Weit im Westen, hinter der Krümmung des Atlantischen Ozeans lag eine kleine Insel. Vom Meere trennten sie Untiefen und schmale, gefährliche Meerengen, und so kam es, dass noch nie ein Schiff an ihren Gestaden vor Anker gegangen war und keines Menschen Fuß jemals den weißen Sand ihres Ufers betreten hatte.

Mitten auf der Insel leuchtete der silberne Wasserspiegel einer Lagune. Über ihre Uferböschung hingen fremdartige Lianen ins Wasser hinab, gravitätisch stolzierten die Flamingos durch den Schlamm und suchten nach kleinen Würmern und Krebsen, rote und gelbe Kolibris standen schwirrend vor den glühenden Orchideenblüten, und bunte Papageien flatterten kreischend von Ast zu Ast. Viele Geschichten hatten sich die Lianen zu erzählen, die Orchideen prahlten mit ihrer Farbenpracht, heimlich wisperten die Kolibris miteinander, und die Papageien schrieen den neuesten Klatsch durch die Baumkronen. Die Flamingos blieben von Zeit zu Zeit auf einem Bein stehen, um ihr bewundernswertes Gefühl für Balance vorzuführen, während die Riesenschildkröte Aga im Uferschlamm lag und weise lächelte.

Zwischen den Farnen und Gräsern der Lagunenböschung aber stand einsam eine Pflanze mit einer einzigen riesigen Knospe. Sie wiegte sich ganz leicht und sprach kein Wort, denn sie hütete ein großes Geheimnis.

"Warum schweigst du?" fragte Aga, die Riesenschildkröte, und ließ ihre kleinen funkelnden Augen prüfend über die stumme Pflanze gleiten.

"Ihr seid mir zu primitiv", sagte die Pflanze, "hast du schon jemals eine Königin gesehen, die sich mit dem niederen Volke gemein macht?"

"Was haben die anderen dir denn getan?" fragte Aga, "sie freuen sich, dass sie auf dieser schönen Welt weilen dürfen, deshalb lachen, schwätzen und schreien sie. Das ist alles."

Aga schloss die Augen. Sie war fünfhundert Jahre alt und wusste um die verborgenen Gesetze des Lebens.

"Ich bin die Königin der Nacht", sagte die Pflanze stolz und machte eine kleine Pause, damit ihre Worte besser zur Geltung kamen, "in meiner königlichen Knospe wächst eine wunderbare Blüte, wunderbar weiß, weißer als der Schaum auf den Brandungswellen."

"Freue dich, wenn deine Blüte schön ist, aber glaube nicht, dass du deshalb mehr wert bist als die anderen", Aga wiegte missbilligend ihr faltiges Greisenhaupt.

"Wahre Schönheit muss sich rar machen", sagte die Pflanze, als habe sie gar nicht gehört, was Aga gesprochen hatte, "wahre Schönheit ist nichts für jeden Tag. Ich werde meine Blüte nur einmal zeigen, heute, in dieser Nacht. Dann darf sie der Mond beleuchten, und wer sich mit der nötigen Andacht auf dem Hügel dort einfindet, der darf meine Herrlichkeit bewundern – fünf Stunden lang, dann ist die Vorstellung zu Ende, und ich werde meine Knospe wieder schließen. Für immer." Trotzig kehrte die Pflanze in ihr Schweigen zurück.

"Diese Närrin", murmelte Aga vor sich hin und stieg in den lauen Uferschlamm, um ihre immer kühle Haut zu wärmen.

Der heiße Nachmittag ging zu Ende, und der Sonnenball schickte sich an, feurigrot ins grüne Meer zu tauchen.

Die Königin der Nacht schwieg und konzentrierte alle Kräfte auf die eine Knospe, die sie trug, und die in dieser Nacht die ungeteilte Bewunderung der gesamten Insel erwecken sollte. Sie saugte unermüdlich die Säfte des Bodens durch ihren Stiel, und ihre schmalen Blätter zitterten vor Anstrengung.

Schon brach die kurze Dämmerung der Tropen über die Insel herein. Der seidene Mond stieg in sanft gekrümmtem Bogen am Himmel empor. "Noch eine Stunde", flüsterte die Königin der Nacht, "dann werden sie alle verstummen vor Scham und Bewunderung. Was ist schon eine Orchidee oder ein bunter Kolibri gegen die makellose, weiße Herrlichkeit meiner kostbaren Blüte?!"

Jetzt stand die Mondscheibe hoch am Himmel. Ein Beben und Zittern ging durch die Knospe der Nachtkönigin, die Kelchhüllen bogen sich auseinander, und unendlich zart streckten sich erst eines und dann immer mehr der schneeweißen Blütenblätter ins Mondlicht empor.

Da schoben sich plötzlich dicke schwarze Wolken vor den Mond. Sein Licht versiegte, und für Stunden herrschte tiefste Finsternis über der Insel. In den Zweigen träumten die Vögel vom Flug durch die Weiten des Himmels, die Orchideen hatten ihre Kelche geschlossen und die Flamingos wiegten sich sacht im tiefen Schlaf. Selbst Aga hatte sich tief in ihr bemoostes Gehäuse zurückgezogen.

Die Königin der Nacht reckte verzweifelt ihre herrliche Blüte in die Dunkelheit. Doch niemand konnte sie sehen, und sie begann lautlos zu weinen. Als der Mond wieder aus den Wolkenbergen hervortauchte, war sie schon gestorben, und ihre welken Blätter verwehte ein leichter Wind, der aufgekommen war.

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© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Die Königin der Nacht"

Hochmut kommt vor dem Fall.

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