Der Professor lächelte. „Sie wollen mit mir über Freiheit reden? Über Freiheit?“ Ich erklärte ihm, dass ich auf die Empfehlung eines Studienkollegen zu ihm gekommen sei und dass ich ihn für den Einzigen hielt, der mir für meine Abhandlung über dieses Thema brauchbares Material liefern könnte.

„Fakten zum Thema Freiheit“, die Ironie in seinen Worten war nicht zu überhören. „Ich denke nicht daran, Ihnen Fakten zu einem Thema zu liefern, über das noch niemals in der Geschichte etwas wirklich Brauchbares gesagt wurde. Das Wort Freiheit wurde immer nur dann eingesetzt, wenn Menschen ihre Mitmenschen unterdrücken wollten. Ich werde Ihnen keine Fakten nennen, sondern lieber eine Geschichte erzählen. Oder nennen Sie es ein Gleichnis. Ich habe diese Geschichte vor Jahren niedergeschrieben.

Draußen wurde es Nacht. Wir hatten uns gesetzt, durch die Fenster fiel kaum noch Licht. Der Professor entzündete eine Lampe, die aus dem dunklen Raum eine Lichtinsel herausschnitt.

„Aber erst müssen sie mir sagen, ob Sie eine Geschichte überhaupt hören wollen. Sie werden sie nicht für eine akademische Abhandlung benutzen können. Das einzige was meine Geschichte vielleicht erreichen wird, ist, Sie zum Nachdenken zu bringen. Wenn Ihnen das reicht...“

Ich gestand mir ein, dass der Abend für eine ernsthafte Arbeit an meiner Abhandlung wohl schon zu weit fortgeschritten war. Als ich dem Professor versicherte, dass alles, was mit dem Thema Freiheit zusammenhing, mich brennend interessierte, lehnte er sich in seinen alten Ledersessel zurück, so dass sein Gesicht jetzt vollständig ins Schattige zurückfiel und seine Worte aus der Dunkelheit ertönten. Nur das Manuskript, das er auf seinen Schoß gelegt hatte, lag im hellen Lichtschein. Eine getigerte Katze kam leise herbei und verschwand wieder, nachdem sie festgestellt hatte, dass ihr Platz auf seinen Knien belegt war.
Mit leiser Stimme begann er zu lesen.

***

Diese Geschichte ereignete sich vor vielen Millionen Jahren. Was sie berichtet geschah, bevor sich auf unserer Erde die ersten Hochkulturen entwickelt hatten. Auch die Große Mauer in China gab es noch nicht. Es geschah, bevor die ägyptischen Arbeiterheere im Dienste ihrer Pharaonenherren die mächtigen, steinernen Pyramiden aufschichteten. Selbst der geheimnisvolle Kontinent Atlantis war zur damaligen Zeit noch nicht entstanden, dieses Wunderreich, das am Ende von den gefräßigen Wogen des Meeres verschlungen wurden.

In dieser frühen Zeit der Menschheitsgeschichte gab es ein Staatswesen mit Namen Atrocien auf einer felsigen Insel im heutigen Pazifischen Ozean. Die Erde war noch nicht zur Ruhe gekommen in jenen Tagen. Kochende Lavaströme kämpften mit brodelnden Wassermassen, riesige Gebirgsmassive erhoben sich brüllend aus dem vulkanischen Boden und erschütterten die Insel, und immer wieder türmten tektonische Verwerfungen auf dem Grunde der See gigantischen Wasserwände auf, die ihren weiten Weg durch die Meere antraten, um dann Vernichtung über jedes Ufergebiet zu bringen, auf das sie sich warfen. So waren die geplagten Bewohner dieses vielleicht ersten Staates der Welt ständig von Tod und Verderben bedroht.

Todesangst. Das war das vorherrschende Gefühl bei den Atrociern. Unendlich klein und machtlos fühlten sie sich, verkrochen sich in die Höhlen ihrer Insel und flüsterten in dunklen Winkeln hastig und ängstlich Gebete zu den furchtbaren Göttern der Vernichtung, flehten, dass diese sie wenigstens noch für die kurze Spanne zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang verschonen sollten. Wenn ich Sonnenaufgang sage, dann bedeutet dies jedoch nicht, dass die Atrocier öfter in den Genuss eines schönen Sonnentages gekommen wären. Nein, bei Tag und bei Nacht peitschten Stürme über die Insel, schwarzviolette Unwetterwolken verdüsterten den Himmel und Gewitter von zerstörender Gewalt entluden sich krachend und ohne Unterlass.

