Der Igel, der ein Adler sein wollte

Alle Schüler der Klasse freuten sich, weil endlich ein neues Fach auf dem Lehrplan stand, nämlich „Englisch“.

Die Lehrerin war eine nette, etwas pummelige Frau, die perfekt Englisch sprechen konnte. Eines Tages meldete sich einer der Schüler und sagte, er habe neulich in einem Werbespot für eine Fluglinie den Satz „Fly like an eagle“ gehört.

Das heißt „Flieg wie ein Adler“, sagte die Lehrerin. Was sie aber nicht bemerkt hatte, war ein kleiner Igel, der auf dem Fensterbrett gesessen hatte. Der hatte nur den Satz „Fly like an eagle“ gehört und dann noch etwas vom Fliegen.

Der kleine Igel konnte kein Englisch, es war ein durch und durch deutscher Igel, und er dachte, dass der Satz „Fly like an eagle“ im Deutschen „Flieg wie ein Igel“ bedeutete.

Er rannte durch den Garten und erzählte allen, den Vögeln, der Katze, den Regenwürmern, einfach allen, dass er fliegen könne. „Der spinnt“ miaute die Katze. „Der hat einen Vogel“, piepten die Vögel. Nur die Regelwürmer sagten gar nichts, sondern kringelten sich nur vor Lachen zu einem Knoten.

„Denen werd ich’s zeigen“, dachte sich der Igel. Er krabbelte mit einiger Mühe auf den riesigen Kastanienbaum, der im Garten stand, pflückte zwei Blätter von einem Ast und heftete sie sich rechts und links an seine Stacheln.

Er rief mit lauter Stimme: „Ich kann fliegen. Jetzt beweise ich es Euch!“. Dann sprang er mit einem Satz von dem Baum hinunter. Und siehe da, was keiner glauben wollte, geschah. Er schwebte in großem Bogen vom Baum hinunter und landete sanft auf dem Rasen.

„Wow“, sagte die Katze, was aus ihrem Mund ein wenig seltsam klang, denn es glich dem Bellen eines Hundes. Und die Vögel meinten: „Zugegeben, er kann fliegen. Wir haben uns geirrt, obwohl wir eigentlich eine Menge vom Fliegen verstehen“. Die Regenwürmer sagten wieder nichts, denn sie waren damit beschäftigt, sich zu entknoten.

Leider tat der kleine Igel etwas, was viele Lebewesen tun. Er gab sich mit seinem Gleitflug nicht zufrieden, sondern setzte wie man so sagt, noch einen drauf. Als die Katze, die eine weitgereiste Siamkatze war und deshalb auch ziemlich gut Englisch sprach, ihm erklärte, dass „eagle“ auf Englisch „Adler“ heißt, rannte er mit geschwellter Brust durch den Garten und rief: „Ich bin ein Adler! Ich bin ein Adler!“

„Jetzt ist er völlig übergeschnappt“, sagten die Vögel. „Völlig, aber sowas von – miau!“, bestätigte die Katze. Die inzwischen entknoteten Regenwürmer machten einen Kopfstand, was bei Regenwürmern bedeutet, dass sie sich in allerhöchstem Maße wundern.

An diesem Nachmittag weilte auch der Professor, dem der Garten gehörte, im Freien und diskutierte auf der Terrasse mit einem Politiker.

Der meinte: „Es ist doch absurd, da gibt es welche, die meinen, wenn man eine Diktatur einfach eine „lupenreine Demokratie“ nennt, dann ist sie das auch. Der Professor nickte zustimmend.

Der kleine Igel aber hatte wieder einmal nicht richtig zugehört. Er meinte nur, verstanden zu haben, das etwas genau das ist, als was man es bezeichnet.

„Wenn das so ist“ , meinte er, „dann bin ich ein Adler, wenn man mich Adler nennt“.

Aber niemand im Garten erklärte sich bereit, ihn Adler zu nennen. Also nannte er sich selber so, und lebte von da ab stolz mit dem Gefühl sehr, sehr viel bedeutender zu sein als nur ein Igel, womit er natürlich unrecht hatte, denn ein Igel ist kein bisschen weniger wert als ein Adler.

Beide sind – wie ja auch alle Menschen – genau gleich viel wert.

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© mychrissie

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