Vor langer, langer Zeit gab es einmal ein kleines Dorf, das lag mitten im Leben. Es besaß einen Marktplatz, auf dem an jedem Samstag die Bauern der Umgebung ihre Waren verkauften, eine Kirche, in der sonntags der Gottesdienst gefeiert wurde, und ein kleines Rathaus, das den Namen eigentlich nicht verdiente. Um die Kirche herum schmiegten sich die Häuser der Menschen, die in dem Dorf lebten, aneinander, als hätten sie sich alle lieb.
Eine Straße, die von Ost nach West verlief und an der Kirche vorbei mitten durch das Dorf führte, teilte es in ungefähr genau zwei Teile. Da auch die Sonne ihren Weg in einem großen Bogen von Ost nach West zurücklegte und dabei nur die eine von beiden Straßenseiten mit ihrem Licht erhellen konnte, gab es in dem kleinen Dorf eine Sonnen- und eine Schattenseite. Auf der Sonnenseite gab es von morgens bis abends den herrlichsten Sonnenschein, während die Schattenseite den ganzen Tag über in kühlem Schatten lag. Aus diesem Grunde nannte man die Menschen, die auf der Sonnenseite geboren und aufgewachsen waren, „Sonnenmenschen“ und die auf der Schattenseite „Schattenmenschen“.
Die Straße war eine Durchgangsstraße von einem Nachbarort zum anderen und deshalb sehr belebt. Pferdewagen, Kutschen, Händler mit ihren Handkarren liefen wild durcheinander und riefen sich bisweilen Grüße zu. Wenn man von einer Seite auf die andere hinübergehen wollte, musste man gut aufpassen, und es brauchte meist sehr lange, bis der Verkehr es zuließ. Vor allem für Kinder war es schwierig, da sie noch klein waren und die Situation noch nicht so gut überblicken konnten.
Aber die Menschen in dem Dorf wollten eigentlich auch gar nicht hinüber auf die andere Straßenseite, denn sie hatten sich auf ihrer Seite eingerichtet und erzählten über die Menschen auf der anderen Seite nichts Gutes. Das war schon seit langer, langer Zeit so.
„Geh’ nicht dort hinüber“, sprachen die Sonnenmenschen zu ihren Kindern, „da ist es düster und kühl, und die Menschen sind scheu und immer in schlechter Stimmung.“ Und die Schattenmenschen erzählten: „Auf der anderen Straßenseite blendet einen die Sonne. Das Licht ist so grell, dass einem die Augen schmerzen, und die Menschen sind immer so fürchterlich gutgelaunt, dass es einem angst und bange wird.“
So redeten die Menschen auf beiden Straßenseiten zu ihren Kindern, und mit der Zeit war daraus eine regelrechte Ablehnung gegen „die auf der anderen Seite“ erwachsen. Niemand wollte mehr hinüber zu den Dorfnachbarn, und es dauerte nicht lange, da verloren sie gänzlich den Kontakt zueinander. Sie sahen sich nur noch selten, und wenn, dann nur über die Straße hinweg, auf der nach wie vor reger Verkehr herrschte, und sprechen taten sie gar nicht mehr miteinander.
Die Schattenmenschen lebten auf der einen Seite der Straße und die Sonnenmenschen auf der anderen. Es gab getrennte Schulen für die Kinder und getrennte Gasthäuser für die Männer, die sich sonntags zum Frühschoppen trafen, um dabei nur wieder über „die da drüben“ Schlechtes zu reden. Eigentlich waren es plötzlich zwei Dörfer. Doch man stritt sich über die Kirche und das kleine Rathaus, denn diese beiden Gebäude lagen genau auf der Grenze zwischen der Sonnen- und der Schattenseite. Da man keine Lösung fand, teilte man einfach die Kirchenbestuhlung auf und setzte sich fortan nur noch zu den eigenen Leuten, um dem Gottesdienst beizuwohnen.
Nun geschah es, dass in einem Haus auf der Schattenseite der Straße ein kleiner Junge aufwuchs und in dem Haus gegenüber auf der Sonnenseite ein kleines Mädchen. Den Jungen nannte man Leon, und das Mädchen hieß Luisa. Ihre Eltern ermahnten sie und sprachen viel von der Sonnen- und der Schattenseite des Dorfes. So lernten sie beide schnell, zu welcher Seite sie gehörten und dass man mit „denen auf der anderen Seite“ möglichst keinen Kontakt pflegte. Sie spielten nur mit den Kindern, die auf ihrer Straßenseite wohnten, und betrachteten die anderen als ihre Feinde.
