Im westlichen Teil des Kontinentes Asien lebte ein alter König, der hatte zwei Söhne. Der jüngere war ein kräftiger, lustiger Bursche, den jedermann liebte. Er saß in den Schenken und lud alle, auch die ärmsten, zu sich an den Tisch und trank und scherzte mit ihnen. Und überall im Lande freuten sich die Menschen, wenn sie ihn auf seinem dunkelbraunen, schnaubenden Pferd heran galoppieren sahen, das er meistens ohne Sattel ritt.
Der ältere Sohn aber war von einer übernatürlichen blassen Schönheit und lebte zurückgezogen in einem Seitenbau des Palastes. Am Tage spielte er mit Vögeln und Schmetterlingen, und nachts konnte es geschehen, dass er, während die Hofleute schliefen, im Garten stand und in den Anblick einer Rosenblüte versunken war, auf die das Mondlicht fiel. Man sah ihn oft weinen, aber er weinte nie über das Unglück anderer, sondern immer nur über die unbegreifliche Zartheit und Schwermut seines eigenen Herzens.
Eines Tages wurde der alte König auf den Tod krank, darum rief er seine Söhne zu sich und fing also an zu sprechen: "Es ist die Zeit gekommen, da ich sterben muss. Nein, nein, ihr braucht nicht den Kopf zu schütteln, um mich zu täuschen. Ich weiß sehr wohl, dass meine Stunden gezählt sind. Nach dem unumstößlichen Gesetz der Thronfolge in unserem Reich übergebe ich das Szepter und die Krone dir, meinem Erstgeborenen." Er wandte sich zum älteren Sohne zu. Der stand schweigend und betrachtete sinnend den großen, violetten Amethysten, der den Ring an seinem Finger schmückte.
"Doch du höre", fuhr der sterbende König fort, indem er sich an den jüngeren Sohn wandte, "ich befehle, dass du deinem älteren Bruder selbstlos mit Rat und Tat zur Seite stehst, denn er ist die Blüte, du aber bist die Erde, auf der die Blüte gedeiht. Dieser letzte Wille ist ein Befehl und ich will, dass meine beiden Söhne ihn respektieren und ihr Leben lang befolgen."
Mit diesen Worten sank des Königs Haupt in die Kissen zurück, und er tat seinen letzten Atemzug.

***

Die beiden Brüder wollten den Sinn der letzten Worte ihres Vaters besser verstehen und ließen einen Weisen kommen, der sie ihnen deuten sollte.
"Die Blume wird längst verwelkt sein, wenn die Erde, aus der sie wuchs, noch fruchtbar ist, Schöner König", sagte der Weise.
"Willst du damit sagen, dass mein Bruder mich an Wert übertrifft?" fragte der Schöne König mit verhaltenem Zorn.
Der Weise antwortete nicht und sprach weiter: "Die großen Bildhauer des alten Griechenland schlugen herrliche Standbilder aus dem weißen Marmor ihrer Steinbrüche. Blaue Schatten werfend stehen die vollendeten weißen Figuren bis heute im hellen südlichen Licht. In früheren Zeiten aber waren die Statuen nicht weiß, die griechischen Künstler bemalten sie, um ihnen den letzten Grad an Vollkommenheit zu verleihen. Vielleicht hatten sie blaue Augen, vielleicht waren ihre Locken braun, wir wissen es nicht, denn die Farben hat ihnen der Wind von der marmornen Haut gerissen. Du bist die Farbe, Schöner König, die letzte Vollendung, die der Künstler gab, du aber …", und er verneigte sich tief vor dem jüngeren Bruder des Schönen Königs, "du bist der Stoff, der die Zeiten überdauert."
Bei diesen Worten übermannte die kalte Wut den Schönen König, und er befahl, dass man den Weisen hinausbringen und töten sollte. Und während der Scharfrichter dem klugen alten Mann das Haupt abschlug, senkte der Schöne König seine Augen auf eine weiße Fliederdolde nieder, denn er konnte hässliche Dinge nicht mit ansehen.
Am selben Tag ließ der Schöne König seinen Bruder ergreifen und auf einem kleinen Boot ins stürmische Meer hinausstoßen. Und er befahl seinen Soldaten, ihn sofort zu töten, sollte er jemals wieder die Grenzen des Landes überschreiten.
Die Soldaten aber liebten den Bruder des Königs und gaben ihm heimlich Proviant mit auf die Fahrt, und als das Boot am Horizont verschwunden war, weinten die harten Männer und falteten die rauhen Hände, um für den Verstoßenen zu beten.

