In einem fernen Lande, am Ende der Welt, lebte vor langer Zeit ein Königssohn. Er war schön und klug und hätte glücklich sein können. Aber das war er nicht, denn er konnte sich selbst nicht leiden. Deshalb zweifelte er ständig daran, dass irgend jemand ihn auch nur ein wenig liebenswert finden könnte. Er betrachtete einen jeden, der mit ihm sprach, aufmerksam, doch in Wirklichkeit erfasste er keines der Worte seiner Gesprächspartner, weil ihm in einem fort nur die Frage durch den Kopf ging, ob ihm der andere ehrlich zugetan wäre oder ob er ihn verachtete. "Wenn ich doch nur sicher wüsste, was die Menschen von mir denken!" sprach er zu sich. Nur dieses eine war ihm wirklich wichtig.

Eines Nachts, als er in seinem goldenen Bett schlief, erschien ihm im Traum eine Fee, die zu ihm sagte: "Holder Königssohn, dies ist die Nacht, in der du einen Wunsch frei hast. Doch bedenke gut, was du begehrst, denn ein Wunsch ist leicht vertan!" "Aber ich habe ja nur einen einzigen Wunsch", antwortete der Prinz, "ich möchte sicher wissen, wer mich liebt und wer mich hasst." Die Fee lächelte – spöttisch, wie es schien – und verschwand, als der Prinz die Augen öffnete.

Eine Weile noch, auf der Schwelle zum Erwachen, dachte der Königssohn über den Traum nach, aber dann, nach kurzer Zeit, hatte er ihn vergessen.

Einige Zeit später, als er an einem klaren, sonnigen Tag mit seinen Gefolgsleuten auf der Hirschjagd war, entfernte er sich in einer Erfrischungspause von der Gruppe und geriet dabei tiefer und tiefer in den Wald hinein. Am Wegesrand ging er an einem jungen Mädchen vorüber, das ein in Lumpen gehülltes Kindlein hielt und demütig bettelte. "Ich komme gerade von Eurem Schloss“, sagte das Mädchen, „ein halbes Hundert reicher Männer aus Eurem Begleitross sind an mir vorübergegangen, und keiner hatte auch nur eine Kupfermünze für mich übrig. Vielleicht gebt Ihr mir eine Kleinigkeit. Bitte, denkt an Eure Christenpflicht und an eine hungrige, arme Seele, die Euch liebt!" Doch der Prinz – obgleich er sich doch so sehr danach sehnte, geliebt zu werden – sah sie nicht an, sondern ging achtlos an ihr vorüber.

Immer dunkler und undurchsichtiger wurde der Wald, und schließlich musste der Prinz sich mit Schwerthieben einen Weg durch das dichte Unterholz bahnen, um überhaupt noch weiterzukommen. Längst war das Lachen und Schwatzen seiner Gesellen verstummt, und selbst das Schmettern des fröhlichen Jagdhorns erreichte sein Ohr nicht mehr. Weiter und weiter in die Wildnis führte ihn sein Weg, bis er schließlich auf eine Lichtung trat, in deren Mitte ein Berg ganz aus Kristall emporragte. Der Berg war riesig und hatte einen Umfang von etwa tausend Fuß. Trotzdem war er so klar, dass der Prinz hindurchsehen konnte, als sei bloße Luft an seiner Stelle.