Eines Tages ergab es der Zufall, dass die Mütter von Luisa und Leon ihre Kinder zur gleichen frühen Stunde zum Bäcker schickten, um Brot zu holen. Da die Straße um diese Zeit noch nicht so belebt war wie tagsüber, konnten Leon und Luisa auf die andere Straßenseite hinüberblicken und sahen sich zum ersten Mal. Sie waren übereinander so erstaunt, dass sie stehenblieben und sich eine ganze Weile gegenseitig anschauten.
„Willst du nicht hinüber kommen und mit mir zu unserem Bäcker gehen“, rief Luisa von der Sonnenseite herüber, da sie Gefallen an dem Jungen auf der Schattenseite gefunden hatte. Leon trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, denn auch ihm gefiel das Mädchen von gegenüber. „Ich darf nicht zu euch hinüber“, rief er zurück und ging seines Weges. Dabei beobachtete er Luisa von Zeit zu Zeit aus den Augenwinkeln. Zu gerne hätte er die Straße überquert und wäre zu ihr gegangen.
Von diesem Tag an sahen sich Leon und Luisa öfter. Immer richteten sie es so ein, dass sie zur gleichen Zeit aus dem Haus traten, wenn sie sich zur Schule aufmachten. Ein kurzes Stück gingen sie dann - jeder auf seiner Straßenseite - gemeinsam, bis sie beide um eine Ecke biegen mussten und sich aus den Augen verloren. Ihre Eltern bemerkten sehr schnell, dass sich da zwischen ihren Kindern etwas anbahnte, und sie ermahnten sie von früh bis spät, dass dies keine so gute Idee war. „Du wirst schon sehen, was du davon hast“, schimpfte Luisas Mutter, „ich habe dich gewarnt. Dieser Junge hat schon so einen trüben Blick“ Und Leons Vater sagte: „Such’ dir ein anderes Mädchen, mein Sohn. Da drüben auf der anderen Straßenseite ist es viel zu grell für dich.“ Aber Luisa und Leon ließen sich von ihrer beginnenden Freundschaft nicht abbringen.
Schon am nächsten Morgen sahen sie sich wieder. „Komm’ doch mal zu mir herüber“, rief Luisa, und Leon gab sich selbst einen Schubs. Er lief vorsichtig nach allen Seiten blickend über die Straße und trat zum ersten Mal in seinem Leben ins Sonnenlicht. Weil es so hell war, schloss er die Augen und blinzelte Luisa an. „Findest du es hier nicht viel schöner als bei euch drüben?“ fragte sie. „Ich lebe gern bei meinen Leuten“, antwortete Leon, „hier ist es nur wärmer und viel heller als bei uns.“ Luisa lachte. „Ja, den ganzen Tag scheint die Sonne, ist das nicht herrlich?“ „Ich glaube, das wäre mir auf Dauer zu viel des Guten“, entgegnete Leon.
Luisa machte ein missmutiges Gesicht, als Leon wieder die Straßenseite wechselte. Dieser Junge war wirklich schwierig. So einer war ihr noch nicht untergekommen. Da war David doch viel unproblematischer. Der konnte wenigstens lachen und freute sich auch über die Sonne. David ging mit ihr zur gleichen Schule, und manchmal spielten sie auch zusammen. Luisas Eltern mochten David sehr, und er besuchte sie, so oft er konnte. Einmal hatte er ihr sogar eine kleine Puppe mitgebracht, und sie hatte sich darüber sehr gefreut.
Doch in der letzten Zeit fand sie David langweilig, und sie spürte, wie dieser Junge von der anderen Straßenseite sie reizte. Sie wollte ihn unbedingt kennenlernen. Deshalb nahm sie sich vor, selbst einmal die Straße zu überqueren und dorthin zu gehen, wo die Schattenmenschen wohnten. Doch es sollte niemand von ihren Leuten sehen, was sie tat, denn sie befürchtete, dass ihre Eltern damit nicht einverstanden waren und böse auf sie wurden. Außerdem spürte sie auch ein komisches Kribbeln in ihrem Bauch, und das machte ihr ein wenig Angst. Sie war noch nie zuvor auf der Schattenseite der Straße gewesen, und nach dem, was man ihr erzählt hatte, würde sie es dort auch nicht lange aushalten.
