1.
KNÖLLCHEN MISCHWEDEL UND
PUDELIA, GRÄFIN VAN DER HALDE

Die Stimme hörte er an einem heißen Nachmittag in einem heißen Sommer. Es war in dem Moment, als er zum ersten Mal diesen neuen Geruch in der Nase hatte. Einen einzigartigen Geruch. Einen Duftgeruch. Einen Wundergeruch. Einen M…m…m…m…mampfgeruch. Einen …
Knöllchen Mischwedel wurde ganz wirr im Struwelwuschelkopf, und seine Nasenlöcher blähten sich auf, dass er meinte, der Gutduftwundermampfgeruch könnte ihm von den Nasenlöchern durch den Kopf bis in die Winkelschlappohren wandern. Das eine, das linke Ohr hatte es ihm schon aufgeblasen. Dort hinein bellte eine tiefe Stimme, und diese blies ihm das Ohr noch ein weiteres Stück auf, wie einen Sack, dachte er, in den der Wind hineinfährt.
Das war kein Wind, der in das Ohr bellte. Das war ein Sturm!
„Lass das!“, bellte die Brummtantenstimme, und Knöllchen riss erschrocken den ganzen Kopf hoch – nicht nur das Ohr.
Glatt und hellbraun war das Fell, das er sah. Unregelmäßig gefleckt und faltig, und das Gesicht, das sich dicht an das seine heranschob, wirkte ein wenig wie ein dreieckiger Klotz.
„Gift!“, bellte die Stimme aus dem dreieckigen Glattfellgesicht. „Gib die Nase weg, du zerzauste, verlauste, vierbeinige Klobürste!“
Das war eine ganze Menge auf einen Schlag für den verwirrten Knöllchen. Die alte Dame mit vorstehenden kugelrunden braunen Augen und dem dreieckigen hellbraunen Gesicht wollte die Nase einer zerzausten, verlausten, vierbeinigen Klobürste entfernen, und all das nach einem Warnlaut, den Knöllchen noch nie in seinem jungen Leben gehört hatte: Gift! Was war das wohl für ein sonderbares Wort? Und wo um alles in der Welt sollte er die Nase einer zerzausten, verlausten, vierbeinigen Klobürste finden?
„Du da!“, bellte die Dame. „Dich meine ich!“ Und dabei stupste sie mit ihrer festen dunkeln Nase Knöllchen kräftig in die Seite.
„Aua!“, wollte er schon bellen. Aber so schlimm war es dann doch nicht, denn sein grau-schwarz-weißes Struppifell war über seinen Rippen besonders struppig, sodass ihn die harte Nase gar nicht so fest traf. Viel hatte er gehört in den letzten Sekunden, und viele Fragen wären ihm auf der langen Zunge gelegen, zum Beispiel die Frage, wo die vierbeinige Klobürste zu finden wäre. Stattdessen fragte er: „Was ist Gift?“
Das war eine gute Frage fand Knöllchen, denn was seine Nase auf diese himmlische Weise gereizt hatte und nun gerade in die Ferne gerückt war, konnte es nicht sein!
„Das da! Gift!“, brummte die Dame, und dabei stieß sie mit ihrer Pfote genau gegen das Ding, das den Duft verbreitete. „Das hat ein Zweibeinläufer abgelegt. Sie nennen es Wurstbrot“, erklärte sie.
Knöllchen fand, bei ihren letzten Worten war sie ein wenig freundlicher geworden. Vielleicht lag es daran, dass das Duftende, das sie zuerst ‚Gift’ und dann ‚Wurstbrot’ genannt hatte, nun vor ihren eigenen Pfoten lag.
„Und was ist nun ‚Gift’?“, gab Knöllchen keine Ruhe.
„Du lieber Himmel! Du bist ja ein Dummerchen!“, rief die hellbraune Dame. „Was bist denn du für Einer, dass du noch nicht einmal weißt, was Gift ist?“
Schnell antwortete Knöllchen, um nur ja keinen Fehler zu machen, denn ein wenig mulmig wurde ihm inzwischen schon: „Ich bin Knöllchen Mischwedel. Ich bin neu hier.“ Und das Ganze sagte er ganz leise.
