Auf seinem Throne saß der König des Morgenlandes im Schmuck seiner gold- und platindurchwirkten Gewänder, als ein Kurier hereingeführt wurde. Der abgekämpfte Mann atmete schwer, denn er hatte einen weiten Ritt hinter sich. Müde überreichte er dem König ein schweres Buch, dessen Pergamentseiten mit lateinischen Worten bedeckt waren. Der Buchdeckel des Werkes aber war mit dem rauhen Tuch eines härenen Büßergewandes bezogen.
Der König schlug das Buch auf und begann, sich in den Text zu vertiefen. Es war das Lebenswerk eines großen abendländischen Philosophen, der in seiner klösterlichen Arbeitszelle die Vorstellung entwickelt hatte, der Charakter der Sonne werde geprägt durch ihren Untergang.
„Untergang ist das Wesen des Himmelsgestirnes“, schrieb jener Philosoph, „jeder Strahl, den es aussendet, ist ein Symbol eitler Diesseitigkeit, und nach jedem Tageslauf muss es sich aufs neue dieser Verantwortung stellen. Memento mori! Bedenket ihr alle, die ihr unter dem Licht der Sonne wandelt, dass die Würmer schon auf eure Leiber warten.“
Der König des Morgenlandes fuhr auf. Seine Wangen waren gerötet, und in den Adern seiner Schläfen pochte das Blut.
„Wie kann er es wagen, solche infamen Lügen zu verbreiten?! Der Charakter der Sonne ist der des Aufgangs. Aus dem Morgen zieht sie ihre Kraft, und jedes Stäubchen, das in ihren Strahlen tanzt, verkündet ihre herrliche Diesseitigkeit, die wir Menschen teilen sollen, indem wir Lust und Freude schenken und entgegennehmen.“
Zitternd vor Zorn setzte sich der König nieder, legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes und zog Beruhigung aus der Kühle des Rubins, der diesen schmückte.
Da trat der weise Rashid vor den König hin. Rashid war ein greiser, kluger Philosoph, der im Reiche des morgenländischen Königs lebte. Er hatte die These vom Morgencharakter der Sonne entwickelt und lehrte sie seine Schüler in der Philosophenschule, der er vorstand.
„Hast du dies gelesen, weiser Rashid?“ fragte der König und schlug erregt auf das Buch.
Rashid nickte.
„Es ist eine gemeine, niederträchtige Schrift. Sie vergiftet die Gehirne der Menschen und zieht sie von der einzigen Wahrheit ab. Du hast diese Wahrheit gefunden, ich verteidige sie. Du hast mit weisen Gedanken den Grundstein gelegt zu der Idee dieses großartigen Staates, den ich regiere.“
Der König sprang auf und warf das Buch mit aller Kraft auf die emaillierten Fliesen des Palastbodens. „Dieses Buch ist Verrat, es ist das Werk eines Verbrechers!“
„Es ist eine andere Meinung“, sagte Rashid sanft.
Der König starrte ihn fassungslos an. „So unterstützt du also noch den niederträchtigen Schuft, der diese Lügen verfasst hat?“
Rashid neigte sein Haupt und sprach:
„Was uns trennt, sind die verschiedenen Lehren, die wir formulierten. Was uns jedoch verbindet, ist unendlich viel mehr, es ist nicht das Finden, sondern das Suchen. Denn beide sind wir unterwegs zu einem Ziel, das wir nie erreichen werden.“
„So kann er also ebenso recht haben wie du?“ fragte der König schneidend.
„Die Waffen meines Geistes sind so scharf wie die des seinen. Wenn es aber darum geht, zu ergründen, was die einzige Wahrheit ist, sind unsere Gedanken stumpf wie Holzschwerter, mit denen die Kinder spielen.“
Da sprang der König auf, riss sein Schwert aus der Scheide und rief: „Gut Rashid, wenn dein Geist stumpf ist, so ist es mein Schwert zum Glück nicht! Geh du in deine Schule und stottere mit zahnlosem Mund deine Lehren, wie du es immer tatest. Es ist die Muse des Staubes, mit der du deine Gedanken zeugst. Jetzt ist die Zeit der Worte vorüber und die Zeit des Eisens angebrochen. Mein Schwert soll entscheiden, wo die Wahrheit liegt. Im Abend oder im Morgen!“