Als sie Leon am nächsten Tag sah, nahm sie sich ein Herz, blickte sich vorsichtig um, ob auch niemand sie sah, und lief geradewegs zu ihm. „Hallo“, begrüßte sie ihn überschwenglich. „Hallo“, antwortete Leon einsilbig. „Mensch, hier ist es aber düster.“ Luisa schaute sich um. „Und kühl ist es, ich fange gleich zu frieren an.“ Leon lächelte ein sparsames Lächeln. „Hier ist es immer so“, sagte er, „und mir gefällt’s.“ „Aber drüben bei uns ist es viel wärmer und heller“, schwärmte Luisa. „Dafür sind meine Leute viel ernsthafter als bei euch“, entgegnete Leon angriffslustig.
In Luisas Augen funkelte es. „Du weißt doch gar nicht, wie wir sind“, schimpfte sie. „Du hast doch noch nie jemanden von uns kennengelernt, wie kannst du da so etwas behaupten?“ Und schon steckten sie in einem handfesten Streit, der sich erst auflöste, als Luisa wutschnaubend wieder zurück auf ihre Straßenseite stapfte.
Leon fühlte sich vollkommen missverstanden. Er hatte doch gar keinen Streit anzetteln wollen. Und er spürte, dass es ihn auch auf die Sonnenseite der Straße zog, obwohl er gut auf der Schattenseite zurecht kam. Ein bisschen sehnsüchtig schaute er hinüber und sah dort das warme Sonnenlicht. Vielleicht schaffte er es ja irgendwann einmal, die Straßenseite zu wechseln und in der Sonne zu leben, ohne dass sie ihn gleich verbrannte. Er nahm sich vor, öfter mal hinüberzugehen, um die Sonnenmenschen besser kennenzulernen.
Als sich Luisa wieder beruhigt hatte und über Leon nachdachte, kam ihr derselbe Gedanke in den Sinn: Sie wollte feststellen, was das Besondere an den Schattenmenschen war. Irgendetwas an ihnen machte sie neugierig, und gleichzeitig spürte sie eine heftige Ablehnung gegen sie. Sie fühlte sich pudelwohl in der Sonne und konnte nicht verstehen, warum die Schattenmenschen nicht einfach auf ihre Sonnenseite herüberkamen.
In den nächsten Wochen sahen sich Leon und Luisa nicht sehr oft. Beinahe hätte man meinen können, dass sie darauf achteten, sich aus dem Weg zu gehen. Leon war noch immer gekränkt, während Luisa andere Dinge im Kopf hatte. Manchmal traf sie sich noch mit David, aber es war nicht mehr so interessant wie früher, mit ihm zusammen zu sein.
Als sie Leon dann plötzlich an einem Morgen wiedersah, freute sie sich ungemein. Er war wie sie auf dem Weg zur Schule und winkte schüchtern zu ihr herüber. „Hallo“, rief Luisa ihm zu, „sehen wir uns nach dem Unterricht?“ „Weiß nicht“, antwortete Leon irritiert, „mal sehen.“ Luisa zuckte mit den Schultern und ärgerte sich, dass sie Leon überhaupt gefragt hatte.
Nachmittags wartete Leon dann zwei volle Stunden auf sie, aber als er Luisa sah, ließ er sich nichts anmerken. Er schlenderte auf seiner Seite der Straße entlang, und Luisa auf der anderen. Wegen des regen Verkehrs konnten sie sich nicht unterhalten. Plötzlich fiel Leon etwas ein. Er gab Luisa mit den Händen ein Zeichen, damit sie stehenblieb. Dann formte mit seinen Fingern Buchstaben und setzte so Wort um Wort zusammen, das er sagen wollte: „E-s-t-u-t-m-i-r-l-e-i-d-w-e-g-e-n-n-e-u-l-i-c-h.“ Luisa grinste. Sie freute sich riesig über Leons Idee und antwortete auf die gleiche Weise: „W-o-l-l-e-n-w-i-r-u-n-s-m-o-r-g-e-n-f-r-ü-h-t-r-e-f-f-e-n-?“
Am nächsten Morgen traten sie zur gleichen Zeit hinaus auf die Straße und begrüßten sich wie zwei alte Bekannte. „Das war eine tolle Idee, mit den Fingern zu sprechen“, rief Luisa über die Straße hinweg. „So können wir uns jetzt immer verständigen.“ Leon nahm das Lob dankbar entgegen. „Meine Eltern wollen nicht, dass wir uns sehen“, sagte er. „Meine auch nicht!“ Luisa grinste ihn an. „Wollen wir heute die Schule schwänzen“, fragte sie übermütig. „Ich weiß nicht recht“, druckste Leon herum. „Nun mach’ schon“, stachelte Luisa ihn an, „komm’ herüber! Ich zeige dir unsere Sonnenseite.“
Nun konnte Leon nicht länger widerstehen. Er wollte ja hinüber, nur durfte es niemand sehen. Schnell huschte er über die Straße, und gemeinsam bogen sie um die Ecke, die zu Luisas Schule führte. Aber kurz vorher schlugen sie einen anderen Weg ein und gelangten bald zu einer riesigen bunten Wiese. Leon staunte nicht schlecht, als er all die schönen Blumen sah, die dort wuchsen: Sommerflieder, Türkischer Mohn, Margeriten, Rittersporn, Buschmalven, Akelei, Ranunkeln, Lupinen, Stockrosen, Salbei und Lavendel. Es duftete wie im Paradies, und überall waren Honigbienen zu sehen, die in die Blüten hinabtauchten und Nektar sammelten.