***

In dieser Nacht floh der Schlaf den Schönen König; und er ließ sich seine Edelsteinsammlung bringen, um Ablenkung zu finden.
Seine Augen schwammen in Tränen, und mit müden Händen streichelte er die kühlen, funkelnden Steine, die ihm gleichwohl keine Freude brachten.
Als der Schlaf dennoch nicht kommen wollte, ging er zu einem großen Glaskäfig mit den wunderschönsten Schmetterlingen. Helle Ampeln beleuchteten den Käfig, in dem die künstlichen, von kleinen Maschinen bewegten Tiere durcheinander flatterten und die vollendet gefertigten Kunstblumen sich im Hauch eines künstlich erzeugten Luftzuges wiegten.
Schon dämmerte der Morgen, und noch immer fand der Schöne König keinen Schlaf. Da ging er hinaus in den Garten und schritt gedankenverloren durch die Rosensträucher, die in säuberlichen Reihen aufgestellt waren. Dann legte er sich in ein Mohnfeld, doch aus dem kurzen und unruhigen Schlaf zwischen den brennendroten Blüten erwachte er so müde wie zuvor.
Er fror, obwohl die Sonne schon im Zenith stand. Er ging zum Palast, und als er ans Tor kam, gewahrte er zwischen den Wachsoldaten einen greisen Fremdling mit schlohweißem Haar. Der hochgewachsene Greis hob den Arm, als der König vor ihm stand, und sprach:
"Schöner König, ich bin von weither gekommen, um dir zu dienen, denn du liebst das einzige, das wert ist, geliebt zu werden – das Schöne."
Der König befahl dem Fremden, ihm in seine Gemächer zu folgen. Als sie allein waren, fragte er ihn, woher er komme und was sein Begehr sei.
"Ich komme von Westen her", sagte der Fremde, "meine Heimat ist eine Insel im großen fernen Ozean, in dem jeden Abend die Sonne versinkt. Ich bin ein Prophet und Zauberer, aber in meiner Heimat wollte keiner auf meinen Rat hören. So bin ich fortgegangen, bis ich in dein herrliches Reich kam, Schöner König. Nirgends sah ich so herrliche Vögel und so leuchtende Schmetterlinge wie hier, nirgends wunderbarere Blumen als in diesem Land. Hier möchte ich bleiben, bis ich einmal sterbe."
"Viele möchten hier leben", antwortete der Schöne König, "für alle, die den Wunsch haben, in meinem Reich zu wohnen, ist kein Raum."
"Ich will meine Zauberkünste in deinen Dienst stellen, Schöner König", sagte der weißhaarige Fremde, "ich werde auf deinen Wunsch alle Dinge, die deine Augen beleidigen, verwandeln, damit sie schön sind und du sie mit Freude betrachten kannst."
Das gefiel dem König. Er ließ dem Fremden einen Raum im Palast anweisen und ernannte ihn zum Minister.

