Die raschelnden Blätter unter ihren nackten Füßen nahm sie kaum wahr. Der Schrei der Krähen, mitten im Oktober, verlief an ihrem Ohr vorbei. Mit ihren bloßen Händen Grub sie in der feuchten Erde herum, sie zitterte, bebte fast, man sah jeden einzelnen Knochen aus der mageren Gestalt im lumpigen Sonntagskleid herausragen.
Sie blickte einen Moment nach oben, die kalte Nachmittagssonne, der große rote Feuerball, stach ihr ins Auge. Sie konnte sich nur zu gut an den Sonntag erinnern, der ihre Familie verschluckte und sie selbst an diesem Ort wieder ausspuckte. Zu fünft saßen sie zu dieser Zeit am Mittagstisch, es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Alles stand auf dem Tisch, der kleine Truthahn, die wenigen Kartoffeln, das bisschen gekochte Gemüse in ihrer alten Sonntagsschale. Mutter, Vater, und die drei Kinder, allesamt in ihre feinen Kleider gehüllt, zum sonntäglichen Mittagessen bereit. Mutter schnitt den Truthahn an, genau dann, als die Kirchturmuhr 12 Uhr schlug, daran erinnerte sie sich, Vater legte jedem eine kleine Kartoffel auf den Teller und ein paar Stückchen von dem Gemüse, das zu dieser Zeit in manchen Gebieten schon mit Gold aufgewogen wurde. Gemeinsam aßen sie, sie unterhielten sich naiv und laut, um die Schüsse und die rollenden Panzer auf der Straße zu überspielen, um die Schreie der Menschen auf der Straße mit ihren eigenen zu übertönen.
Als dann plötzlich die Tür aufgestoßen wurde, schein keiner überrascht. Als die Soldaten, auf fremden Sprachen lachend und siegessicher, ihrem Vater in den Kopf schossen, sodass er im samtbezogenen Stuhl langsam zusammensackte, schrie die Mutter, nahm sie alle bei der Hand, und lief auf die Straße, während die fremden Männer sich an ihrem Sonntagsgeflügel erfreuten. Ihr kleiner Bruder weinte, ihre große Schwester schrie, sie selbst hielt sich die Ohren und Augen zu, rannte ihrer Mutter hinterher, immer weiter und weiter, Gasse für Gasse, Soldaten ausweichend, bis sie ihre Mutter verlor, bis sie ihre Schwester nicht mehr sah, bis sie ihren Bruder nichtmehr weinen hörte.
Und schließlich saß sie da, ihr Sonntagskleid durchnässt, die Lippen blau, sie grub mit ihren nackten Fingern nach Kartoffeln, nach Essen, nach etwas, dass sie greifen konnte und das ihr keiner wegnimmt. Ob sie wohl Angst hatte? Nein, denn sie trug ja noch ihr Kleid, das Symbol für den Sonntag, für den einzigen Tag der Woche, an dem die Arbeit ruhen darf. An diesem Tag war der liebe Gott da, versicherte sie sich, als ihr langsam die Augen zufielen, als sie mit ihrer Kraft einfach am Ende war. Der liebe Gott brachte sie in eine bessere Welt.


© Penelopé


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