Der dreieckige Kopf hob und senkte sich langsam. „Ah ja. Ah so! Der bist du also. Knöllchen Mischwedel.“ Die alte Dame schien auf einmal sehr nachdenklich, als wäre ihr etwas eingefallen und gleich wieder zur Hälfte entfallen und nun musste sie nachdenken, um wieder zusammenzusuchen, was ihr entfallen war. „Der kleine Knöllchen Mischwedel. Ganz allein in dieser Welt!“ Die letzten Worte sprach sie in einem sehr traurigen Ton.
Knöllchen hatte sich inzwischen auf sein Hinterteil gesetzt, denn seine Beinchen waren ein wenig müde. Seine Ohren hatten sich schon wieder aufgestellt, und zwar genau so hoch, dass die Ohrenspitzen wieder nach unten hingen. Und so saß er also mit seinen hübsch abgewinkelten Ohren vor der Dame und streckte ihr neugierig seine schwarze Nase entgegen. „Nein! Nicht ganz allein!“, sagte er plötzlich. „Sie werden alle wieder kommen!“
An dieser Stelle hielt er inne, weil er darüber nachdenken musste, wer wieder kommen sollte. In erster Linie dachte er dabei an Mama. Dann fiel ihm Purzel ein. Das war sein Brüderlein. Und Jolly, seine kleine Schwester. Unter seinem Kopffell kräuselte er die Stirn, weil er nachdachte. Und als ihm beim Nachdenken einfiel, dass Mama wirklich verschwunden war, und Purzel ebenso und Jolly auch, begann allmählich sein Kopf zu schmerzen. Die hellbraune Dame hatte sich inzwischen ganz dicht neben ihn gesetzt. Er fühlte durch sein Struppifell das Glatte, Warme an seiner Seite. Weil er müde war, kippte er fast ein wenig gegen den stämmigen Körper. Sie stützte ihn und rieb ihre Wange an seiner, als sie flüsterte: „Nein, Kleiner. Ich fürchte, sie werden nicht wieder kommen.“
Sie war so traurig, und Knöllchen wusste gar nicht, was er selbst gerade war. Etwas ganz Unsinniges fiel ihm ein, das war das Einzige: Ob eigentlich Hunde weinen können? Wenn es nämlich so wäre, hätte er gerne geweint. Und auf einmal hatte er das Gefühl die alte Dame hätte auch gerne geweint. Sie legte noch ein wenig fester ihre Wange an Knöllchens Gesicht, und brummelte ihm leise ins Ohr: „Ich bin Pudelia. Darfst ‚Tante’ zu mir sagen!“
Da rüttelte es den ganzen Knöllchen, dass seine Haarsträhnen zitterten, überall, über den ganzen Rücken hinunter und auch am Bauch. Erschrocken richtete er sich auf und stotterte: „Du bist Pu…du bist Pu… Pu…Pudelia?“
„Jaaa!“ meinte sie gelassen. „Und was ist daran so erschröcklich, dass du dich darüber zerschütteln musst?“
„Die Gräfin!“, stöhnte er. Wenn ihm schon sonst alles entfallen und nichts eingefallen war, so war ihm wenigstens eingefallen, welche ausgefallene Bekanntschaft er gerade gemacht hatte.
Pudelia, Gräfin van der Halde. Wenn Knöllchen auch sonst kaum etwas wusste, so hatte er doch schon von der Gräfin gehört. Jeder hatte schon von der Gräfin gehört! Man musste Ehrfurcht haben. Man musste ihr gehorchen. Die Gräfin war weise. Die Gräfin war stark. Ehrfurcht, dachte Knöllchen. Und noch einmal ‚Ehrfurcht’. Bei diesem Wort in seinem Kopf kippte er gleich ein bisschen zur Seite. Vielleicht war das Wort in seinem Kopf so schwer. Jedenfalls kippte er. Der ganze Knöllchen kippte zur Seite, und da lag er vor der Gräfin.
