Leo war ein kleiner Junge. Als ich ihn das erste Mal sah, war er vier Jahre alt. An jedem Wochenende kam er, um seine Großeltern zu besuchen. Die wohnten im Haus nebenan und hatten einen großen Garten. Dort spielte Leo den ganzen Tag mit den Hunden und den Kaninchen und mit dem großen weiß-braunen Meerschweinchen, das Zwackel hieß. Leos Eltern wohnten in der Innenstadt und mussten arbeiten. Und so waren sie froh, dass Leo am Wochenende und auch in den Ferien zu seinen Großeltern konnte.

Wie viele andere Jungen fing Leo im Garten am liebsten Käfer, Spinnen, Schnecken und Heuschrecken. Stundenlang konnte er sich damit beschäftigen, jeden Stein umzudrehen und jeden Quadratzentimeter Wiese abzusuchen, um die kleinen Tierchen zu finden. Hatte er welche gefunden, so setzte er sie in sein Lupenglas. Das war ein kleinen Plastikglas mit Deckel und Luftlöchern. In dem Deckel war eine kleine Lupe, so dass man das kleine Insekt etwas größer sah und ganz genau bestaunen konnte …
Leos Großeltern hatten aber auch einen großen Gemüsegarten. Der war ihr ganzer Stolz. Dort wuchsen Salatköpfe, Karotten, Erbsen, Zucchini, Blumenkohl, Tomaten und Gurken. Aber auch viele Obstbäume und Beerensträucher standen dort. Auf den Wiesen dazwischen wuchsen viele Wildkräuter. Und so musste man sich dort vor den Bienen und Hummeln in Acht nehmen. Aber das lernte Leo schnell.

„Eine Hummel will dir nicht wehtun, Leo“, hatte sein Großvater ihm früh erklärt. „Die sitzt nur in den Blüten und sammelt Nektar. Das ist das Einzige was sie interessiert. Also sei vorsichtig, wenn du dich in der Natur bewegst, und verschrecke die Tiere nicht. Sie sind deine Freunde.“

Und so machte es sich Leo zur Angewohnheit, sich am späten Nachmittag irgendwo im Garten ein Plätzchen zu suchen, mit Gebäck und einer Tasse Tee, um die Gartentiere zu beobachten. Am liebsten saß er ganz still neben der Hecke im Gemüsegarten. Schon bald kamen die Vögel ganz nah heran. Sie suchten sich dort ihr Abendbrot. Sie zogen Regenwürmer aus der Erde oder fanden Asseln und Spinnen, Käfer und Schnecken. Und manchmal pickten sie auch ein wenig am Salat oder am Gemüse. Doch am schlimmsten waren die Spatzen. In ganzen Horden von dreißig, vierzig Vögeln flogen sie oft von Garten zu Garten, schwärmten in die Gemüsebeete und richteten manchmal einen richtig großen Schaden an. Leo sprang dann aus seinem Schatten heraus und scheuchte sie weg. Das war ein großer Spaß!

An einem späten Nachmittag blieb ihm jedoch fast das Herz stehen. Er hatte wieder sein stilles Plätzchen bezogen und gerade wieder in einen der leckeren Kekse gebissen, die ihm seine Großmutter immer gab, als vor ihm ein kleines Mäuschen saß. Es sah ganz wohlgenährt und gesund aus. Ja, es war fast schon kugelrund, hatte kluge schwarze Augen und betrachtete ihn sehr neugierig. Leo traute sich nicht, auch nur zu atmen. Das Mäuschen blieb eine ganze Weile vor ihm sitzen und schnupperte vorsichtig die Luft ein. Dann drehte es sich um und war verschwunden.

Am nächsten Nachmittag setzte sich Leo wieder dort hin und tatsächlich – es dauerte keine zehn Minuten, als das Mäuschen kam. Als hätte es auf ihn gewartet. Es war ein hübsches Mäuschen mit einem glänzenden braunen Fell. Auf dem Rücken hatte es einen schwarzen Streifen.

