Es war einmal ein Mann, der sehr viel Unglück im Leben erfahren hatte. Seine Frau war bei der Geburt ihres Kindes gestorben und dieses Kind, eine Tochter, konnte er kaum sehen, denn sie hatte in die Fremde geheiratet und war mit ihrem Ehemann ans andere Ende der Welt gezogen. Auch das Haus des Mannes war eines Nachts abgebrannt und mit ihm alles Ersparte. Nun war er bitter arm, lebte in einer selbstgezimmerten Holzhütte und litt jeden Tag Hunger. Deshalb wünschte sich der Mann nichts mehr als nur ein bisschen Glück im Leben.

Eines Tages, als er im Wald spazieren ging und sich durch die Stille zwischen den hohen Stämmen trösten ließ, sprang plötzlich ein kleines Männchen vor ihm auf den Weg und fragte: „Warum gehst Du mit einem so traurigen Gesicht durch die Welt?“

„Ich habe einfach kein Glück im Leben, außerdem bin ich von Armut geschlagen“ antwortete der Mann.

„Da kann ich dir helfen, denn ich habe heute meinen großzügigen Tag“, meinte das Männchen grinsend, „steige einfach auf den Apfelbaum, der neben deiner Holzhütte wächst, da wirst du das Glück finden. Hoffentlich weißt du dann damit umzugehen“.

Der Mann bedanke sich, obwohl er dem Männchen nicht unbedingt glaubte. Doch eines Tages entschloss er sich dann doch, es zumindest einmal zu versuchen. Es konnte ja nicht schaden, und wenn er sein Glück nicht finden würde, so hätte er doch zumindest ein paar Äpfel, mit denen er sich erfrischen könnte.

Also lehnte er eine Leiter an den Baum und begann hinaufzusteigen.

Als erstes pflückte er sich einen Apfel und biss kräftig hinein. In diesem Moment hörte er um sich her ein Gewirr von Stimmen, grunzenden, wispernden, näselnden, und ganz schrillen. Der Apfel hatte nämlich Zauberkraft und verlieh ihm die Fähigkeit, Tierstimmen zu verstehen. Und der Apfelbaum wimmelte nur so vor verschiedenen Tieren.

Da kletterte vor ihm ein Eichhörnchen am Stamm empor. Es schaute den Mann mit großen Augen an und fragte: „Was machst du denn hier in meinem Baum? Kletterst du hier aus Vergnügen herum?“

„Nein“, sagte der Mann, „ich suche das Glück“.

„Das Glück? Ist das was zu essen? Wenn das so ist, dann ist ein Nusskern das Glück“

Der Mann lachte. „Kleines Eichhörnchen, ein Nusskern ist vielleicht für dich das Glück, ein Mensch braucht schon ein bisschen mehr als eine Nuss, um glücklich zu werden“.

„Wenn du dein Glück nicht in einer Nussschale finden kannst, dann musst du wohl weiter hinaufsteigen“.

Der Mann kletterte auf die nächste Sprosse der Leiter und dann noch eine weiter. Da sah er vor sich den prächtigsten Apfel, den er je gesehen hatte. Er streckte die Hand aus, um ihn zu pflücken, da streckte plötzlich ein Würmchen den Kopf aus einem Loch im Apfel.

„Hände weg!“, rief es mit hoher Fistelstimme, „lässt du diesen Apfel gefälligst hängen! Er ist nämlich mein Zuhause“.

„Natürlich“ sagte der Mann lachend und ließ das Heim des Würmchens gehorsam an seinem Platz.

„Was suchst Du eigentlich hier in meinem Baum?“

„Ich suche das Glück“ sagte der Mann.

„Nie davon gehört“, das Würmchen krümmte sich, als ob es lachen wollte, „vielleicht weiter oben, steig mal ruhig weiter hinauf. Es macht mich nämlich nervös, wenn sich dauernd jemand vor meiner Haustüre herumtreibt“.

Der Mann stieg auf der Leiter weiter nach oben. Da hörte er ein Pochen. Es war ein Specht, der heftig auf den Stamm einhämmerte, um eins der Insekten zu erwischen, die sich unter der Baumrinde ihre Gänge bohrten.

„Guten Tock – Tack, ich meinte guten Tag!“ sagte der Specht, „wohin des Weges?“

„Ich suche das Glück“ sagte der Mann.

„Mein Glück liegt unter der Rinde“, meinte der Specht, „ willst du ein Käferchen von mir abhaben“.

„Das ist lieb von dir, kleiner Specht, aber vielleicht das nächste Mal“.

„Ich vermute, dass dein persönliches Glück weiter oben liegen muss, hier unten habe ich es zumindest noch nicht gesehen“.

Da stieg der Mann weiter hinauf und war jetzt auf der obersten Sprosse der Leiter angelangt. Ganz oben in der Baumkrone sah er ein Vogelnest, mit drei kleinen Vogelkindern darin.

Sie zwitscherten sofort los, als sie den Mann sahen. „Hallo, bist Du der Mann vom Wurmlieferservice?“ fragte das Vogelkind, das sich von den dreien am gewähltesten ausdrücken konnte.

„Nein“, sagte der Mann, „ich suche mein Glück“.

„Dann bist du uninteressant für uns. Wir kriegen eigentlich immer nur was, und geben tun wir erstmal gar nichts. Wir brauchen viel zu viel Kraft, um zu wachsen“.