Müde setzte er sich auf den Waldboden nieder, betrachtete den glasklaren Berg und trank einen Schluck Wein aus seiner Feldflasche. Dann lehnte er sich zurück und war bald vor Erschöpfung eingeschlafen. Wieder erschien ihm die Fee, die ihm schon einmal im Traume begegnet war, und sagte: "Erinnerst du dich deines Wunsches? Du wolltest wissen, wer dich liebt und wer dich hasst. Öffne die Augen, dann siehst du die Antwort auf deine Frage. Lass den Berg abtragen und aus dem Kristall ein Schloss bauen. Dann wirst du fortan in die Herzen der Menschen blicken können. Doch bevor du dieses Schloss baust, denke gut nach, ob du es wirklich willst. Denn wer die Gefühle der anderen zu genau kennt, kann leicht unglücklich darüber werden." Die Fee verschwand wie ein leichter heller Rauch aus seinem Traum, und der Prinz erwachte. Lange lag er da und dachte benommen über den Traum nach.
Schließlich vernahm er das Lied des Jagdhorns wieder und hörte, wie seine Gefolgsleute das Unterholz durchstreiften und seinen Namen riefen. Er antwortete, und die Gesellen traten eine kurze Weile später auf die Lichtung. Sie waren bei der Suche nach ihm im Kreise gelaufen, deshalb kamen sie von der anderen Seite des Kristallberges herbei. Deutlich konnte der Prinz sie durch das klare Mineral erkennen. Aber wie staunte er, als er genau hinsah. Die Jägergesellen waren gleichsam durchsichtig geworden, und in jedem konnte er das Herz schlagen sehen. Schwarz zuckte es wie ein dunkles Tier hinter den Rippen. Und plötzlich glaubte der Prinz zu wissen, was dies zu bedeuten hatte. Sie verabscheuten ihn. Ihre Herzen waren schwarz, weil sie ihn hassten. Und er gedachte der Worte der Fee und suchte nach einem, dessen Herz nicht schwarz, sondern rot in Zuneigung glühte. Doch er fand keinen unter den Gesellen. Nicht einen einzigen. Selbst die wenigen, die er bisher für seine besten Freunde gehalten hatte, liebten ihn also nicht.

Traurig ging er mit ihnen nach Hause, ohne jedoch über das Wunder des Berges zu sprechen. Und als sie nach ihrer Rückkehr von einem riesigen Gebirge aus undurchsichtigem, schwarzem Gestein erzählten, wusste er, dass der Kristall nur für ihn durchsichtig war und nur ihm die Gefühle enthüllte, welche die anderen für ihn im Herzen trugen. Für alle anderen war der Kristall des Berges schwarz und undurchsichtig. Schon am nächsten Tage beschloss er, das Schloss errichten zu lassen, und er beauftragte damit den berühmtesten Baumeister seines Reiches. Es sollte ganz aus dem Gestein jenes Berges auf der Waldlichtung bestehen. Den ganzen Herbst und den Winter hindurch wurden Pläne gezeichnet. Und als die Frühlingssonne wiederkehrte, eilten die Steinmetzen, das Material für den Bau aus dem Berg zu brechen und in einer endlosen Kette von Karren zum Bauplatz zu transportieren.

Verständnislos vernahm der Baumeister des Prinzen Wunsch, auch Türen und Fenster aus dem schwarzen Kristall zu fertigen. "Wollt Ihr denn, dass ewige Nacht in Eurem Palast herrscht?" fragte er. "Du weißt nicht, wovon du sprichst", antwortete ihm der Prinz unbeherrscht, "in diesem Schloss wir es heller sein als jemals in einem Schloss zuvor. Denn seine Mauern werden mich erhellen!"

Kopfschüttelnd zog sich der alte, erfahrene Baumeister zurück, denn er verstand nicht ein einziges Wort von dem, was der Prinz sagte.

***

Langsam aber beständig wuchs das Bauwerk in die Höhe. Für jedermann war es schauerlich schwarz, denn durchsichtig war der Kristall ja nur für den Prinzen. Und jeder, der an der Baustelle vorbeiging und emporsah an den glatten schwarzen Mauern, den dunklen Säulen, Vorsprüngen und Giebeln, spürte tief im Inneren seiner Seele ein unerklärliches Frösteln.

Zehn lange Jahre brauchte der Bau, bis er an einem klaren, hellen Frühlingstag schließlich vollendet war. Der gesamte Hofstaat hatte sich auf Befehl des Prinzen eingefunden. Und vor dem Palastgarten drängte sich das Volk, um einen Blick auf das Schauspiel zu erhaschen. Schließlich schritt der Prinz auf das Schloss zu und betrat es durch das noch offene Tor. Kaum setzte er seinen Fuß über die Schwelle, hatte ihn auch schon die Schwärze der Mauern verschluckt.