Schnell rannte Leo wenig später ins Haus. „Oma, Opa ich habe eine Maus gesehen. Die ist ganz zahm. Und einen schwarzen Strich auf dem Rücken hat sie auch. Kann ich die behalten?“

„Mäuse haben mir gerade noch gefehlt“, brummte da der Großvater ärgerlich. „Die nagen mir das ganze Gemüse an.“
„Was erzählst du da, Otto?“, mischte sich nun die Großmutter ein. „Die Mäuschen nagen gern an Hölzern und holen sich die Sämereien aus den Pflanzen, aber sie fressen gern Schnecken und auch viele Insekten. Am liebsten fressen sie Getreide. Und das lagern wir bei uns nicht. Es sei denn, es bleiben irgendwo im Garten über den Winter die Sonnenblumenköpfe liegen. Aber Gemüse, das fressen sie ganz selten“, erklärte sie dann Leo noch. „Weil sie wissen, dass sie nicht viel davon vertragen. Vielleicht mal ein wenig Karottengrün oder das Obst, das auf dem Boden liegt … - Die Spatzen und die Schnecken, die haben es auf unser Gemüse abgesehen, Otto“ sagte sie dann wieder zu Opa.

Aber der Großvater war nicht zu beschwichtigen. „Wo eine Maus ist, da sind auch viele. Und Mäuse sind Schädlinge. Die möchte ich im Garten nicht haben.“

Leo erschrak und ging ganz schnell wieder in den Garten. Er nahm sich vor, seinem Opa nichts mehr von der Maus zu erzählen. Aber kaum war er draußen, sah er, dass der Spatzenschwarm wieder eingefallen war und in Opas Salatbeet saß und zirpte und tschilpte und bereits wie die Rabauken auf den Gemüsepflanzen herumtrampelten und –hüpften.

„Hey, ihr da. Geht da weg. Haut ab…“ Mit ausgebreiteten Armen rannte Leo auf die Spatzen zu. Diese nahmen ganz erschreckt Reißaus, flogen in einer großen Gruppe erst auf den Gartenzaun, blieben dort sitzen, bis alle beisammen waren und zogen dann im großen tschilpenden und lärmenden Schwarm weiter in den nächsten Garten.

„Mmh, eine Vogelscheuche müsste man bauen“, dachte Leo so bei sich „Am besten eine Vogelscheuche, die Musik machen und mit den Armen schwenken kann …“

Schnell rannte er ins Haus zurück. „Opa, Opa ich will eine Vogelscheuche bauen. Lass uns doch eine Vogelscheuche bauen. Bitte, bitte, bitte, bitte und bitte.“
Opa war ganz überrascht. „Eine Vogelscheuche? Was soll denn das bringen? Wo sind denn hier Vögel?“ Aber Leo schüttelte nur mit dem Kopf und auch Oma musste lachen.
„Also ich finde die Idee gut“, sagte sie dann zu Leo. „Eine Vogelscheuche ist auch recht dekorativ. Ich wollte so etwas schon immer mal im Beet haben.“
„Ja, vorne im Salatbeet. Opa, da sind immer ganz viele Spatzen drin. Die fressen deinen Salat auf“, sagte jetzt wieder Leo.
„Wie? Was du nicht sagst? Spatzen? Also gut, gleich morgen fangen wir an. Im Schuppen müssten wir noch viele Holzreste haben.“
„Und ich suche noch heute Abend geeignete Stoffreste heraus“, versprach Oma.

Leo freute sich und ging diesen Abend ganz glücklich ins Bett. Natürlich dauerte es noch lange, bis er endlich eingeschlafen war, denn er war sehr aufgeregt. Aber irgendwann schlief er doch und träumte voller Vorfreude von seiner Vogelscheuche.

