„Ich koche vor Wut!“, donnerte Wutus der kleine Drache.
Wenn Wutus so war, wie er jetzt war, donnerte er wie ein Donnergewitter. Und dabei blitzten seine Augen wie echte Blitze.
„Ja, ja“, brummte Mutterdrachin Dragia. Zum Glück flüsterbrummte sie immer sehr leise und wurde ruhiger, je greller sich der Drachenkammschopf des kleinen Wutus wutgrün verfärbte.
„Und warum kochst du schon wieder vor Wut, mein Kleiner?“, fragte Mama Dragia liebevoll.
„Du sollst mich nicht ‚Kleiner’ nennen!“, kreischte Wutus. Dabei bekam der Drachenkammschopf schimmernde violette Streifen.
„Entschuldigung, mein Großer!“, murmelte das Mama-Tier. „Und jetzt lauf und hol mir die Eier aus dem Keller!“
„Ich will aber nicht, weil ich vor Wut koche!“, brüllte Wutus. Er stampfte mit den vorderen Krallentatzen auf, dass der Küchenboden zitterte. „Drache Waliso hat mir meine Jause gestohlen! Das ist so gemein!“
Manchmal, wusste das Muttertier, schlugen Drachenkinder am Schulhof mit der Pranke oder mit dem zackigen Drachenschwanz. Und wenn sie besonders bösartig waren, spuckten sie sogar Feuer. Das war am Schulhof in Dragonenburg strengstens verboten. In großen Buchstaben stand das an der Wand: „Feuer spucken verboten!“
Waliso schlug manchmal mit der Pranke zu, danach riss er den Kleineren die Tasche weg und stahl daraus, was er finden konnte. Die Anderen schimpften dann: „Das darfst du nicht!“ Und Waliso erklärte ihnen: „Da steht nur ‚FEUER SPUCKEN VERBOTEN!’. Es steht nicht da ‚MIT DER PRANKE SCHLAGEN UND TASCHE WEGREISSEN UND SACHEN WEGNEHMEN VERBOTEN!’
Wutus gehörte zu denen, die nach solchen Worten immer sehr wütend wurden. Wenn ihn Waliso so behandelte, sooo gemein, fühlte er sich klein und schwach. Das wollte er nicht sein. Darum strampelte und trampelte er jetzt auf dem Küchenboden und schrie und tobte, damit wenigstens Muttertier Dragia erkennen konnte, wie groß und stark er war.
„Glaubst du, du wärest schon groß und stark genug“, fragte Mama Dragia, „um dich nicht zu fürchten, im finsteren Keller?“
Wutus hörte mit dem Trampeln und Strampeln auf, und mit dem Schreien und Kreischen und Toben. Er hatte nämlich, laut wie er selbst war, fast nicht richtig gehört. ‚Groß und stark’, hatte Muttertier gesagt. Hatte Muttertier das wirklich gesagt?
„Ja! Groß und stark!“, wiederholte Wutus. „Was ist jetzt mit groß und stark?“
„Wenn du schon so groß und stark bist“, wiederholte Dragia sanft, „dass du dich nicht fürchten musst, wenn du in den dunklen Keller gehst, dann darfst du mir ganz alleine von dort unten die Eier holen.“ Sie betrachtete liebevoll seinen grün-violett angelaufenen Drachenkammschopf. Aber streicheln wollte sie den Schopf nicht, denn das machte Wutus immer sehr wütend. „Natürlich nur, wenn du dich nicht fürchtest!“, fügte sie noch an.
Plötzlich verflüchtigten sich die violetten Streifen im dem Schopf. Und Wutus stand ganz still. ‚Wenn er so still steht, sieht er richtig groß aus, mein Kleiner’, dachte die Drachenmama.
„Natürlich fürchte ich mich NICHT!“, fauchte Wutus. Beinahe wäre sein Kamm schon wieder dunkler geworden. Er nahm sich aber schnell zusammen. Schließlich wollte er ja nicht auf sich sitzen lassen, er wäre sogar zu Hause ein ‚Angstdrache’! Er huschte zur Tür hinaus, die Treppen hinunter, um die erste Ecke, um die zweite Ecke – ohne Licht. Wutus wollte nämlich nicht nach dem Lichtschalter suchen. Er wollte sagen dürfen: ‚Ich war ganz alleine im FINSTEREN Keller!’
Als Wutus mit den Eiern im Korb in die Küche kam, hatte Mama Dragia bereits Zucker in eine große Schüssel gegeben.
„Stell den Korb ab!“, bat sie. „Du bist groß und stark und du warst sehr mutig, Wutus!“, lobte sie ihn.
Nach diesen Worten färbte sich der Kamm des kleinen Drachen hellblau. Das war eine schöne, angenehme Stolzfarbe.
„Ich bin groß und stark und sehr mutig!“, sagte Wutus.
Neugierig beobachtet er, was die Mutter jetzt machte. Sie holte eine große Maschine, an der ein Kabel hing. Und in die Maschine steckte sie zwei Quirlsprudelmixstangen.