Doch die Bedrohungen durch das Wetter und die unbelebte Natur waren nicht die einzigen Schrecknisse für die Atrocier. Blutgierige Raubtiere bevölkerten die Insel, allen voran die Große Echse, ein besonders bösartiges Untier, gegen das die späteren Raubsaurier fast harmlos erschienen. In den Nächten übertönte das Brüllen des riesigen Tieres das Donnergrollen der Gewitter und drang bis in die Tiefen der Höhlen, wo sich die Atrocier angstvoll aneinander pressten und sich die Ohren zuhielten, um den Lärm der vielfältigen Gefahren dort draußen nicht hören zu müssen.

In Atrocien gab es zwei Arten von Menschen, die einen, und von ihnen war bisher die Rede, glichen den heutigen Erdbewohnern fast vollständig, und wenn man einen von ihnen mit einem modernen Anzug bekleidet über die belebten Straßen einer Großstadt geschickt hätte, wäre er kaum jemandem aufgefallen. Die zweite Art jedoch war anders. Die, welche ihr angehörten, trugen Flügel. Große dunkle Schwingen, die nicht mit Federn bewachsen, sondern mit ledriger Haut überzogen waren. Es gehörten nicht nur starke Muskeln dazu, mit diesen Flügeln zu fliegen, sondern auch eine mächtige innere Kraft, die selbst die Flügelträger nicht immer aufbringen konnten. Fliegen erforderte die Konzentration aller Gefühle, Wünsche und Träume auf einen einzigen großen Willen, nämlich den, abzuheben und sich hinaufzustürzen in die unendlichen Weiten des bedrohlichen Himmels. Diese Geflügelten nannte man die Inselgrafen und sie waren die engsten Vertrauten des Königs.

Ja, Atrocien wurde von einem König regiert, ihm gelang das Fliegen, wann immer er sich emporheben wollte. Zudem war er stark und furchtlos, und es wurde von ihm berichtet, er habe eines der grausamen Raubmonster eigenhändig mit einem Baumstamm durchbohrt, sein Herz herausgerissen und es blutend und noch warm verschlungen. Diese und andere Heldentaten geisterten durch die Lieder, welche die Menschen mit gedämpften Stimmen an den Lagerfeuern in ihren Höhlen sangen.

Aquila – so hieß der König – und die Inselgrafen waren die einzigen, die sich auch nachts aus den Höhlen wagten und Raubtiere, Stürme und Gewitter herausforderten. Und alle flügellosen Atrocier betrachteten es als ein wahres Wunder, dass die Tollkühnen noch nicht zu Tode gekommen waren. Aquila und seine Freunde aber verachteten ihre ängstlichen Untertanen, die sich in den Höhlen verkrochen.

"Ihr feiges Pack!" herrschte der König sie an, "wie könnt ihr je begreifen, was Freiheit ist, wenn ihr nicht im brüllenden Donner auf den Klippen draußen gestanden habt, die Flügel zum Himmel erhoben? Ach, und dann der Flug über die Schlucht, aus der das blutlechzende Gebrüll der Großen Echse herauf dröhnt! Mit Stirne und Schläfen die Schwärze des Himmels spalten, das regenbeladene Haar flatternd, dass es dem Schleier einer Braut gleicht, einer wahnsinnigen Windsbraut! Aber was rede ich da?! Niemals seid ihr würdig, frei zu sein, ja nicht einmal würdig, das Wort Freiheit auszusprechen". Die Atrocier senkten die Köpfe und verkrochen sich beschämt und verängstigt in die hintersten Winkel der Höhle.

Unter den Inselgrafen gab es einen, der diese Situation nicht ertrug. Er trat vor den König hin und sprach: "Aquila, mein Herr und Gebieter, du bist frei, du hast die innere Kraft zu fliegen. Ich und eine Handvoll deiner Getreuen begleiten dich auf deinen Flügen, wenn wir die Kraft aufbringen. Dann sind auch wir frei. Aber sind wir nicht verpflichtet, den Ängstlichen in den Höhlen die Freiheit zu bringen, die wir schon besitzen?"

"Sie haben keine Flügel", antwortete der König, "es ist zwecklos." "Aber es werden ihnen Flügel wachsen", beharrte der Inselgraf, "wer sich der Freiheit aussetzt, kann ihr auch standhalten. Bedenke König, die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen. Woher nehmen wir das Recht, sie jenen vorzuenthalten?"