Am nächsten Morgen sprang er früh aus dem Bett. Auch Opa war schon im Schuppen. Denn das mit den Spatzen und seinen Salatköpfen hatte ihm über Nacht keine Ruhe gelassen. Als er geeignete Hölzer und Nägel und auch einen alten Besenstiel zusammengesucht hatte, ging Opa mit Leo zu Oma in die Küche, wo gefrühstückt wurde. Oma hatte Tee und Kaffee gekocht und frische Pfannkuchen zubereitet. Als sie gefrühstückt hatten, machten sich alle an die Arbeit.

„Eine Vogelscheuche mit Fernbedienung?“ Opa musste schmunzeln und schüttelte dann den Kopf: „Das glaube ich nicht, dass wir das so hinkriegen, Leo, aber wir werden uns die beste Mühe geben.“

Als es Zeit zum Mittagessen wurde, waren sie fast fertig. Alle freuten sich und gingen mit gutem Hunger zu Tische. Oma hatte noch am Vorabend einen Kartoffelsalat gemacht. Den aßen sie jetzt. Zum Nachtisch gab es Pudding. Und danach machten sie sich schnell weiter ans Werk. Denn die Vogelscheuche sollte nachmittags im Beete stehen. Als es so vier, fünf Uhr war, rief Oma nach Leo und Opa.

„Jetzt kommt mal mit, aber seid bloß leise.“ Und dann konnten sie alle die frechen Spatzen sehen. „Siehst du Otto, schau sie dir an. Das sind bestimmt dreißig, vierzig Stück.“ Opa staunte nicht schlecht. So viele Spatzen hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen.

„Hey, los, ihr da! Haut hier ab. Das ist unser Salat!“ Wieder rannte Leo mit ausgestreckten Armen auf den Spatzenschwarm zu. Laut tschilpend und schimpfend nahm dieser erneut Reißaus!
„Oh, ja“, sagte Opa. „Da muss wirklich eine Vogelscheuche hin!“ Eine halbe Stunde später war es soweit. Die Vogelscheuche wurde mitten ins Beet zwischen Opas Salatköpfe gestellt. „Am besten legen wir noch eine Folie über den Salat“, meinte Oma. „Sicher ist sicher.“

Und so breitete sie gemeinsam mit Leo und Opa ganz gleichmäßig eine Schutzfolie mit kleinen Luftlöchern über die Pflanzen aus. An den Enden wurde sie mit kleinen Haken befestigt, die man in die Erde stecken konnte.
„Eine gute Idee“, sagte Opa. „So wird der Salat viel besser wachsen.“
Dann machte Oma noch ein Foto mit Opa, Leo und der Vogelscheuche und danach gingen alle zum Abendbrot ins Haus zurück. Leo war froh, dass er das Problem gelöst hatte und dass seine kleine Maus nun wohl vor Opas Ärger in Sicherheit war. Vielleicht würde er sie nächstes Wochenende wiedersehen, dann da würde er ja wieder zu Besuch bei seinen Großeltern sein.

Als sie so beim Abendbrot saßen, kamen auch Leos Eltern dazu. Sie wollten ihren Sohn abholen. Denn es war Sonntagabend und am nächsten Tag musste Leo wieder in den Kindergarten. Leos Eltern fanden alles sehr interessant und mussten auch noch in der Dämmerung Leos selbstgebaute Vogelscheuche bewundern.

„Und sag mal Leo, wie sah denn deine Maus aus?“, fragte dann Leos Vater neugierig, als alle schon wieder im Auto saßen und auf der Heimfahrt waren.
„Nun …“ Leo überlegte. „Sie war etwas größer als eine normale Maus und hellbraun. Und auf dem Rücken hatte sie einen schwarzen Streifen.“
„Oh ja“, lachte da Leos Papa. „Dann gibt es sie noch immer in Opas Garten. Als ich ein Kind war, habe ich sie auch gerne beobachtet. Das sind Brandmäuse, mein Sohn. Die lebten früher auf den Feldern.“ Aber Leo sagte nichts mehr dazu. Er hatte sich hinten ganz zufrieden auf dem Rücksitz in eine Decke gekuschelt und war – eingeschlafen …


© Maria Anders


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Kindergeschichte zur Sommerzeit

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