„Was ich nun machen muss, wirst du wohl noch nicht können“, brummelte Mama Dragia. „Oder bist du vielleicht sogar schon sehr geschickt und fingerfertig?“, fragte sie vorsichtig.
„Jaaa!“, behauptete Wutus sofort. „Natürlich bin ich das! Du wirst doch nicht denken, ich wäre tollpatschig wie ein kleines Kind!“
„Nun, dann“, sagte die Mama, „kannst du versuchen, vorsichtig die Eier aufzuschlagen! Hier herein in diese Schüssel!“
Das war nun wirklich eine sehr schwierige Aufgabe! Wutus musste seine Krallen ganz klein machen und zusammenziehen, bis seine Pranken richtig spitz wurden, und an der Schale des Eies kratzen, damit es nicht gleich in hundert Scherben zerschellte. Auf keinen Fall wollte er das klebrige Eigelb zwischen seinen Krallen haben. Es dauerte eine Weile, bis das erste Ei in die Schüssel gekippt war. Beim Zweiten ging es schon schneller. Und beim Dritten noch schneller. Nach sechs Eiern hätte Wutus gerne noch weitergemacht. Es machte ihm nämlich Spaß, weil er so geschickt mit den Eiern umgehen konnte.
„Du bist wirklich schon sehr geschickt!“, lobte Muttertier Dragia.
Der Kammschopf des kleinen Wutus leuchtete diesmal in einem wunderbaren Glitzerhellblau, schimmernd, wie das Innere einer Perlenmuschel – so stolz war er!
„Ich bin wirklich schon sehr geschickt!“, wiederholte Wutus.
„Und nun werde ich das hier verrühren“, verkündete Mutter Dragia. Sie deutete auf den Inhalt der Schüssel.
„Das kann ich auch! Das kann ich auch!“, rief Wutus begeistert.
Mama Dragia legte den Kopf nachdenklich zur Seite. Nach einer Minute des Nachdenkens sagte sie: „Das glaube ich wohl, dass du das kannst! Aber, weißt du, diesen Quirlsprudelmixer zu halten und damit zu brummen, das kann Jeder. Das könnte ja sogar ein Drachenbaby machen! Nein, ich glaube, für diese Arbeit bist zu schade. So klug, wie du bist, kannst du sicher auch Butter aus dem Kühlschrank und Nüsse und Mehl aus dem Schrank holen. Du bist doch schon sehr klug? Oder?“
Schnell richtete sich Wutus auf und sah gleich noch ein Stück erwachsener aus. „Ja! Natürlich bin ich schon sehr klug!“, rief er so laut, dass es von den Wänden und aus den Küchenkästchen heraus ein Echo gab.
Das war jetzt eine sehr schwierige Aufgabe: Butter aus dem Kühlschrank. Wie sah das nur aus? Er hatte doch noch nie Butter aus dem Kühlschrank geholt. Das Butterbrot lag ja immer schon fertig auf den Tisch, wenn er sich für die Schule bereit machte. Im Kühlschrank waren sehr viele Dinge. Wutus nahm ein Stück nach dem anderen heraus. Er musste alles lesen, was auf den Packungen stand. Da war er sehr froh, dass er in der Schule so gut aufgepasst hatte! Endlich fand er ein Päckchen auf dem ein großes „B“ geschrieben stand, dann ein „U“, dann ein „T“. Weiter las er nicht mehr. Das musste die Butter sein!
Noch viel schwieriger war es, Mehl und Nüsse zu finden. Der Kasten war von oben bis unten voll. Ein Päckchen sah aus wie das andere. Wieder wollte Wutus lesen, was darauf geschrieben stand, aber nicht auf allen Päckchen stand etwas darauf. Also öffnete er alle der Reihe nach und hielt zur Prüfung seine schmale Schnauze hinein. Ein Atemstoß – und schon blies ihm etwas entgegen. Sein Gesicht wurde gelb. Er hatte Maisgrieß gefunden. Als er in das nächste Päckchen blies, zischte ihm eine braune Wolke ins Gesicht. Kakao!
Gelb und braun gemustert wandte er sich an seine Mutter: „Brauchen wir Maisgrieß und Kakao auch?“
Mama Dragia sah ihn an, und als sie das Muster in seinem Gesicht erblickte, musste sie lachen. „Du suchst ja sehr gründlich!“, sagte sie. „Na gut, wenn du schon so gründlich suchst, dann werden wir eben Kakao auch dazugeben! Du bist ja richtig erfinderisch, mein Großer!“
Wutus strahlte unter seinem gelb-braun gestaubten Gesicht. „Ich bin sehr erfinderisch!“, verkündete er stolz.
Aber weil er noch nicht fertig war mit seinem Auftrag, machte er sich gleich wieder auf die Suche, und bald staubten ihm Weiß und Hellbraun entgegen. Da wusste er, er hatte Mehl und Nüsse gefunden!
„Bravo, Wutus!“, lobte die Mutter. „Du bist schon sehr klug!“
Glücklich lächelte Wutus in die Schüssel hinein und brummelte vor sich hin: „Ich bin schon sehr klug!“