***

Als der Schöne König am nächsten Morgen erwachte, verspürte er kräftigen Hunger, und seine Traurigkeit war verschwunden. Er ließ sich das Frühstück bringen und wollte gerade beginnen zu essen, als sein Blick auf das duftende, frischgebackene Brot fiel. Er schlug an einen silbernen Gong und befahl, den Fremden zu holen.
"Siehst du diesen garstigen, braunen, aufgeplatzten Brotlaib?" sprach er zu ihm, "er ist hässlich, er ist abstoßend, verwandle ihn in etwas, das schön ist, Fremdling!"
Der Fremde sah den Schönen König lange forschend an, dann beugte er sich über den Brotlaib und murmelte leise ein magisches Wort. In diesem Moment verwandelte sich der Brotlaib in eine Roggenähre. Kunstvoll war sie aus Achat gefertigt, die Roggenkörner waren Diamanten, und die feinen Grannenhaare zitterten trotz der Härte des edlen Gesteins, aus dem sie geschliffen waren. Schmal schloss sich der Halm an die Ähre, und die weißen Streifen des bräunlichen Achatgesteins unterstrichen aufs vollendetste die zarte Linie des Roggenhalmes.
Vor Vergnügen an dem herrlichen Kunstwerk vergaß der König seinen Hunger. Er klatschte in die Hände und lachte. Dem Fremden verlieh er einen Orden und machte ihn zu seinem persönlichen Berater.
Dann ließ der Schöne König seine Kutsche kommen und befahl dem Fremden, sich an seine Seite zu setzen.
"Wir werden durch mein Reich fahren", sagte der Schöne König, "und du wirst alles verwandeln, was meinen Augen missfällt."
Der Kutscher gab den Pferden die Peitsche, und die Karosse flog über die sauberen Straßen des Königreiches. Plötzlich wies der König auf ein weites Feld, das mit niedrigen grünen Stauden bewachsen war. "Was sind das für seltsame Pflanzen, so ganz ohne Blüten?" fragte er den Fremden.
"Schöner König, das sind Kartoffelpflanzen", antwortete dieser.
Der schöne König befahl anzuhalten und stieg aus der Kutsche. Er ging einige Schritte querfeldein und zog dann eine Kartoffelstaude aus der braunen, fruchtbaren Erde. Entsetzt warf er sie von sich.
"Was sind das für hässliche Knollen?" fragte er den Fremden.
"Schöner König, das sind die Früchte dieser Staude. Der Wohlstand der Bauern ist auf diese Knollen gegründet, denn jeder in deinem Reich braucht sie zu seiner Ernährung."
"Der Wohlstand der Bauern ist mir gleichgültig. Ihr Drang, sich mit Fressen und Saufen zu beschäftigen anstatt mit schönen Dingen, macht mich krank", sagte der Schöne König, "ich will, dass du diese grässlichen Pflanzen in Blumen verwandelst."
"Befiehl das nicht, Schöner König", bat der Fremde mit angsterfülltem Blick.
Doch der Schöne König rief: "Was nützt mir deine Zauberkunst, wenn du sie schon am Beginn unserer Reise nicht anwenden willst!" Und er gebot ihm zu tun, was er befohlen hatte. Da ging der Fremde mit traurigen Schritten in das Kartoffelfeld und sprach leise ein magisches Wort.
In diesem Augenblick wurden die Kartoffeln und dazu alle anderen Ackerfrüchte des Landes zu herrlichen Blumen. Narzissen, Krokusse und Hyazinthen schossen aus dem Boden, Schwertlilien und Glockenblumen wiegten sich über der schwarzen, fruchtbaren Erde.
Da hob ein Jammern an unter den Bauern, denn eine Hungersnot brach über das Land herein. Sie packten ihr Hab und Gut, verließen ihre Hütten und zogen in großen Scharen mit ihren Familien an die Küsten, um sich dort von den Fischen des Meeres zu ernähren.

***

Ein Jahr später befahl der Schöne König wieder, die Kutsche anzuspannen, und den Fremden bestimmte er wiederum zu seinem Begleiter.
Hinunter zum Meer ging die Fahrt, und als sie die Küste erreicht hatten, stieg der Schöne König aus, schlug seinen Samtmantel um sich und ging hinunter zum flachen Uferwasser.
Plötzlich wies er nach unten. "Was für ein ekelhaftes Tier ist das?" fragte er mit von Ekel verzerrtem Mund.
"Das ist ein Hering, Schöner König", erwiderte der Fremde, "er ist das Nahrungsmittel, das den Bauern geblieben ist, seit sie vom Hunger von ihren Feldern vertrieben wurden."
"Diese primitiven Menschen widern mich an", sagte der Schöne König verächtlich, "wie kann überhaupt jemand so ein abstoßendes Tier mit vorgestülpten Lippen und Glotzaugen essen wollen! Verwandle diesen Hering und alles andere Seegetier in Schmetterlinge!"
Der Fremde sank vor dem König in die Knie und bat ihn, diesen Befehl zu widerrufen.
Doch der Schöne König hob drohend die Faust und rief: "Wozu habe ich dir erlaubt, an meinem Hof zu bleiben?! Wozu habe ich dir den Aufenthalt in diesem herrlichen Lande gestattet?! Tu was ich dir sage!"
Der Fremde neigte sich seufzend über den Meeresspiegel und sprach leise ein magisches Wort. Da flogen die Tiere des Meeres als Schmetterlinge in die Luft. Bunte Wolken aus schwirrenden Faltern erhoben sich zum Himmel und glichen dabei leuchtenden, aus dem Meere aufsteigenden Rauchsäulen.
Da kam noch größerer Hunger über die Bauern, die Fischer geworden waren. Still stand das klare Wasser und tot. Alles Leben war aus dem Ozean gewichen, und selbst die Pflanzen des Meeres lagen gestorben zwischen den Steinen des Grundes.
Die Bauern irrten durch die Wälder und machten Jagd auf die umher huschenden Kröten und Blindschleichen, um ihren Hunger notdürftig zu stillen. Die Jagd auf größeres Wildbret war ihnen nämlich bei Todesstrafe verboten. Viele von ihnen starben Hungers, denn die Jagd auf die kleinen flinken Tiere erforderte viel Geschick.