„Wie findest du meine Wiese?“ fragte Luisa. „Ich bin beinahe jeden Tag hier und sehe den Bienen und Schmetterlingen zu. Leon war ganz sprachlos. So etwas Schönes hatte er nie zuvor in seinem Leben gesehen. Ihm fiel überhaupt nichts ein, was er hätte sagen sollen. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ bohrte Luisa belustigt nach. „Es ist ... es ist ... es ist einfach wunderschön“, stotterte Leon. Er betrachtete die Blütenpracht, die sich vor seinen Augen ausbreitete und konnte es kaum fassen, dass es so etwas Wunderbares gab.
Eine Zeitlang blieben sie noch auf der Wiese stehen, während Luisa Leon beobachtete und dieser den Bienen und Schmetterlingen nachsah, die aufgeregt in der Luft herumflatterten und dabei ihre leuchtenden Farben zeigten. „Hier könnte ich für immer bleiben“, seufzte er plötzlich leise. „Siehst du“, bemerkte Luisa, „jetzt findest du unsere Sonnenseite doch viel schöner!“ „Gar nichts finde ich“, entgegnete Leon. „Nur weil ich diese Wiese schön finde, muss ich ja nicht gleich eure ganze Sonnenseite mögen.“
Es dauerte nicht lange, da waren beide erneut in einen heftigen Streit verwickelt, aus dem sie nicht mehr herausfanden. Sie warfen sich hässliche Worte an den Kopf und bekamen vor Eifer ganz rote Gesichter. Mit einem Mal drehte Leon sich um und stapfte wütend davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. Luisa blieb allein zurück, und als sie Leon nachsah, traten ihr Tränen in die Augen. „Warum muss ich auch immer so grob zu ihm sein?“ fragte sie sich selbst und ärgerte sich maßlos darüber, dass wieder einmal die Pferde mit ihr durchgegangen waren.
Leon ging den ganzen Weg allein zurück, überquerte vorsichtig die Straße und wurde plötzlich unschlüssig. Sollte er schon nach Hause gehen, wo man ihn doch so früh noch gar nicht erwartete? Oder sollte er noch zur Schule laufen, wo man ihn sicher schon vermisste? Schließlich entschied er sich, seinen Lieblingsplatz aufzusuchen, den er irgendwann auch einmal Luisa zeigen wollte. Es war ein großer karger Felsen, auf dem man herrlich im Schatten sitzen und in die Landschaft hinausblicken konnte, die unter einem lag. Man fühlte sich frei wie ein Vogel, aber manchmal eben auch einsam und ungeliebt. Hierher kam Leon immer dann, wenn er sich von der Welt nicht verstanden fühlte. Dann saß er oft stundenlang auf dem Felsen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er groß und erwachsen war. Dann wollte er einen Beruf haben, der ihm genügend Geld einbrachte, um sich keine Sorgen machen zu müssen. Er wünschte sich eine Familie und Kinder und wollte, dass sie nicht immer im Schatten lebten. Manchmal sah er den Vögeln nach und dachte: „Ihr habt’s gut! Ihr fliegt einfach davon und kümmert euch um nichts.“ Und dann versank er oft in eine düstere Stimmung und bemitleidete sich selbst.
