Sie werden zum Feind. Ein Feind dem du nicht entkommen kannst, der dich immer wieder einholt, vor allem Nachts. Dann, wenn alle Anderen schlafen. Die Menschen, die dich sonst immer wieder ablenken und beschäftigen, friedlich träumen. Dann kommt der Feind langsam auf dich zugekrochen, umzingelt dich, überwältigt dich. Es sind deine eigenen Gedanken.
Du willst sie nicht mehr hören, presst die Hände auf die Ohren, wälzt dich herum und murmelst flehend vor dich hin: "Lalala, ich höre euch nicht! Ihr seid gar nicht da! Es gibt euch nicht! Lalala."
Doch du hörst sie. Sie sind tief in dir drin. Jeden Augenblick, jeden Moment. Du lebst nicht mehr um Spaß zu haben, du lebst um dich taub zu stellen für die eigenen Gedanken. Um sie einmal nicht hören zu müssen. Bis zur nächsten kurzen Pause in die sie hineinsickern. Bis zur nächsten Assoziation die sie in dein Bewusstsein zurückschmeißen.

Es hört nicht auf. Inzwischen sickert Blut aus deinen Ohren, jedes mal wenn du diesen Gedanken nachhängst. Sie pressen den Lebenssaft aus dir hinaus um mehr Platz für sich selbst zu haben, raus aus dem zermarterten Hirn, raus aus dem Körper. Nun hälst du die Ohren zu damit das Blut drinnen bleibt und nicht mehr um die Gedanken auszusperren.
Sie sind eh längst da.

56 Stunden und 31 Minuten bist du nun am Stück wach. Schlafen klappt einfach nicht mehr. Der Körper fühlt sich kaputt an, aber der Kopf lässt dir keine Ruhe. Keine Verschnaufpause mehr für dich. Du hast Angst dich ins Bett zu legen. Dort kommen die Gedanken nur noch einfacher hervor. So rennst du nervös in der Wohnung auf und ab. Guckst nochmal in den Kühlschrank, einfach um irgendwas zu tun. Nur nicht denken.
Irgendwann wirst du bestimmt einfach zusammensacken, umkippen und friedlich schlafen. So wie die Anderen jede Nacht. Bestimmt ist es bald soweit. Solange wirst du die Gedanken noch aufhalten, sie niederringen und ihnen entkommen. Du musst es nicht mehr lange aushalten. Bestimmt schläfst du gleich ein, mit einem Lächeln auf dem Gesicht während du glücklich und gedankenlos träumst. Bestimmt...

Du wachst wieder auf. In einer Lache aus kaltem Schweiß liegst du auf dem Boden im Schlafzimmer. Die Gedanken haben dich im Traum verfolgt.
Es ist kalt. Du torkelst benommen bis zur Heizung. Sie ist brüllend heiß.
In dir ist es kalt. Kalte Gedanken. Sie brüllen dich an.
Gequält verzeihst du dein Gesicht. Presst die Hände erst an die Schläfen, dann wieder auf die Ohren. Nun kommt das Blut auch aus der Nase. Es sucht sich seinen Weg. Das Blut findet seine Bahnen. Du kannst es nicht stoppen.
Die Gedanken jagen durch deinen Kopf, von einer Ecke in die Nächste. Am liebsten würdest du sie packen und rausziehen. Aber sie sind viel zu flüchtig und doch in jeder Einzelheit vorhanden.
Erstmal frühstücken.

Das Brot ist zäh. Das Beißen strengt dich zu sehr an. Nach der Hälfte gibst du auf.
Aufgeben. Wenn es doch so einfach wäre. Sich den Gedanken ergeben, sich ihnen hingeben.
Sie haben dich eh längst eingenommen, dich unterworfen.
"WAAAAHHHH!!!" Es macht dich verrückt. Zum Haareraufen. Vielleicht kleben die Gedanken an deinen Haaren und du kannst sie so loswerden.
Ganze Büschel, die Kopfhaut manchmal noch mit dran, werden von deinem Kopf gezerrt.
Die schönen Haare.
Die ganzen tollen Haare.
Du fällst auf die Knie und weinst. Starrst durch die Tränen die blutigen Haarknäule in deinen Händen an. Da wo du sie rausgerissen hast dringt nun auch Blut hervor, rinnt über dein Gesicht. Vielleicht wirst du ja verbluten? Dann ist es vorbei mit den Gedanken. Dann musst du sie nicht mehr hören.

Die Messer sehen so verlockend aus. Vor allem das große Brotmesser. Großes Messer gegen große Probleme. Logisch, oder?
Du wiegst es langsam in den rot klebrigen Händen hin und her. Hälst es dir an die Handgelenke, dann an den Hals. Ein leichtes Zittern durchfährt dich. Ein wohliger Schauer der Erleichterung. Gänsehaut. Dir ist noch immer kalt.

Es ging nicht. Du liegst heulend auf dem Boden, das Messer ein paar Meter neben dir. Keinen Mumm in den Knochen. Kein Selbstbewusstsein um dazu zu stehen und es einfach durchzuziehen. Fuck off! Warum können die Gedanken nicht einfach verschwinden?

Ein neuer Tag. Wieder durchgemacht. Durchgedacht. Durchgedreht.
Wieder etwas Ablenkung. Die Gedanken toben in ihrem Käfig. Du lässt sie toben. Aber sie greifen immer wieder durch die Gitterstäbe, ziehen an deinen Gesichtszügen, lassen sie nach unten sacken. Entgleisen. Millisekundenlang.
Ablenkung. Schnell, liebe Ablenkung!
Doch sie ist auch schnell wieder vorbei. Die Anderen gehen wieder. Die guten Stunden sind vergangen. Das Biest öffnet den Käfig und kommt langsam heraus. Lacht dich leise aus. Es wusste, dass es gewinnen würde.

Es gewinnt immer.


© Lorenz H. P.


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Kommentare zu "Gedanken"

Re: Gedanken

Autor: Rebecca   Datum: 27.03.2013 19:04 Uhr

Kommentar: Du schreibst wirklich gut. Ich kann verstehen wovon du schreibst und finde es toll wie du es schaffst diese Gedanken so gut in Worte zu packen.

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