Nachdem alles gut vermischt war, durfte Wutus noch mithelfen, den Teig in die Kuchenform zu streichen. Ein bisschen etwas davon strich er auch auf seine Drachenpranke und von dort strich er es auf seine Zunge. Es schmeckte nämlich sehr gut, was er da mit seiner Mutter gemeinsam zusammengemischt hatte.
Eine halbe Stunde später war der Kuchen fertig.
„Du wirst sicher morgen ein Stück davon in die Schule mitnehmen“, sagte Mama Dragia. „Da kannst du ja gleich ein Stück für Waliso mitnehmen. Der wird staunen, wenn du ihm sagst, dass du selbst einen Kuchen backen kannst!“
Wutus dachte darüber nach. Ob er wirklich Waliso ein Stück von seinem guten Kuchen überlassen wollte, wusste er nicht. Wo doch Waliso der war, der ihm jeden Tag die Jause klaute!

Am nächsten Morgen stapfte Wutus zur Schule. Zwei Stücke vom Kuchen hatte er in der Tasche. Am Schulweg murmelte er vor sich hin: „Ich bin groß und stark und sooo mutig! Ich bin sooo geschickt! Ich bin sooo erfinderisch! Ich bin sooo klug!“
Als er in der ersten großen Pause Waliso begegnete, klang es ihm immer noch in den Ohren: ‚Ich bin groß und stark und sooo mutig! Ich bin sooo geschickt! Ich bin sooo erfinderisch! Ich bin sooo klug!’ Glücklich und zufrieden mit sich selbst, locker und heiter, sagte er zu Waliso: „Hallo! Sieh mal, ich habe gestern einen Kuchen gebacken! Willst du ein Stück?“
Waliso erschrak. Plötzlich stimmte nichts mehr zusammen! Wutus wirkte wie ausgewechselt: Keine Angst, kein Verstecken, kein Ärger, keine Wut. Waliso wusste wirklich nicht, was er damit anfangen sollte. Verstört sagte er: „Nein, danke! Ich will jetzt nichts von deinem Kuchen!“
Nach diesem Worten drehte er sich um und ging weg.

Und seit diesem Tag ist Wutus nie wieder am Schulhof geschlagen worden. Und seine vielen selbst gebackenen Jausenkuchen hat er mit denen geteilt, die er besonders gern mochte.


© Therie Enn


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Beschreibung des Autors zu "DRACHE WUTUS KOCHT"

Die beste Selbstverteidigung gegen Gemeinheiten und Mobbing ist die Kombination von Können und Selbstbewusstsein. Diese wichtige Erkenntnis (aus langjähriger Tätigkeit als Selbstverteidigungstrainerin) erlebt hier der kleine Drache Wutus, indem er Neues lernt, stolz ist auf seine Fähigkeiten und plötzlich lernt, wie seine Stärke nach außen wirkt und ihn gegen Angriffe schützt.

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