So sahen es die Umstehenden. Doch was bot sich indessen den staunenden Augen des Prinzen dar? Die mächtigen Mauern schienen aus bloßer Luft zu bestehen und gaben den Blick auf die herrlichen Blumen und Wiesen der königlichen Gärten frei. Auch die Mitglieder des Hofstaates, die Handwerksmeister und Steinmetzen und die vielen anderen Schaulustigen aus den Reihen seiner Untertanen konnte der Prinz klar erkennen. Ja, mehr noch, er sah durch den Zauber des Kristalls tief in ihr Inneres hinein und konnte ihre Herzen schlagen sehen. Schwarz zuckten sie dort und pumpten schwarzes Blut, das dicker Tinte glich, durch das Aderwerk der Körper. "Oh Gott", dachte der Prinz, "so also sieht der Hass aus!" Keines der Herzen sah er rot schlagen, und nirgends fand er die Liebe, die er so verzweifelt suchte.

Trauer fiel wie ein schweres Gewicht auf seine Seele, und er wandte sich ab und befahl schaudernd, dass man einen Wagen mit Proviant durch die Toröffung in die Vorhalle des Schlosses schieben und dann eine dicke Türplatte in die Toröffnung einpassen sollte, die auch aus eben diesem Kristall bestehen sollte. Mancher der Handwerker hatte Tränen in den Augen, doch das sah der Prinz nicht. So machten sie sich ans Werk, und bald war das Schloss mit dem Prinzen darin fest verschlossen.
Er ließ sich auf seinem kristallenen Thronsitz nieder und blickte versonnen hinaus in den Schlossgarten, über die Felder und Wiesen, bis sein Blick an der fernen zartblauen Bergkette hängenblieb. Jetzt begann die Zeit des Beobachtens. Ja, prüfen wollte er alle, die ihm dienten! Während der Zeit, die er im Schloss weilte, wollte er genau Buch führen über den Hass und die Liebe in den Herzen seiner Untertanen, um dann, wenn er wieder hervortrat aus dem Schloss der Wahrheit, ein neues Reich zu errichten, in dem nur jene leben sollten, die ihm zugetan waren.

***

Es war wie ein rätselhaftes Schauspiel auf einer Bühne, was sich da täglich vor den Augen des Prinzen abspielte. Die Menschen kamen von fern und nah, traten auf die schwarzen Mauern des Kristallpalastes zu und ahnten dabei nicht, dass hinter ihnen aufmerksam der Prinz saß und nach Menschen Ausschau hielt, die ihn liebten. Und der immer trauriger wurde, weil keiner mit rotem Herzen unter ihnen war.

Jeden Morgen, wenn sich der Prinz aus seinen verworrenen Träumen erhob, hoffte er. Und jeden Abend sank er müde und verzweifelt auf sein Lager nieder. Wieder kein rotes Herz! Wieder ein Tag, der vergeblich verronnen war! So ging es fort, Tag um Tag, Woche um Woche und Monat um Monat. Inzwischen war der Sommer fast vorüber, und der Prinz saß schon zweimal hundert Tage auf seinem Thron und spähte mit immer matteren Augen angestrengt nach einem Menschen mit rotem Herzen. Er war bescheiden geworden. Ein einziger hätte ihm schon genügt. Den Gedanken an ein Reich derer die ihn liebten hatte er längst aufgegeben. Viele gingen vorbei, manche blieben stehen. Es waren Männer auf dem Weg zur Arbeit, Mütter mit ihren Kindern, Jäger auf stolzen Rossen, Bettler und Tagediebe, aber alle hatten schwarze Herzen in der Brust.

Der Herbst ging vorüber, und die Sonne, als hätte der Sommer sie müde gemacht, beschrieb täglich einen flacheren Bogen über dem Horizont. Dann kamen die Herbststürme, und schließlich fielen still und von weither die ersten Schneeflocken auf die entlaubten Bäume und Sträucher und dämpften die geschäftigen Geräusche der ratlosen Menschen.