„Schon gut! Schon gut!“, sagte die Gräfin. „Du musst dich nicht gleich vor mir auf den Boden legen. Ich will dir nichts Schlechtes. Auch wollte ich nicht grob sein. Meine Aufgabe ist es nur, hier ein bisschen für Ordnung zu sorgen. Und aus diesem Grund muss ich auch den Kindern die wichtigen Dinge lernen.“ Sie schob das Ding, das sie „Wurstbrot“ nannte zwischen ihren Pfoten hin und her, und Knöllchen rappelte sich auf, um besser sehen zu können. „Du musst nicht sehen“, sagte die Gräfin. „Du musst riechen! Mit der Nase! … nff…nff…nff… So!“ Sie hielt die Nase ganz dicht an das Duftende. „Und das hier.. nff…nff… riecht…nff…riecht… nach…nff…Wurst!“ Entspannt wich sie einen Schritt zurück. „Hast du Hunger?“, fragte sie.
Ja. Knöllchen hatte Hunger. Knöllchen hatte immer Hunger.
„Du kannst das haben“, bot die Gräfin großzügig an. „Ich habe es geprüft. Es ist kein Gift.“
Gierig stürzte sich Knöllchen auf das Gutriechende und schlang und schlang und verschlang alles auf einmal.
Die Gräfin legte den Kopf schräg und zwischen ihren Augen kräuselte sich das glatte Fell zu Faltenwellen. „Das ist aber schon fast so giftig wie Gift“, mahnte sie, „wenn man so schlingt, wie du es tust!“
Knöllchen leckte sich den Mund, denn dort an den Haarbüscheln war noch eine ganze Menge von dem Fett haften geblieben. Weil er nicht wusste, was Gift war, wusste er auch nicht was ‚giftig’ war, und darum war ihm das alles egal. Denn das Ding, das der Zweibeinläufer da gelassen hatte, und das man auch ‚Wurstbrot’ nennen konnte, hatte hervorragend geschmeckt, und Knöllchen fand, der Zweibeinläufer könnte gleich noch einmal vorbeikommen und noch ein solches dalassen.
Er leckte noch immer, als er endlich noch einmal seine Frage anbrachte: „Was ist Gift?“
„Davon kannst du umfallen und tot sein. Manche Zweibeinläufer geben es in Wurstbrote.“
Knöllchen hielt den Mund ein Stück offen. Geleckt hatte er schon genug. Jetzt konnte er die Zunge einfach zwischen den Zähnen hängen lassen. So konnte man besonders gut aufpassen, und das sah sicher intelligent aus!
Kurz schloss er den Mund, packte die Zunge wieder hinein und fragte: „Warum machen Zweibeinläufer das?“
„Weil sie Hunde hassen!“, erklärte die Gräfin. „Zweibeinläufer sind Feinde! Hast du verstanden?“
Jetzt war der Mund wieder offen, und Knöllchen sah wieder intelligent aus. ‚Alle?’, dachte er. Mund zu. Schlucken. „Alle?“, fragte er.
Die Gräfin wog den Kopf. Sie schien in ihrem Gedächtnis zu kramen. Sie wühlte darin nach einem Zweibeinläufer, der anders wäre als die Anderen. Und sie grübelte. Und sie suchte. In einem tiefen hinteren Winkel in ihrem dreieckigen hellbraunen Kopf versteckte sich ein guter Geruch, der zu einem freundlichen Gesicht gehörte, zu einem Gesicht, in dem das leitende Auge, das in welches man schauen musste, ein freundliches Auge war. Unsicher, ob sie dem kleinen, dummen Jungen dieses Geheimnis anvertrauen sollte, überlegte sie noch eine Weile. Schließlich sagte sie – zur Sicherheit: „Ja. Alle.“ Sie schnaubte, nachdem sie es gesagt hatte, und fügte an: „Ich werde dir lernen, zu riechen, was du essen kannst und was nicht!“
Das war gut. Einen Geruch hatte er sich aber ohnehin schon eingeprägt. Diesen M…m…m…mampfgeruch, den man ‚Wurstbrot’ nannte.

2.