***

Am selben Tage noch rief der König des Morgenlandes seine Soldaten zusammen. Er ließ Pferde satteln, Kriegsgerät und Proviant aus den Magazinen hervorholen und verladen, und zog an der Spitze eines wehrhaften Heeres gegen Westen.
Der König des Abendlandes, der eine blasse Stirn und einen traurigen Mund hatte, und in einem Schloss wohnte, dessen kühle und dämmrige Hallen wenig Freude, dafür aber umso mehr Ernst und Gottesfurcht ausstrahlten, erfuhr durch Spione und Melder, dass der König des Morgenlandes gegen ihn zu Felde zog. So befahl auch er, dass die Soldaten ihre Rüstungen und Waffen hervorholen sollten, und sandte einen Boten aus, der dem morgenländischen König den Fehdebrief überbrachte. Dann marschierte er mit seinem Heer gegen Osten.
Die Vögel des Himmels sahen die schimmernden Haufen der bewaffneten Soldaten von weitem aufeinander rücken. Schreiend spreizten sie die Flügel und ergriffen ahnungsvoll die Flucht, denn sie hassten den Waffenlärm, der ihr feines Gehör beleidigte.
Nach Tagen des Marsches, als der König des Abendlandes durch sein Fernrohr blickte, sah er am Horizont die silberne Linie des feindlichen Heeres auftauchen, und auch der morgenländische König bemerkte die Truppen, die von Westen kamen, als er durch die geschliffene Diamantlinse seines Teleskops starrte.
Man sandte Botschafter auf beiden Seiten aus, die Breite und Beschaffenheit des Schlachtfeldes wurde von den Generälen abgeschätzt, und wie aufziehende Wolken wuchsen die Soldatenhaufen aus der Weite der Ebene.
Schmaler und schmaler wurde der Streifen, der zwischen den feindlichen Heeren lag. Trompetensignale erschallten, und der Staub des ausgedörrten Bodens wirbelte unter den Hufen der ungeduldigen Pferde auf, stieg als Dunst empor und verdunkelte die Bläue des Himmels.
Um einige letzte Worte zu wechseln, ritten die beiden Könige mit abweisenden Blicken zur Mitte der Kampfstatt. Auf schwarzem, glänzendem Rappen der blasse König des Abendlandes, mit Opalen verziert das Zaumzeug, und ihm entgegen der König des Morgenlandes mit kräftigen Backenknochen, die breite Faust in die mit Platinfäden durchwirkte Mähne seines Schimmels gekrampft.
Dunkel wie Wälder säumten die feindlichen Armeen das Schlachtfeld und zackig stand die Silhouette ihrer Spieße und Hellebarden vor dem graublauen Himmel.
Als die beiden Könige nur noch zehn Schritte voneinander entfernt waren, richteten sie sich in den Sätteln auf und schlugen hoheitsvoll ihre Mäntel um sich. Dann ritten sie noch näher aufeinander zu, bis die Hälse und Nüstern der Pferde Seite an Seite lagen und zwischen den Reitern selbst nur wenige Handbreit Raum verblieben. Nun verschmolzen ihre beiden Schatten zu einem einzigen, der sich schwarz auf eine kleine, weiße Blume legte, die zufällig dort wuchs. Die Blume aber nahm die herrlichen, mächtigen Königsgestalten über sich nicht wahr, denn sie hielt ihr Köpfchen gesenkt, so bescheiden war sie geworden in der kargen Gegend und bei dem spärlichen Wasser, das ihr der geizige Boden von Zeit zu Zeit gönnte.
Die Pferde der beiden Könige tänzelten einen kleinen Schritt rückwärts, und im selben Augenblick brach ein gleißender Sonnenstrahl durch eine Lücke der Dunstglocke, die über dem Felde lag. Es war genau Mittag, und die Sonne streichelte mit ihren Strahlen zärtlich die kleine Blume. Es war kein Willkommensstreicheln und es war kein Abschiedsstreicheln, es kam nicht von Morgen und nicht von Abend, sondern direkt von oben, senkrecht aus dem Tor, das sich zwischen den Wolken aufgetan hatte.
Die beiden Könige sahen hinab, dann blickten sie sich unverwandt in die Augen und schließlich erschien auf beider Antlitz ein Lächeln, das ein wenig dem Sonnenstrahl glich, der die kleine Blume umarmte.
Ohne ein Wort zu wechseln wendeten sie die Pferde, ritten zu ihren Armeen zurück und befahlen ihren Generälen, die Heerhaufen in die Heimat zurückzuführen. Und die Schlacht fand nicht statt.