***

Ein Jahr später fuhr der König wieder hinaus mit dem Fremden. Die Kutsche rollte an wogenden Blumenfeldern vorüber, und in der Ferne leuchtete unbewegt das Meer wie ein silberner Spiegel.
"Sieh, wie herrlich mein Land ist, Fremder!" rief der Schöne König, "lass uns heute in die Wälder fahren. Wo die Quellen im Moos murmeln und die herrlichen Bäumen aufragen, dort kann unsere Augen nichts beleidigen, was hässlich ist."
Weiter flog die Kutsche über die Straße, und bald sah man am Horizont die dunkelgrüne Linie des Waldes. Die Stämme der hohen Eichen und Buchen zeichneten sich immer deutlicher ab. Schließlich machte die Kutsche halt, und der König stieg mit dem Fremden auf den weichen Moosboden hinunter. Als sie durch den stillen Wald schritten, ruhten die Blicke des Königs wohlgefällig auf dem zitternden Farnkraut und den schlanken Stämmchen der jungen Birken, die sich hier und dort wiegten.
Da kam aus einem niedrigen Busch eine kleine Kröte hervorgekrochen, die durch das Leuchten der herrlichen Königskrone angelockt worden war.
Der Schöne König stieß einen Schrei aus und zeigte mit von Ekel verzerrtem Gesicht auf das kleine Tierchen, das unschuldig am Wegesrand saß und mit runden, blanken Augen zu dem strahlenden Rubin in der Krone des Königs aufblickte.
"Was ist das für ein grauenhaftes Monstrum, Fremder?" fragte der Schöne König seinen Begleiter und schloss die Augen, um die kleine Kröte nicht ansehen zu müssen.
"Das ist eine Kröte, Schöner König", antwortete der Fremde, "diese Tiere des Waldes, Kröten und Schnecken, Blindschleichen und Ratten, sind die einzige Nahrung, die deinem Volk noch geblieben ist, seit die Früchte der Felder durch deinen Befehl zu Blumen wurden und die Tiere des Meeres zu Schmetterlingen."
Der König hielt sich die Ohren zu, als er den Fremden von Ratten, Schnecken und Blindschleichen sprechen hörte. "Mein Gott!" rief er, "ich kann es nicht dulden, dass es in meinem Reich so widerwärtiges Getier gibt! Verwandle dieses Ungeziefer in bunte Singvögel!"
Da warf sich der Fremde vor dem Schönen König auf das Moos nieder und flehte ihn an, dies nicht zu befehlen.
"Deine Untertanen werden verhungern", sagte er weinend, "es wird ein großes Sterben über dein Volk kommen."
"Du sprichst immer vom Volk", sagte der Schöne König unwillig, "was versteht schon das Volk vom Wesen des Schönen?! Das Volk will immer nur Dinge, die nützlich sind. Wer aber nur den Nutzen der Dinge sieht und nicht darauf besteht, dass sie schön sind, hat kein Recht, in meinem Reich zu leben. Ich befehle dir zum letzten Mal, verwandle dieses scheußliche Waldgetier in bunte Singvögel!"
Der Fremde ging verzweifelt in den Schatten einer dichtbelaubten Eiche und sprach leise ein magisches Wort.
Da wurden die Kröten und Schnecken, die Blindschleichen und Ratten des Waldes zu herrlichen Vögeln, die sich flatternd in die dichten Baumwipfel emporschwangen. Aber vergeblich wartete der schöne König auf ihren Gesang. Schweigend und mit eiligen Flügelschlägen verließen sie das Land, in dem der Schöne König regierte. Ihnen nach folgten mit millionenfachem Schwirren die Schmetterlinge. Der Himmel war dunkel von den Scharen des fliegenden Getiers, und drei Wochen lang konnten die Strahlen der verdunkelten Sonne nicht zur Erde dringen.
Als die Schwärme das Land verlassen hatten und die Sonne wieder vom Himmel schien, waren die Blumen auf den Feldern verwelkt, und ihre toten, trockenen Blätter zerstreute der kalte Wind mit gleichgültiger Hand.
In den Wäldern rissen die hungernden Menschen die Rinde von den Stämmen, um sich ihre leeren Mägen zu füllen. Die meisten starben bei den Wurzeln der Bäume unter verzweifelten Schmerzen.
Der Fremde aber war verschwunden, und die Boten, die ausgesandt wurden, ihn zu suchen, kehrten unverrichteter Dinge zurück. Der Schöne König schloss sich in seinen Palast ein und widmete seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Edelsteinen seiner Sammlung und den aufgespießten Schmetterlingen, die er auf großen Ebenholztafeln in goldenen Schreinen aufbewahrte. Oder er beobachtete die mechanischen Vögel, die er von den begabtesten Goldschmieden des Reiches so kunstreich herstellen ließ, dass man sie von richtigen kaum unterscheiden konnte, es sei denn, man berührte sie und spürte erschreckt die leblose Kälte ihrer Körper