Eines Morgens, an einem grauen Wintertag, sah der Prinz plötzlich zwischen all den umher hastenden Menschen eine wunderschöne Frau, die zwar ärmlich gekleidet war, aber mit stolzen Schritten auf das Schloss zuging. Der Prinz, der schon so viele Enttäuschungen erlebt hatte, wenn er Menschen ins Herz blickte, sah nur auf ihre Augen. Sie waren von hellem Blau wie die Gletscher in den Bergen. Und das Antlitz, das zu diesen Augen gehörte, war von makelloser Schönheit. Der Prinz wurde augenblicklich von tiefer, verzweifelter Liebe zu diesem herrlichen Geschöpf ergriffen. Er hatte Angst davor, dass sich das Herz dieser Frau nicht von dem der anderen unterschied, deshalb wagte er kaum, den Blick auf ihre Brust zu lenken. Doch welches freudige Erstaunen ergriff ihn, als er es schließlich doch tat! Leuchtend rot sah er ihr Herz schlagen, und wie Strahlen schoss das rote Blut durch die Adern bis in die feinsten Verästelungen an den zierlichen Händen und Füßen, um dann wieder zum roten, zuckenden Herzen zurückzufließen.

Der Prinz sprang auf und eilte zum Palasttor, um der schönen Frau seine Liebe zu gestehen. Er rüttelte an der Kristalltür, doch diese rührte sich nicht. Er rannte keuchend von Fenster zu Fenster, aber die mächtigen, massiven Kristallplatten der Fensterflügel waren fest mit den Mauern verkeilt und ließen sich nicht um Haaresbreite bewegen.

Verzweifelt sank der Prinz auf seinen Thron nieder und begann stoßweise zu schluchzen. Kälter und kälter wurde es im Kristallschloss. Eisig kroch der Frost durch den Boden in den Thron hinauf, und schließlich griff er mit klirrender Faust nach dem reglos kauernden Prinzen. Kaum spürte der noch den Tod, der über ihn kam und ihn hinbrachte an einen Ort, wo es weder kalt ist noch heiß, weder hell noch dunkel, und wo nichts beginnt und nichts endet.

***

"Wo nur unser Prinz bleibt?" fragten die Menschen, wenn sie sich auf dem Marktplatz begegneten. Und alle weinten bittere Tränen, wenn sie von ihm sprachen. "Warum ist er in dieses finstere Schloss gegangen, wo wir ihn doch alle lieben? Alles, alles hätten wir für ihn getan!"

"Den Prinzen lieben?!" ertönte plötzlich eine schrille Stimme. Als die Menschen sich umwandten, sahen sie eine wunderschöne Frau mit gletscherblauen Augen mitten auf dem Marktplatz stehen. "Ha! Einst habe ich ihn auch geliebt, aber dann fühlte ich nur noch tiefen Hass für ihn! Mein Kind musste verhungern, weil er und seinesgleichen keine Barmherzigkeit kennen. In ein Massengrab wurde es geworfen und ich weiß nicht wo es liegt und wo ich ein kleines Blumensträußchen im Angedenken an es hinlegen sollte. Dieser Prinz hat unermessliche Reichtümer in seiner Schatzkammer aufgehäuft, aber für mich armes Bettelweib hatte er noch nicht einmal die kleinste Kupfermünze übrig. Jetzt ist meine Gesundheit dahin und ich werde bald meinem Kind in den Tod folgen. Ja, liebt ihn nur, betet ihn an, ihr gutmütigen Narren! Was hat er denn jetzt davon?!" Sie wandte sich ab und spuckte verächtlich auf den Boden.

Ratlos schauten sich alle an, die Zeugen dieser Szene waren. Und ratlos gingen sie auseinander. Es wurde still auf dem menschenleeren Platz, und wer jetzt noch unterwegs war, vermied es ängstlich, den Schatten zu überqueren, den das schwarze Schloss drohend auf das graue Granitpflaster warf.

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© by Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Das kristallene Schloss"

Eine Prinz interessiert sich ausschließlich dafür, wer ihn liebt und wer nicht. Das wird ihm am Ende zum Verderben.

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