Bruder Maus und Schwester Maus krochen in der Nacht durch den Ausgang ihrer Erdhöhle und liefen über den verschneiten Hof zum Leiterwagen. Sie kletterten zwischen die Speichen eines rostigen Rades, von wo aus sie fröstelnd und hungrig zum Haus spähten. Weißer Qualm entstieg dem Schornstein auf dem Dach. Ein Sturm kam auf und jagte Treibeiswolken über den Horizont.
»Unsere letzten Kornvorräte sind fast verbraucht«, sagte Schwester Maus mit kummervoller Miene.
»Sieh nur!« sagte Bruder Maus und wies mit der rechten Vorderpfote neben den Treppenaufgang. »Im Kellerfenster brennt noch Licht. Der Bauer hat vergessen, die Lampe auszuschalten! Wollen wir heute einmal ins Haus schleichen?« Seine Barthaare zitterten erwartungsvoll. Da seine Schwester mit ihrer Antwort zögerte, fügte er hinzu:»Ich war noch nie in einem Haus der Menschen.«
»Aber ich«, erklärte Schwester Maus. »Es lauern dort Gefahren in allen Winkeln. Du weißt -«
»Ich weiß: Der Wachhund ist alt und müde. Die rote Katze ist fett und schläfrig. Was könnte uns schon zustoßen?«
»Also gut«, sagte Schwester Maus kurzentschlossen. »Vielleicht hast du recht!«
Die Gelegenheit war günstig, denn das Kellerfenster stand nur einen winzigen Spalt offen. Auf leisen Pfoten huschten Bruder Maus und Schwester Maus in den weißgetünchten Raum. Beinahe geräuschlos kletterten sie über die Kartoffelkiste und erreichten den Steinboden. Gespannt blickten sie sich um.
»Wir sind nicht die ersten, die hier ihr Glück versuchen«, sagte Schwester Maus, als sie auf dem Fußboden, zwischen zwei Steinplatten, eine Entdeckung machte.
»Was ist das?« fragte Bruder Maus, dessen Augen sich noch nicht an das trübe Licht der verstaubten Wandlampe gewöhnt hatten.
»Was wohl! - Mauseköttel!«
»Ach so!«
In den Beinen des Metallregales waren Löcher, die es ihnen erleichterten, auf das erste Blech zu klettern. Einmachgläser mit gelben Bohnen, roter Beete und Gurken standen hier dicht nebeneinander. Auf der nächsten Etage fanden sie Gläser mit braunem Apfelmus und halben Birnen. Kon-servendosen mit Erbsen, Möhren, Spargel, Grün-kohl und Sauerkraut waren auf dem höchsten Blech gelagert. Unter der Decke baumelten Mett-würste, Leberwürste und gesalzene Schinken.
»Hm, ich rieche Äpfel«, flüsterte Bruder Maus.
»Ich auch«, bestätigte seine Schwester.
Auf dem obersten Blech des benachbarten Regals entdeckten sie die duftenden Äpfel.
»Das Regal ist zu hoch. Wir können es nicht erreichen«, sagte Bruder Maus und streckte sich vergeblich in die Höhe.
»Räuberleiter«, schlug Schwester Maus vor.
Schon kletterte Bruder Maus auf den Rücken der Schwester und richtete sich auf, wobei er mit beiden Vorderpfoten den Rand des Regalbleches erreichen konnte. Geschickt hüpfte er hinauf und prüfte mit flinken Augen die Lage.
Schwester Maus blickte ängstlich zu ihrem jüngeren Bruder. Er kannte längst nicht alle Gefahren, die in der Dunkelheit auf ihn lauerten. Dennoch bewunderte sie seinen Mut. »Warum zögerst du, Bruder?« flüsterte sie. »Stimmt mit den Äpfeln etwas nicht?«
»Es ist das Paradies!« jubelte Bruder Maus. »Köstliche Äpfel, rote, gelbe, grüne. Aber - aber ich rieche hier oben noch etwas!«
»Was denn?«
»Du wirst es nicht glauben: Es müffelt nach Käse!«
»Bist du sicher?«
»Ja. Ich habe ihn entdeckt! Zwischen zwei dicken Äpfeln. Hm!«
»Warte!« rief Schwester Maus in die Höhe. »Rühr den Käse nicht an!«
Bruder Maus trippelte an den Rand des Regalbleches und blickte zu seiner Schwester hinunter. »Warum? Der Käse liegt da und wartet darauf, gegessen zu werden. Wir teilen gerecht - wie immer!«
Eindringlich warnte Schwester Maus:»Warte! - Sag mir noch: Liegt der Käse einfach nur da?«
Bruder Maus huschte zur Mitte des Regales. »Ja! Er liegt auf einem Brett aus Holz.«
»Was ist es für ein Brett?« piepste Schwester Maus, denn es galt vor jeder möglichen Gefahr auf der Hut zu sein.
»Es ist ein lustiges Brett«, ließ Bruder Maus sich vernehmen.
»Dann bin ich beruhigt«, sagte Schwester Maus aufatmend. Plötzlich kam ihr in den Sinn:»Lustig? Wie kommst du darauf?«
»Stell dir vor«, sagte Bruder Maus, wobei er seine Pfoten gegeneinander rieb, »es hat eine kleine Zunge.«
»Wer - das Brett?«
»Ja. Es ist eine ausgestreckte Holzzunge, die schräg nach oben zeigt. In der Zunge steckt ein krummer Dorn, auf dem ein Stückchen Käse aufgespießt ist. Das Schönste weißt du aber noch gar nicht, Schwester!«
»Was denn?«
»An einer Seite ist der Käse geröstet!«
»Was für ein Glück wir haben«, sagte Schwester Maus. »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Hörst du?«