Auch jetzt setzte er sich auf den Felsen und schaute hinaus auf die Landschaft. Hier wuchsen nicht so schöne Blumen wie drüben bei Luisa. Hier lag das Land im Schatten, und wenn das Gras richtig grün wurde, konnte man froh sein. Trotzdem mochte er die Schattenseite des Dorfes. Der Himmel hing oft so tief, dass er den Eindruck hatte, ihn berühren zu können. Er dachte an Luisa, die ihm immer so aufgeweckt erschien, und daran, wie zwanglos sie ihn oft ansprach. Er war da ganz anders, aber gerade deshalb zog es ihn zu ihr hin. Nur streiten mochte er nicht mit ihr. Danach fühlte er sich immer leer und müde. Und wenn er dann versuchte, den Sinn des Streits herauszufinden, konnte er meist keinen erkennen. Sie stritten also vollkommen unnütz!
Außerdem ärgerte es ihn, dass sich Luisa immer noch mit diesem David traf. Der war ja ganz nett, aber irgendwie stand er im Weg. Offensichtlich konnte sich Luisa zwischen ihnen beiden nicht so richtig entscheiden. Mal stand sie mehr auf der Seite von David, mal mehr auf seiner. Und eigentlich - so hatte er den Eindruck - wollte sie mit beiden zusammensein. Wie sollte er sich dabei richtig verhalten? Es war zum Davonlaufen!
Auch Luisa war nach Leons Verschwinden ins Grübeln gekommen. Ihr Ärger über sich selbst war schnell verraucht, und bald schon schmiedete sie neue Pläne, wie sie Leon für sich gewinnen konnte. „Wenn er nur nicht so empfindlich wäre!“ dachte sie bei sich. „Immer fühlt er sich gleich angegriffen, obwohl ich ihm doch gar nichts Böses will.“ Sie schüttelte ihren hübschen Kopf und schnalzte mit der Zunge. Irgendwie würde sie ihn schon noch dazu bringen, länger auf ihrer Sonnenseite zu verweilen.
So saßen die Kinder getrennt voneinander an ihren Lieblingsplätzen und dachten nach. Leon spürte, dass es ihm auf der Sonnenseite sehr gefiel, aber er fühlte auch seine tiefe Verbindung mit den Schattenmenschen. Er wusste, dass er zu ihnen gehörte, auch wenn sein Herz ihn zur Sonne trieb. Luisa hingegen war sich sicher, dass sie niemals auf der Schattenseite der Straße würde leben wollen. Die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen war ihr viel zu kostbar, um sie aufzugeben. Sie entwickelte sogar eine heftige Abneigung gegen die Schattenmenschen und beschimpfte sie wegen ihrer düsteren Stimmung.
In den nächsten Tagen war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob Leon sie wirklich reizte, oder ob sie sich nicht doch mit David zufriedengeben sollte. Sie dachte viel darüber nach, aber ihr Herz wollte sich nicht entscheiden. Statt dessen hatte sie das Gefühl, dass sich die Sonne für sie verdunkelte und dass sie selbst auf der Sonnenseite plötzlich im Schatten stand. Selbstverständlich war das nur ein Gefühl, aber es war für Luisa ganz wichtig.
Denn mit einem Mal erkannte sie, warum die Sonnen- und die Schattenmenschen nicht zueinanderfanden. Es war nämlich so: Jeder Sonnenmensch trug in sich auch einen Teil Schatten, und in jedem Schattenmenschen wohnte auch ein Stück Sonne. Sie hatten nur alle verlernt, es herauszulassen. Vor langer, langer Zeit hatten sie es tief in ihrem Innern vergraben und versteckt und wollten es sich nie, nie wieder ansehen. Denn wenn sie es taten, würde es ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen, das spürten sie ganz deutlich. Deshalb lehnten sie die Menschen von der anderen Straßenseite einfach ab und verleugneten vor sich selbst, dass sie etwas mit ihnen gemeinsam hatten.
Als Luisa sich klar gemacht hatte, was eigentlich in dem Dorf, in dem sie lebte, dazu geführt hatte, dass die Menschen der Sonnenseite nichts mit denen auf der Schattenseite zu tun haben wollten - und selbstverständlich umgekehrt - , nahm sie sich vor, Leon nicht mehr so vor den Kopf zu stoßen. Denn sie wusste plötzlich, dass Leon ihr Spiegelbild war und ihr lediglich ihre eigene Schattenseite zeigte. Und das war etwas sehr Wertvolles, das sie nicht verlieren wollte. Nur wie sollte sie es ihm klarmachen?