Der Mann lachte. „Ich will von euch nur eine kleine Auskunft. Wo finde ich das Glück?“

„Vielleicht im Himmel“ zwitscherten die Vögelchen, „unsere Mutter sagt immer, dass es das größte Glück ist, durch den Himmel zu fliegen“.

Der Mann winkte den Vögelchen zu und stieg weiter. Dabei merkte er, dass er immer weiter steigen konnte, obwohl er die oberste Sprosse längst hinter sich gelassen hatte. Doch da ihm heute schon so vieles begegnet war, das er eigentlich nicht gar nicht so recht verstand, stieg er immer weiter hinauf, bis sich plötzlich eine Schwalbe auf seine Schulter setzte.

„Toll, ein mobiler Landeplatz!“, rief sie.

„Ich bin eigentlich kein Landeplatz, sondern nur ein unglücklicher Mensch, der das Glück sucht“, sagte der Mann.

„So wie der Pilot, der neulich hier vorbeigeflogen ist und dabei „Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ gesungen hat. Ich glaube, ihr Menschen betrachtet die Freiheit ja als das größte Glück. Für uns ist sie sozusagen eine tägliche Selbstverständlichkeit. Ich an deiner Stelle würde weiter oben suchen“.

Der Mann stieg weiter, bis er auf einen Schlag in dichten Nebel gehüllt war und nichts mehr sehen konnte. Er hatte das Gefühl in Schlagsahne eingetaucht zu sein, die aber weder aus Sahne bestand, noch nach Sahne schmeckte. Er war nämlich in eine dicke Wolke geraten.

„Was willst du hier in meiner Wolke?“ ertönte es dumpf von allen Seiten.

„Ich suche das Glück“, sagte der Mann.

„Wenn du von unten kommst und dort das Glück nicht gefunden hast, dann muss es wohl über mir liegen. Ich persönlich bin da noch nie hingekommen, denn dann müsste ich ja sozusagen über mich selbst hinauswachsen“.

„Dann muss ich vermutlich weiter“, murmelte der Mann, bedankte sich nach allen Seiten, denn wo die Wolke ihre Ohren hatte, konnte er nicht sehen.

Er stieg weiter seine unsichtbare Leiter hinauf. Plötzlich wurde es wieder hell, denn er hatte das Dunstrevier der Wolke verlassen, und über ihm schien die Sonne, obwohl es wohl geregnet haben musste, denn die Luft war feucht und frisch.

Da verwandelte sich das Licht um ihn her plötzlich in eine Flut von Farben, die ihn überspannten und in allen Abtönungen leuchteten. Vom zartesten Hellrosa bis zum dunklen Violett. Er war überwältigt, doch dann dachte er an sein eigentliches Ziel und stieg weiter.

Da hörte er plötzlich eine Stimme, die sagte: „Wer krabbelt da in meinen Regenbogenfarben herum? Und dein rotes Hemd passt farblich noch nicht einmal zu deinen orangefarbenen Hosen, das tut einem ja in den Augen weh“. Der Regenbogen, in den er geraten war, war nämlich ein ausgewiesener Fachmann, wenn es um Farbzusammenstellungen ging.

„Entschuldige, lieber Regenbogen, ich suche das Glück“, sagte der Mann.

„Dann musst du dich auf mich setzen und bis unten runterrutschen, ganz unten an meinem Fuß ist ein Topf mit Goldstücken vergraben. Vielleicht bringen die dir Glück“.

„Danke lieber Regenbogen“, sagte der Mann lachend, setzte sich auf den gebogenen Rücken des farbigen Bogens und rutschte mit einem Huiii auf ihm hinunter, bis es Plumps machte und er auf dem Boden lag.

Er richtete sich auf und stellte fest, dass er in seinem eigenen Garten saß, direkt neben dem Apfelbaum. Seine Leiter lehnte noch am Baum und ein Stück weiter eine Schaufel, die er gewöhnlich dort abstellte.

Er begann zu graben, und ein paar Augenblicke später stieß die Schaufel klirrend auf etwas Hartes. Es war ein großer Topf, bis zum Rand gefüllt mit Goldmünzen. Es musste ein Vermögen sein.

„Jetzt bin ich glücklich“, rief der Mann. Er lebte in Saus und Braus, aß nur noch das Feinste vom Feinen, ließ in seinem Garten eine Prachtvilla errichten und kaufte sich die teuersten Möbel und Kleider. Dann beschloss er, noch einen Wintergarten an seine Villa anzubauen. Leider stand der Apfelbaum im Wege, so dass er ihn abhacken ließ.

Als der Baum ächzend zu Boden fiel, gab es einen lauten Knall, wie wenn eine Kanone abgefeuert worden wäre, und es verschwand augenblicklich der ganze Reichtum, die Villa mit all den wertvollen Dingen, die er darin aufgehäuft hatte und auch das Gold. Das einzige was ihm blieb, war die Leiter, als er wie aus einem tiefen Schlaf erwachte.

Vom Apfelbaum bliebt nur ein Baumstumpf, aus dessen wunder Oberfläche der Saft herausrann, als wären es Tränen, die der Baum vergoss.


© Peter Heinrichs


5 Lesern gefällt dieser Text.




Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Apfelbaum"

Re: Der Apfelbaum

Autor: possum   Datum: 28.05.2019 2:07 Uhr

Kommentar: Gerne hier verweilt, lieben Gruß!

Kommentar schreiben zu "Der Apfelbaum"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.