***

Doch dem Schönen König blieb wenig Zeit, sich an diesen Dingen zu ergötzen.
Sein Bruder kehrte aus der Verbannung zurück, und die Soldaten des Königs scharten sich um ihn. Sie zertrümmerten das Tor des Palastes, rafften die tausend Herrlichkeiten zusammen, die der Schöne König aufgehäuft hatte, luden sie in eine Kutsche und trieben ihn mitsamt seinen Schätzen aus dem Land.
"Ich versprach unserem Vater, dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen", rief ihm der jüngere Bruder nach. "Nun vernimm meinen Rat. Mach dich davon und kehre niemals zurück. Denn dein Verlangen nach Schönheit kann nur bezahlt werden mit dem Leben unschuldiger Menschen. Und das werde ich nicht dulden!"
Das Volk hob den jüngeren Bruder des Königs auf den Thron und brachte ihm die herrlichen Gewänder, die Krone mit dem blutroten Rubin und das Szepter zum Zeichen seiner Herrschaft. Der König jedoch ergriff das Szepter und schleuderte es auf den marmornen Palastboden, dass es in tausend Stücke zerschellte. Die Krone zertrat er wütend, bis die edlen Steine, mit denen sie besetzt war, durch den Saal rollten. Den roten Samtmantel mit dem prächtigen Hermelinbesatz zerriss er mit einer einzigen Bewegung seiner starken Arme.
Dann kleidete er sich in das Lederwams, das er auch in der Verbannung getragen hatte, und ging mit den Bauern hinaus auf die Felder und pflügte und sähte mit ihnen.
Die Sonne ließ die Saat in der Erde reifen, aus fremden Gewässern kamen Fische und Krebse zu den wieder fruchtbaren Küsten des Landes. Die Schmetterlinge kehrten zurück und befruchteten emsig die Pflanzen auf Äckern und Feldern. Auch die Tiere des Waldes vermehrten sich wieder und bevölkerten bald tausendfach Farnkraut und Buschwerk.
Zuletzt kamen die Vögel und sangen so laut und jubelnd, dass der ganze Himmel voll war von Tönen.
Seinen neuen Herrscher aber nannte das Volk den Guten König, und mit diesem Namen ging er in die Chroniken des Landes ein.


© by Peter Heinrichs


0 Lesern gefällt dieser Text.


Beschreibung des Autors zu "Der Schöne König"

Ein König, der das Schöne über das Nützliche stellt, richtet damit sein eigenes Land zugrunde.

Übrigens, als ich es vor 55 Jahren in meiner Studentenzeit geschrieben habe, war vom Insektensterben und vom dadurch verursachten Vogelsterben noch keine Rede.

Da wurde man morgens noch vom vielstimmigen Gesang der Vögel geweckt.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Schöne König"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der Schöne König"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.