Die Dame in der Straßenbahn
So flüchtig unsere Begegnung auch blieb, so erinnere ich mich jener Person deshalb bis zum heutigen Tag, weil sie meiner späteren Frau zu gleichen schien. Immer fühle ich mich dabei zurückgeworfen auf die dunkelste Zeit unseres Landes, sobald ihr blasses Gesicht wieder in meinen Träumen auftaucht.
Elisa, meine Frau, war sanft und stark. Sie ist bereits seit fünf Jahren tot und starb nach einem kurzen, schweren Leiden leise und schnell. Doch ich schweife ab.
Es war ein heißer Sommertag 1944 in Berlin. Wir vom Jungvolk hatten Altmetall, Flaschen und Altpapier gesammelt für unsere tapferen Soldaten an der Front. Jetzt saß ich müde und hungrig in der Straßenbahn nach Steglitz. Ich fand noch einen Sitzplatz im letzten Waggon. Die Fahrgäste, Männer mit Krücken oder Verbänden an Kopf oder Armen, neben einigen Frauen mit schweren Taschen, blieben blicklos. Auf dem Perron drängten sich mehrere graue Personen. Ich versuchte ihre Gesichter mit den Augen einzufangen, was mir nicht gelang bis auf eine etwas bessergekleidete jüngere Dame, die sich schwer an einer der Halteschlaufen über ihrem Kopf festhielt. Ich suchte ihre Aufmerksamkeit durch Gesten zu gewinnen. Schließlich war ich wohlerzogen genug um aufzustehen, wenn Ältere sich setzen wollten. Manchmal glaubte ich, ihren Blick auf mir zu spüren, doch sobald ich mich ihr zuwandte, drehte sie den Kopf schnell zur Seite. Meine Geste wurde deutlicher, sie möge doch meinen Platz einnehmen, den ich für sie räumen würde.
Als sie meinem Blick einmal nicht mehr ausweichen konnte, lag für einen Wimpernschlag ein ernstes Lächeln auf ihren Zügen, wie ein Windhauch über junges Korn streift. Verschämt, wie absichtslos, wandte sie mir die Schulter mit dem gelben Stern zu. Daraufhin bahnte sie sich schnell einen Weg in das hintere Ende des Perrons. Kurz danach stieg sie aus. Mit eingezogenen Schultern, ein Bein leicht nachziehend, verschwand sie zwischen den anderen Passanten.
Mein Sitznachbar, ein bärtiger Mann, strich mir leicht über den Kopf, bevor auch er ausstieg. Mutter seufzte, als ich ihr von meiner flüchtigen Bekanntschaft mit der Sternträgerin erzählte. Sie nahm mich in die Arme, ihr Herz schlug ungewöhnlich laut.
„Was ist das denn mit dem Stern, den manche da haben?“ fragte ich. „Das sind Juden, die dürfen sich nicht hinsetzen“, antwortete meine Mutter.
„Warum denn nicht?" „Das kann ich dir jetzt nicht erklären, später…“ Sie strich mir über den Kopf. „Später erfährst du alles.“ An diesem Sommerabend war ich um einiges älter geworden.
(aufgeschrieben nach den Erinnerungen eines Freundes)
HF12/11
Das Leben isst einen dunklen Alptraum und
verdaut ihn zu einer romantischen Insel,
die man angeblich verschieden interpretieren
kann, darf, soll, nein, unbedingt muss!
Denn ungestüm [ ... ]
Wenn Macht regiert durch Angst und Schrecken,
Blutspuren manch Bürgersteig bedecken.
Mord und Totschlag den Tag „versüßen“,
Menschen mit ihrem Leben büßen.
Licht malt helle Leuchtspurbahnen
in den Alterungsprozess,
Dinge, die von weither kamen,
setzen sich in Träumen fest,
die dir längst Vergangenes bringen
und dein Hiersein noch [ ... ]
Du findest die Hose! Aber die
Strümpfe sind weg. Du suchst die
Strümpfe. Und findest das Hemd.
Und findest die Schuhe. Und den
Schal. Nur nicht die Strümpfe.
Dann setzt Du die Brille auf. [ ... ]