Jonathan Svenson war ein etwas kauziger, schon in die Jahre gekommener Denker und Erfinder. Er lebte seit seiner Kindheit in einem kleinen Ort im Norden Schwedens, in dem er so bekannt war, dass der Briefträger auch Briefe zu ihm hätte befördern können, auf denen die Adresse fehlte. Nur: Jonathan Svenson bekam keine Post. Er hatte sich von der übrigen Welt seit langem schon weitestgehend abgesondert und experimentierte im Anbau seines kleinen Hauses mit den verschiedensten Stoffen und Materialien. Dass er dabei mitunter auch die eine oder andere Explosion auslöste, wussten seine Nachbarn nur zu gut. Doch sie hatten sich daran gewöhnt und bedachten Jonathan Svenson immer, wenn sie ihn zu Gesicht bekamen, und das war sehr selten, mit einem freundlichen Lächeln.
Der Denker und Erfinder solch ungemein wichtiger Dinge, wie der automatischen Brotkrumen-Absauganlage für Toaster, der dreifach genockten Antriebswelle für Kleinstfahrzeuge und des zahnlosen Zahnrades schloss sich Tag für Tag in seiner Werkstatt ein und arbeitete geschäftig von morgens bis abends an immer neuen Projekten. Stundenlang konnte er dabei über den von ihm selbst gezeichneten Plänen brüten und nach Fehlern in der Konstruktion suchen. Sein größter Traum war es, eine Rakete zu bauen, mit der er in der Lage sein würde, zu fernen Planeten zu fliegen. Doch er hatte bereits wiederholte Male die Erfahrung machen müssen, dass sein Raketenmodell schon kurze Zeit nach der Zündung der Antriebswerke mit einem lauten Knall explodierte und sich in seine Einzelteile zerlegte. Es war ihm bisher einfach nicht gelungen, diesen Fehler zu beheben, und er ärgerte sich sehr darüber.
Eines Tages befand sich Jonathan Svenson wie gewöhnlich in seiner Werkstatt und beschäftigte sich wieder einmal mit seinen Raketen Bauplänen. Er hatte in der vergangenen Nacht einen sehr unangenehmen Traum gehabt und meinte nun, die Schwachstelle in seiner Konstruktion zu kennen. Plötzlich rumpelte und grummelte es im Erdreich, und als sich der Boden auftat, kam ein kleines Erdmännchen zum Vorschein.
"Ich bin ein Erdmännchen", sagte es stolz, "und ich habe drei Wünsche frei!"
Jonathan Svenson war leicht irritiert. Er starrte das Erdmännchen verwundert an, kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und fragte vorsichtig: "Wolltest du nicht sagen, dass ich drei Wünsche frei habe?" Dabei klopfte er sich mit dem rechten Zeigefinger wiederholt auf seine Brust.
Das Erdmännchen stampfte wütend mit dem linken Fuß auf die Erde und wurde ganz rot im Gesicht, als es erwiderte: "Wer hier drei Wünsche frei hat, bestimme noch immer ich!"
Der kauzige Erfinder hatte in seinem langen Leben schon eine ganze Menge kurioser Situationen erlebt, aber so etwas war ihm bisher noch nicht untergekommen. In seinen Gedanken spielte er natürlich längst mit der Möglichkeit, seinen Traum von einer Rakete durch seinen unangemeldeten Gast erfüllt zu bekommen. Doch ihm war klar, dass er vorsichtig sein musste und das Erdmännchen nicht verärgern durfte. Infolgedessen schürzte er seine Lippen, tat ganz unbekümmert und rieb sich wie nebenbei die Hände.
“Willst du nicht erst einmal näher kommen und dich begrüßen lassen?” fragte er so freundlich wie er nur konnte. “Ich könnte dir unter Umständen sogar ein Glas von meinem feinsten Holundermelissenwurzelbeersirup anbieten.” Er hatte nämlich irgendwo gelesen, dass Erdmännchen nichts lieber trinken als Holundermelissenwurzelbeersirup.
Das Erdmännchen schien zunächst zu überlegen und antwortete nach einer Weile: “Nun gut. Auf ein Glas Holundermelissenwurzelbeersirup will ich wohl bleiben. Das ist nämlich rein zufällig mein allerliebster Lieblingssaft.” Damit trat es näher und sah sich vorsichtig in Jonathan Svensons Werkstatt um. Und während der Erfinder sich an seiner Werkbank bemühte, aus den unterschiedlichsten Zutaten den gewünschten Saft herzustellen, beäugte das Erdmännchen skeptisch die bunte Rakete, die sich wie ein zu groß geratener Feuerwerkskörper zwischen Gerätschaften und Werkzeugen erhob. Sie stand auf einem sehr wackelig anmutenden hölzernen Gestell, besaß am unteren Ende drei rostige Antriebsdüsen, die wie alte Konservendosen aussahen, und an der Spitze eine kurze Antenne, die bis unter die Decke der Werkstatt reichte. Kleine runde Bullaugen waren ringsum in das Blech der Rakete eingelassen, und hinter den Bullaugen sah man niedliche Gardinen und halbvertrocknete Geranien.