Leon ging am nächsten Morgen wie jeden Tag zur Schule. Mit einem Mal stand Luisa neben ihm. „Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe“, entschuldigte sie sich. „Manchmal weiß ich selbst nicht, was ich sage.“ „Ist halb so schlimm“, antwortete Leon mit einem Schulterzucken, „es ist ja auch nicht so einfach, uns hier auf der Schattenseite zu verstehen.“ Luisa lächelte ihn an. „Deshalb bin ich ja gekommen!“
Und dann erzählte sie Leon in aller Ausführlichkeit, was ihr klargeworden war. Leon hörte zuerst amüsiert, dann neugierig und schließlich interessiert zu. Irgendwie hatte er schon lange das Gefühl, dass es zwischen den Menschen auf der Schattenseite und denen auf der Sonnenseite eine Verbindung gab. So, wie Luisa es erklärte, klang es ganz einleuchtend. Und er verstand jetzt auch, dass es sich die Leute mit der Straße sehr bequem gemacht hatten. Der Verkehr hielt sie einfach davon ab, mal nach ihren Nachbarn auf der anderen Seite zu schauen oder sogar Kontakt zu ihnen aufzunehmen.
Auf einmal fiel Leon etwas ein. „Wie wäre es, wenn wir die Straße einfach sperren, so dass kein Pferdefuhrwerk und kein Handkarren mehr hindurch kann?“ fragte er. Luisa sah ihn irritiert an. „Was willst du damit erreichen?“ „Ist doch ganz einfach“, erklärte Leon, „wenn wir die Straße sperren, kommt niemand mehr hindurch und der Verkehr hier im Dorf wird weniger.“ „Na und?“ Luisa begriff noch immer nicht, worauf Leon hinaus wollte. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, wie man so einfach die Straße absperren konnte. Das war doch sicher verboten!
„Wenn es weniger Verkehr gibt, ist es leichter, über die Straße zu gehen“, sagte Leon, der ganz begeistert war von seinem Einfall. „Und wenn es leichter ist, über die Straße zu gehen, dann kommen sich die Menschen von der Sonnenseite und die von der Schattenseite mit der Zeit ganz von selbst wieder näher. Wir müssen nur dafür sorgen, dass es Kontakte gibt.“ Jetzt hatte auch Luisa verstanden, was Leon vorhatte, und sie fand die Idee genauso toll wie er.
Schon am nächsten Tag trafen sie sich an dem Dorfende, an dem die Straße in das Dorf hineinführte, und stellten dort eine Sperre mit einem großen Schild auf, das Leon noch am Abend zuvor gemalt hatte: Durchfahrt aus wichtigen Gründen nicht mehr möglich! Dann gingen sie die ganze Strecke bis zum anderen Ende, an dem die Straße aus dem Dorf wieder hinausführte, und stellten auch dort Sperren mit dem großen Schild auf.
Als sie ins Dorf zurückgingen, bemerkten sie aufgeregt, dass der Verkehr abrupt nachgelassen hatte. Ihre Idee schien zu funktionieren. Im Dorf selbst blieben die Menschen auf beiden Seiten der Straße plötzlich stehen und wunderten sich. Zuerst schauten sie sich gegenseitig an, und dann blickten sie auch zu ihren Dorfnachbarn auf der anderen Straßenseite. Aber niemand konnte sich so recht erklären, was geschehen war.
Es dauerte nicht lange, da rief ein Mann von der Sonnenseite hinüber zur Schattenseite, wo sich eine kleine Gruppe versammelt hatte: „Was ist los? Warum hat der Verkehr so plötzlich nachgelassen?“ Aus der Gruppe löste sich eine Frau. „Wir wissen auch nicht mehr als ihr da drüben. Plötzlich hörte der Verkehr auf.“ Mit einem Mal begannen überall erregte Gespräche über die Straße hinweg. Und weil man sich nicht so gut verstehen konnte, ging man aufeinander zu, als hätte es die Straße nie gegeben.
Leon und Luisa beobachteten das Treiben, das sie mit ihrer Straßensperrung angezettelt hatten, und sie freuten sich. Denn sie hatten es geschafft, dass sich die Menschen auf der Sonnenseite und die auf der Schattenseite wieder näherkamen. Und sie selbst nahmen sich vor, in Zukunft mehr Verständnis füreinander aufzubringen und nicht gleich aus der Haut zu fahren, wenn der andere nicht mal nicht genau das tat, was man von ihm erwartete.
So wurden sie dicke Freunde, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute in dem kleinen Dorf mitten im Leben. Besuch’ sie doch mal!


© Ulrich Kusenberg


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