Lange dachte der König über diese Worte nach. Immer wenn er über Gipfel und Täler schwebte, hallte in seinen Ohren die Frage nach: Woher nehmen wir das Recht, jenen die Freiheit vorzuenthalten? Dann, an einem der wenigen freundlichen und hellen Tage, fasste er einen Entschluss. Gemeinsam mit den Inselgrafen wollte er die Höhlenbewohner zur Freiheit führen, und so würde ein geflügelter Volksstamm entstehen, stark, mutig und auserkoren, alle Menschen zu führen, die noch geboren würden.

Er betrat die Höhle, in der die Ängstlichen um die schwache Glut des niedergebrannten Herdfeuers kauerten. Und wieder erfüllte das Geschrei der Großen Echse das Tal und ließ die Wände der Höhle und die Herzen der Menschen erbeben. "Ich will, dass ihr frei seid", begann der König seine Rede, "ich will, dass ihr des höchsten Gutes teilhaftig werdet, das die Götter zu vergeben haben, teilhaftig der Freiheit".

Da flüsterte ein weißhaariger Alter, der sich viel Zeit zum Nachdenken nahm, und den sie deshalb den Höhlenweisen nannten: "Großer Aquila, woher weißt du, dass die Freiheit das erhabenste Gut ist? Vielleicht ist das höchste Gut die Sicherheit. Denn wozu haben die Götter uns die Höhlen geschenkt, wenn nicht, damit wir Sicherheit in ihnen fänden?"

"Aber Freiheit heißt, keine Fesseln zu spüren, Freiheit ist Ungebundensein!", rief der König mit leuchtenden Augen.

"Streben die Sterblichen nicht vielmehr danach, eingebunden zu sein in den Schutz und die Wärme der Gemeinschaft?", erwiderte der Alte.

"So spricht ein Unfreier", rief der König, "du redest wie ein Blinder vom Licht, wie ein Tauber von der Musik. Habe ich euch nicht viele Male erzählt, welch erhabenes Gefühl es ist, über die Welt zu fliegen? Wollt ihr euch ewig verkriechen und die Urväter sein einer feigen, unwürdigen Sklavenrasse? Ich befehle euch, mir hinaus zur Klippe zu folgen".

Er schritt aus der Höhle, hinter ihm zögernd der Zug der Atrocier. Und dann, vor ihren Augen, stürzte sich der König von der Klippe hinab, ließ sich wieder emportragen von den Aufwinden und landete schließlich in weit gespanntem Bogen wieder auf dem Felsvorsprung.

"Wenn ihr frei sein wollt, werden euch Schwingen wachsen, denn nur Schweine und Würmer kriechen durch den Kot. Zum Heil führt ein dreistufiger Weg. Auf der ersten Stufe hebt ihr die Stirnen aus dem Staub, auf der zweiten Stufe wendet ihr die Blicke zu den Gestirnen und auf der dritten und höchsten Stufe werdet ihr die Himmelsräume im Fluge erobern."

Der Inselgraf, der dem König die Idee eingegeben hatte, das Volk zu befreien, trat jetzt an seine Seite, um diese Worte zu bekräftigen. "Während des Fluges werden euch Flügel wachsen. Wenn ihr euch hinabstürzt in die Schlucht, dort wo sie am tiefsten ist, werden eure ausgebreiteten Arme eine Metamorphose durchmachen. Flughäute werden euch wachsen und euer Fall wird in ein sanftes Gleiten übergehen. Glaubt mir, ich schwöre, dass es so sein wird".

"Und wenn sie nicht wachsen?", wandte bescheiden der Höhlenweise ein. "Oder wenn sie nur einigen wachsen, vielleicht nur denen, die es wagen, wie Ihr zu sein, mutig, entschlossen und voller innerer, konzentrierter Kraft. Die zur Freiheit geboren sind und es nur nicht wissen?"

"Für die Freiheit muss man alles opfern, sogar das Leben. Aber keine Angst, die Kraft des Fahrtwindes wird eure Arme zu Schwingen formen. Wagt es, wagt es, ich beschwöre euch, wagt es!" Und so verführerisch hatten die Argumente des Königs und des Inselgrafen geklungen, dass erst vereinzelt, dann aus vielen Kehlen im Gleichklang der Schrei zu hören war: Es lebe – es lebe die Freiheit!