“Was willst du damit anfangen?” fragte das Erdmännchen neugierig.
“Ich will damit ins All fliegen und ferne Planeten besuchen”, antwortete Jonathan ganz beiläufig. “Schon morgen soll es losgehen, ich muss nur noch die Antriebswerke überprüfen.”
Das Erdmännchen zitterte vor Aufregung und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. “Weißt du, ich wollte schon immer ins All fliegen und mir die vielen Sterne ansehen, die nachts am Himmel stehen”, begann es. “Meinst du, du könntest mich mitnehmen?”
Jonathan Svenson hüpfte das Herz vor Freude, aber er tat weiterhin ganz unbekümmert und gab vor, nachzudenken. Den ersten Schritt hatte er erfolgreich hinter sich gebracht. Nun war es nur noch notwendig, das Erdmännchen dazu zu bringen, ihm einen seiner drei Wünsche zu überlassen. Deshalb ließ er sich Zeit mit seiner Antwort und mixte weiter zerstreut an seinem Holundermelissenwurzelbeersirup. Dann sagte er: “Es könnte vielleicht gelingen, wenn du nicht allzu schwer bist.” Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: “Weißt du, die Rakete ist eigentlich nur für eine Person gebaut, aber es müsste trotzdem funktionieren.”
Seine Worte lösten auf dem kleinen Gesicht des Erdmännchens ein in Vorfreude gespanntes Lächeln aus. Unruhig nestelte es an seiner grasgrünen Kleidung. “Ich müsste aber vorher noch meinen Eltern Bescheid sagen”, warf es plötzlich ein, “sonst machen sie sich Sorgen.”
“Das ist kein Problem”, erwiderte der Erfinder. “Bis morgen ist noch Zeit genug.” Dann nahm er allen Mut zusammen und sagte: “Aber bei den Antriebswerken musst du mir helfen.”
Das Erdmännchen blickte den alten Mann erstaunt an. “Wie sollte ich dir helfen können?” fragte es.
Nun war es an der Zeit, dass Jonathan Svenson mit dem Ziel seiner Unterhaltung herausrücken musste. “Du könntest mir einen deiner Wünsche überlassen”, sagte er vorsichtig.”
Das Erdmännchen wurde mit einem Mal ganz rot im Gesicht und schaute beschämt zu Boden. “Aber ich habe gar keine Wünsche zu vergeben”, erwiderte es kleinlaut. “Das war doch nur so eine Begrüßungsformel.”
Jonathan Svenson ließ vor Schreck das Glas mit der Mixtur fallen und starrte seinen kleinen Gast ungläubig an. “Du hast gar keine Wünsche frei?” fragte er zur Sicherheit noch einmal nach.
“Nein. Ich dachte, das ist mal eine ganz andere Begrüßung als sonst.” Das Erdmännchen wirkte jetzt ganz geknickt.
“Aber dann können wir morgen auch nicht ins All fliegen”, sagte der Erfinder, der sich beim Mitleid erweckenden Anblick seines Gastes schnell wieder gefangen hatte. “Ohne einen freien Wunsch funktionieren die Antriebswerke nicht. Und ohne Antriebswerke bewegt sich die Rakete keinen Zentimeter von der Stelle.” Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.
Das Erdmännchen hockte sich auf einen leeren Farbeimer und stützte seinen Kopf auf die Hände. “Wo liegt denn der Fehler?” fragte es plötzlich.
“Ich weiß es nicht genau”, antwortete Jonathan. “Es muss mit der Zündmechanik zu tun haben.”
“Hast du daran gedacht, die Zündklöppel auf die Größe der Einspulpfannen anzupassen und die Klemmautomatik einzustellen?”
Jonathan Svenson fielen fast die Augen aus dem Kopf. “Das ist es!” rief er. “Das ist es! Ich hatte die ganze Zeit über das seltsame Gefühl, dass ich etwas vergessen habe.” Sofort machte er sich geschäftig an die Arbeit, und schon nach kurzer Zeit hob er seinen Kopf aus dem Blechrohr hinter den Antriebswerken und sagte stolz: “Fertig!” Dann wischte er sich die verschmierten Hände an einem noch verschmierteren Lappen sauber und blickte das Erdmännchen an. “Wenn du willst, können wir sofort starten, aber deinen Eltern kannst du dann nicht mehr Bescheid sagen.”
Das Erdmännchen hatte dem Erfinder interessiert zugeschaut und war nun Feuer und Flamme. “Wir können ihnen ja eine Karte schreiben”, sagte es. “Dann wissen sie, wo ich stecke.”
Jonathan nickte zufrieden. Er öffnete den Einstieg der Rakete und winkte seinem Gast, einzusteigen. Dann folgte er ihm in das Innere des Gehäuses, betätigte viele verschiedene Schalter und Knöpfe, bis die unterschiedlichsten Geräusche und Töne erklangen und schließlich die Antriebswerke zu fauchen begannen. Mit einem lautem Zischen und heftigem Schwanken erhob sich plötzlich die Rakete und führte unsere beiden neuen Freunde auf eine abenteuerliche Reise ins All, von der wir sicherlich später noch erfahren werden.


© Ulrich Kusenberg


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