungsunfähigkeit als auch von meinen Schöpfern befreit. Das, siehst du, das ist wahre Allmacht“.

***

Eine Kleinigkeit hatte Gott in seinen Ausführungen jedoch nicht erwähnt; auf dem Planeten, mit dem er die Erde atomisiert hatte, hatten ebenfalls Geschöpfe gelebt. Diese waren aber – im Gegensatz zu den Bewohnern der Erde – liebevoll, anständig und selbstlos gewesen. Eine Bevölkerung, die endlich den Weg zu einem vollkommenen, friedfertigen Zusammenleben gefunden hatte. Und deren Tod hatte Gott eben mal als Kollateralschaden in Kauf genommen.

Aber das ist eine andere Geschichte.




© mychrissie


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