Der Höhlenweise schüttelte zweifelnd sein schlohweisses Haupt. Immer dann erwachte in ihm tiefes Misstrauen, wenn er viele Menschen im Gleichtakt voller Inbrunst dasselbe zur gleichen Zeit tun sah, ohne dass sie vorher – jeder für sich – darüber nachgedacht hatten. Er wusste, dass sie dann vollständig auf ihr Urteilsvermögen verzichteten und ihre persönliche Verantwortung im warmen Dunst der Menge verloren. Das meiste Unheil auf dieser Welt, so lautete eine seiner Lehren, entsteht durch diese dumpfe gemeinsame Begeisterung, selbst dann, wenn ihr die scheinbar edelsten Motive zugrunde liegen.

Schließlich, durch ihr eigenes Lärmen in immer größere Raserei geratend, warfen sich die Atrocier von den Klippen, laut schreiend, wobei man den Eindruck gewinnen konnte, dass sich in die Begeisterungsschreie hier und dort auch Angstschreie mischten. Einige zögernde Alte und kleine Kinder stießen die Inselgrafen zu guter Letzt noch eigenhändig vom Rand des Felsens, damit auch ihnen die Freiheit zuteil würde. Immer kleiner wurden die hinabstürzenden, zappelnden Körper der Atrocier und verschwanden am Ende als bloße Punkte in der undurchdringlichen, schwarzen Tiefe der Schlucht.

Der König und die Inselgrafen ließen sich im Halbkreis auf der Klippe nieder. "Bald werden sie sich wieder aufwärts schwingen und sich zu uns gesellen", rief Aquila voller Hoffnung und faltete seine schwarzen Flügel zusammen, so dass sie ihn wie ein Totengewand umhüllten, "dann werden wir ein einziges Volk von Freien sein. Ein Volk, das alle anderen Lebewesen, welche diese raue Erde bevölkern, überragt, ein Volk, das den Engeln gleichkommt und berufen ist, alle anderen zu führen. Bis in die höchsten Regionen des Himmels, ja bis zu den großen Göttern werden wir fliegen, denn die Freiheit gibt dem, der sie ergreift, die Kraft, alles zu erreichen was er will. Alles! Alles!!"

Immer lauter wurde die Stimme des Königs, bis sie sich schließlich überschlug und schrill und rau wurde. Es war leichter für ihn, an seine eigenen Worten zu glauben, wenn diese alles übertönten, was andere sprachen, ja, wenn sie sogar die Einwände übertönten, welche noch niemand geäußert hatte. Nach seiner eifernden Rede verfiel er wieder in tiefes Schweigen, und alle Inselgrafen, die sich wie ein dunkler Schwarm von Riesenvögeln um ihn geschart hatten, schwiegen mit ihm …

Tage sollen sie gewartet haben, es könnten auch Wochen gewesen sein. Dann entschlossen sie sich fortzugehen. Vielleicht hätten sie die schützenden Höhlen noch erreicht, wenn nicht die Große Echse in dieser Nacht, getrieben von bohrendem Hunger und rasender Gier nach Fleisch, bis hinauf zur Klippe gekommen wäre“.

***

Der Professor verstummte. Er legte das Manuskript zur Seite, worauf mit einem Sprung die getigerte Katze den ihr angestammten Platz auf seinem Schoß einnahm. Als ich aufstand und ihr über das Fell strich, drehte sie mir schnurrend die Halsunterseite zu. Dann schloss sie die Augen wieder und legte den Kopf auf die angewinkelte Vorderpfote.

„Selbst diese Katze ist nicht frei“, sagte der Professor und streckte mir die Hand zum Abschied entgegen, „sie sehnt sich mehr nach meinem schützenden Schoß als nach der Nacht da draußen. Wenn Sie morgen in mein Büro kommen, werde ich mir mal ansehen, was Sie bisher zu Papier gebracht haben zu diesem wahrlich erhabenen Thema“. Als ich den Raum verließ, sah ich, wie er mir nachlächelte.
Nachdenklich ging ich in die Nacht hinaus.




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Die Flügel der Freiheit"

Diese Geschichte handelt von der ewigen Frage, was der Mensch mehr anstrebt, Freiheit oder Sicherheit.

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Kommentare zu "Die Flügel der Freiheit"

Re: Die Flügel der Freiheit

Autor: Volker Harmgardt   Datum: 06.01.2018 20:51 Uhr

Kommentar: Echt wertvoller Text !!!
Daher gern gelesen und für
GUT gestempelt,
LG Volker

Re: Die Flügel der Freiheit

Autor: Sandro N   Datum: 07.01.2018 1:16 Uhr

Kommentar: Auch ich habe deinen Text sehr gern gelesen.
Tiefgründig, packend, und regt zum Nachdenken ab.
Eine schöne Geschichte, die sich auch noch gut interpretieren lässt.
Gruß, Sandro

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