***

Als der König des Morgenlandes in seine Hauptstadt einritt, sinnend und mit abwesendem Blick, trat der weise Rashid vor ihn hin und warf sich in den Staub.
„Wer hat nun die Wahrheit über das Wesen der Sonne, großer König?“ fragte er.
„Erhebe dich, Rashid“, antwortete mit leiser Stimme der König, aus dem weiten Flug seiner Gedanken zurückkehrend, „die Sonne allein weiß, was ihre Wahrheit ist. Ich halte mich lieber an das, was mich ein Mittagssonnenstrahl gelehrt hat, der eine unscheinbare, kleine Blume liebkoste: Jedes Leben, auch das unbedeutendste, soll bestehen und nicht von den Stiefeln der Dummköpfe zertreten werden, die glauben, sie seien dazu auserwählt, die alleinige Wahrheit zu besitzen!”
Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, ritt er schweigend fort.

Die beiden Könige aber wurden hinfort in ihren Ländern als weise Bewahrer des Friedens geehrt. Die klugen, aber auch die weniger klugen Menschen bewunderten sie und wussten doch nicht, dass zwei einsichtige und friedliebende Könige nichts bedeuten für die Geschichte der Menschheit.
Weil nämlich noch tausende von kleinen und großen Herrschern kommen würden, die meinten, sie seien im Besitz der Wahrheit. Und weil die Menschen ihnen immer wieder glauben und dabei helfen würden, für diese Wahrheit alles zu zertreten, was schön und lebendig ist.


© by Peter Heinrichs


1 Lesern gefällt dieser Text.



Beschreibung des Autors zu "Das Wesen der Sonne"

Zwei verfeindete Könige werden von einer kleinen Blume zur Toleranz bekehrt.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das Wesen der Sonne"

Re: Das Wesen der Sonne

Autor: Sandro N   Datum: 29.12.2017 11:22 Uhr

Kommentar: Das ist eine sehr packende Geschichte, lieber Peter.
Und auch den tiefen Sinn, in den du sie verpackt hast, finde ich großartig.
Du bist wirklich ein sehr faszinierender Dichter und Denker, einer der wenigen, die sich auch während der Weihnachtszeit nicht vom Themenkonsens mitreißen lassen und stattdessen über tiefgründige Themen wie Ideologien oder verworfene Gefühle schreiben.
Deine Texte sind hervorragend.
Und es ist jedes Mal ein Genuss, sie zu lesen.
Danke dafür.
Gruß, Sandro

Re: Das Wesen der Sonne

Autor: mychrissie   Datum: 28.01.2018 11:43 Uhr

Kommentar: Dank lieber Sandro,

ich finde meine Texte auch nicht schlecht, habe aber Hemmungen, mich selbst zu preisen. So'n bisschen wie Bruckner, der seine Sinfonien aus falscher Bescheidenheit im Schreibtischfach versteckt hat. Wobei ich mich natürlich keinesfalls mit Bruckner vergleichen möchte.

Und außerdem – ich habe ein natürliches Misstrauen gegen Dichter, die sich als Seher sehn. :-)

Kommentar schreiben zu "Das Wesen der Sonne"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.