Die Notaufnahme in der Uniklinik.
Bin ich das etwa, die dort eiligst über den Flur gerollt wird? Ärzte, Pfleger um mich herum, die sich mit kurzen, schnellen Worten Zahlen und Werte zurufen. Meine Zahlen und Werte...
Verwundert betrachte ich diese hektische Szene. Ich sehe so blass aus. Die Lippen sind so blau, die Augenlider auch.
Neue Worte hallen im Flur: Nulllinie. Defibrillator.

Was soll das alles?
Eben saß ich doch noch in meinem Büro, den Telefonhörer in der Hand, mit den Kunden und der Sekretärin gleichzeitig sprechend. Was mache ich hier? Ich habe doch noch soo viel Arbeit, wieso bin ich nicht im Büro? Ich habe keine Zeit für solche Spielchen!

"Das Büro war vorhin, jetzt bist du hier" sagt eine ruhige Stimme. Ich drehe mich um zu der Gestalt neben mir.
Hätte ich selbst noch eine andere Gestalt, als die auf der Trage, hätte sie jetzt 3 Fragezeichen im Gesicht. Eine freundlich dreinschauende Person steht neben mir. Äh....schwebt neben mir. Hell, vielleicht weiß, durchscheinend und irgendwie konturenlos ist sie. "Wer bist du denn?" wollte ich wissen.
"Du kannst mich "Zeit" nennen", antwortet die Gestalt.
Das ist ja absurd! Fast muss ich lachen. Es erinnert mich an die Reiter der Apokalypse. "Sollte nicht TOD eher hier sein?", frage ich fast fröhlich.
"Vielleicht kommt er noch", antwortet Zeit ernst. "Er braucht mich nicht für seine Arbeit".
"Nein", spicht eine andere Stimme. "Ich glaube, Tod wird hier noch nicht gebraucht". Eine weitere Gestalt, rot leuchtend ist plötzlich neben mir.
"Ich bin "Schicksal"", stellt sie sich vor. Nun wird mir doch mulmig. Immerhin würde Tod nicht kommen. Das ist ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht geht die Sache da unten doch noch gut aus...
"Ich muss gleich wieder gehen", sagt Zeit. "Ich wirke am besten durch Abwesenheit, aber ich kann dir ein wenig von mir hierlassen." "Und ich bin hier," fällt Schicksal ein, "damit du dir überlegst, was du damit wirklich anfangen willst. Ich wirke am Besten mit meiner Anwesenheit".
Ich ahne ja bereits, was beide von mir wollen.
"Noch hast du etwas Zeit", sagt Zeit, "aber wenn du mehr von dir gibst, verbrauchst du den Rest schneller". Ich starre Zeit mit großen Augen an.
"Du bist ein Mensch. Wenn du mehr sein willst, begegnest du mir" sagt Schicksal. "Du kannst nur geben, was du hast, und du kannst nur sein, was du bist."
"Ja, aber, wenn ich doch alles schaffen will..." beginne ich.
"Sei, was du bist und gib, was du kannst" wiederholt Schicksal.
Zeit verblasst derweil ein wenig.
"Aber dann werde ich nicht fertig!" rufe ich verzweifelt. "Ich möchte doch befördert werden, ich MUSS so viel tun!"
Kaum habe ich das ausgerufen, nähert sich eine weitere Gestalt.
"Hallo Tod", begrüsst Schicksal ihn freundlich. "Ich habe hier einen Kandidaten für dich".
Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt möglich ist, aber irgendwie sieht Tod mich mitleidig an.
"Ihr zwei solltet erst mal eure Arbeit machen, bevor ihr mich ruft", tadelt er Zeit und Schicksal sanft.
"Haben wir versucht, aber sie will uns nicht" antwortet Zeit trotzig.
"Doch! Doch!" rief ich entsetzt. "Ich glaube, ich habe es verstanden. Wirklich, Tod, du kannst wieder gehen!" "Tod?"
Er ist gar nicht mehr da. Von Zeit und Schicksal bleibt nur ein Hauch von Nichts in der Luft zurück, bevor auch das verschwindet.
Die Geräte piepen.
"Ich habe wieder eine Kurve!" ruft einer der Ärzte. "Sie ist wieder da! Das war verdammt knapp".
Ob er wusste, wie recht er hatte?

Die Geister, die ich (nicht) rief


© Verdichter


11 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher


Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher

Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Die Geister, die ich (nicht) rief"

Wir verlangen zu viel von uns selbst.
Eine Blume gibt, was sie hat und das ist ihr Lebenswerk. Sie bemüht sich nicht um Dinge, die einer Blume nicht zustehen, versucht nicht, Äpfel oder Bananen zu erzeugen. Sie lebt als Blume mit voller Kraft, lässt an ihrem Reichtum teilhaben und vergeht in dem Bewusstsein, ihr Leben gelebt zu haben.
Der Mensch will soviel. Aber hat er am Ende sein Leben auch gelebt?

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die Geister, die ich (nicht) rief"

Re: Die Geister, die ich (nicht) rief

Autor: Ikka   Datum: 01.10.2017 20:34 Uhr

Kommentar: Liebe Verdichter, welch' ein Werk zum Nachdenken, geradezu zu philosophischen Gedanken über "Lebenszeit" herausfordert!
Danke für deinen wertvollen Impuls.
Mit lieben Abendgrüßen,
Ikka

Kommentar schreiben zu "Die Geister, die ich (nicht) rief"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.