Bruder Maus antwortete nicht. Er hatte nur noch Augen für den verlockenden würzigen Käse. Er beugte seinen kleinen Kopf weit über die ausgestreckte Holzzunge, stützte sich leicht am Rande des Brettes ab und schnüffelte genussvoll an dem gebräunten Käsestückchen auf dem Eisendorn. Von der Decke ließ sich eine schwarze Spinne am seidenen Faden herab. Bruder Maus wich erschrocken zurück, als die Spinne eines seiner Barthaare berührte und eilig wieder an dem Faden in die Höhe lief. Der Schatten eines Apfels fiel auf den hinteren Teil des Brettes, auf dem Bruder Maus erst jetzt das Metallgestänge entdeckte.
»Warum zögerst du?« wisperte Schwester Maus mit einem verstohlenen Blick zur Kellertreppe. »Stimmt etwas nicht?«
»Es ist alles in Ordnung«, antwortete Bruder Maus. »Ich sehe mir gerade die Spiralfeder auf dem Brett an.«
»Eine Spiralfeder? Hat sie einen Bügel?«
»Ja. Aus Metall. Er ist weit nach hinten gebogen.«
»Sei vorsichtig, Bruder!« rief Schwester Maus in die Stille hinein. Fieberhaft überlegte sie, was nun zu tun sei. »Erzähl mir, was du noch erkennen kannst!«
Nachdenklich sagte Bruder Maus:»Von dem Bügel führt eine dünne Stange bis zum Käsestück. Soll ich einmal unter dem Käse nachsehen?«
»Nein! Tu es nicht!« hörte er die zitternde Stimme seiner Schwester.
»Es wird schon nichts Schlimmes passieren!«
»Warte, Bruder! Du musst einen Apfel gegen die Zunge wälzen. Dann wissen wir, ob wir den Käse essen dürfen!«
Bruder Maus vertraute auf die erfahrenere Schwester. Er stemmte sich gegen einen Apfel, kippte ihn mit großer Anstrengung auf die Seite und rollte ihn langsam gegen die Zunge des Brettes. Ganz plötzlich geschah es: Der gespannte Metallbügel schnappte herum und schlug - zack! - mit einem schrillen Knall gegen die Holzzunge. Von der ungeheuren Wucht des Aufpralls sprang das Brett mit dem Käse ein Stück in die Höhe, neigte sich zur Seite und stürzte klirrend hinunter auf den Steinboden.
In panischer Angst fanden Bruder Maus und Schwester Maus zueinander, huschten zum Rand des Regalbleches, und kletterten am Metallpfosten herunter auf den Boden. Einen Atemzug lang suchten sie Deckung unter einem Waschtrog. Oben in der Diele bellte der Hund. Die aufgeregte Stimme der Bäuerin war zu hören. Jetzt wurde knarrend die Kellertür aufgerissen. Bruder Maus und Schwester Maus flitzten durch die Öffnung in die Kartoffelkiste.
Mit plumpen Pfoten tapste der alte Wachhund die Treppe herunter in den Keller. Grimmig spähte er umher.
Mit angehaltenem Atem kauerten Bruder Maus und Schwester Maus in der Finsternis. Draußen heulte noch immer der Sturm. Einmal erschien der ferne Mond am Himmel in dem schmalen Fensterspalt, bevor eine vorbeitreibende Wolke ihn wieder verdeckte. Was nun? Einen rettenden Einfall hatte mit einem Male Schwester Maus: Sie gab einer dicken Kartoffel einen Schubs mit der Schnauze, so dass sie durch die Öffnung der Kiste purzelte und durch den Raum kullerte.
Erschrocken fuhr der Hund herum. Im nächsten Moment hetzte er knurrend der Kartoffel nach, die unter das Apfelregal rollte.
In wilder Flucht jagten Bruder Maus und Schwester Maus durch die Fensteröffnung auf den Hof hinaus. Erst als sie durch die Speichen des Leiterwagens rannten, wagten sie es, zum Haus zurückzublicken. Im Kellerfenster erkannten sie die Umrisse des kläffenden Wachhundes.
Endlich schlüpften Bruder Maus und Schwester Maus durch die Öffnung am Fuße der Linde in ihre schützende Erdhöhle. Heftig atmend, mit pochendem Herzen, lagen sie in der Dunkelheit, lauschten und spähten zum Hof hin. Noch immer entstieg weißer Qualm dem Schornstein auf dem Dach, trieb der Wind Wolken über den Himmel.
»Wir sind in Sicherheit«, sagte Schwester Maus und betrachtete liebevoll den jüngeren Bruder, der schweigsam am Eingang der Höhle lag. Es war für ihn das erste Abenteuer in einem Haus der Menschen gewesen. »Hast du Hunger?« fragte Schwester Maus fürsorglich.
Ein Mondstrahl fiel in die Höhle und erhellte das kleine Schnäuzchen von Bruder Maus. Stolz zeigte er seine kleinen starken Zähne, zwischen denen er das geröstete Käsestück in die Freiheit gerettet hatte ...


© Erhard Schümmelfeder


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Beschreibung des Autors zu "MÄUSE IM KELLER"

Als ebooks im Handel (amazon, Weltbild, ciando etc) erhältlich unter dem Titel "Der Mann der immer Unrecht hatte".




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