KNÖLLCHEN MISCHWEDEL UND DER,
DEN SIE ‚RATTE’ NANNTEN

„Meins!“, bellte er.
Dabei zog und zerrte er, vor allem mit den Zähnen, ein kleines bisschen mit den Pfoten. Und das Bellen war ein trotziges Kreischen: „Meeiiiins!“
Die scharfen Zähnchen gruben sich tief in das rote Fleisch. Vier spitze, lange Zähne, zwei oben und zwei unten. Das war nicht Knöllchens Gebiss. Es war der Andere, der sich festgehakt hatte. Der, den sie ‚Ratte’ nannten.
„Natürlich gehört alles uns, was hier auf der Müllhalde landet“, hatte Gräfin Pudelia erklärt. Und natürlich meinte sie damit, sie selbst sei es, die zu entscheiden hätte, wie man all das aufteilen müsste.
„Und wenn ich sage ‚es gehört uns’“, hatte sie erklärt, „so meine ich damit, ‚uns Hunden, die wir hier leben’!“ Über diese Erklärungen hatte Knöllchen ein paar Tage lang nachgedacht.
Es gab nämlich einige Hunde hier. Sie bewegten sich leise und unauffällig. Keiner sprach viel, wenn Pudelia am Gelände war. Knöllchen kann noch niemanden außer Pudelia. Die anderen hatte er noch nie gesehen. Sie waren zwar hier, aber er hatte sie noch nie gesehen. Sobald ihm jemand entgegenkam, wendete er nämlich zur Sicherheit den Kopf zur Seite. Das hatte ihm Pudelia beigebracht: ‚Am besten tust du so, als ob dich nichts und niemand interessierte!’
Das war eine gute Methode: Kopf zur Seite, niemand interessiert sich. Eine Folge davon war, dass ihm auch niemand bedrohlich nahe kam. Eine weitere Folge war, dass Knöllchen keine Ahnung hatte, wer hier auf der Halde lebte. Er konnte ja niemanden erkennen, wenn er immer den Kopf zur Seite drehte.
An diesem Morgen hatte Knöllchen etwas gesehen, auf das man hinsehen musste. Zuerst hatte er es gerochen, danach gesehen, dann besonders genau hingesehen. Es war ein rotes schwabbeliges Ding, und es roch einzigartig – fast wie ein Wurstbrot, aber besser.
Als nun plötzlich dieses Wesen auftauchte, das grau und flink war und seine Zähne in das rote Schwabbelige grub, dachte Knöllchen schnell an alles, was er gelernt hatte: Wenn du willst, dass der Andere einfach umkehrt und dich in Ruhe lässt, so wende den Kopf zur Seite und benimm dich so, als hättest du ihn nicht gesehen! Und wenn du ganz sicher gehen willst, so reiß auch noch den Mund auf, gähne wie wild! Zeige ihm, dass er dich langweilt!
Knöllchen hatte einen ersten Blick auf den Grauen erhascht, drehte sich brav zur Seite und gähnte wie verrückt. Und etwas Sonderbares geschah: Der Kleine, Graue, Flinke dachte nicht daran, sich zu entfernen. Das Gegenteil war der Fall! Er schien geradezu ermutigt, sich wie eine wilde Bestie auf das rote, weiche Ding zu stürzen, das wie ein Wurstbrot roch.
In diesem Moment hatte Knöllchen Mischwedel erkannt, er musste wohl etwas falsch gemacht oder falsch verstanden haben. Gräfin Pudelia log nicht! Fest stand: Mit Wegdrehen und Gähnen ging nun hier in diesem Fall nichts. Er musste dringend seine Haltung ändern. Rasch hatte er sich also gedreht, sich dem Tier zugewendet, mehr aber noch dem Wohlriechenden, in dem schon die vier spitzen Zähne steckten.
So riss nun auch Knöllchen an dem roten Stück und schrie: „Meins!“
Er war schon ein ganzes Stück weit gekommen. Das graue Fellchen hing am anderen Ende des roten Teils und Knöllchen zog und zerrte, und der kleine Körper des gierigen Nagers wurde Meter um Meter mitgeschleift.
Das Ziehen und Zerren hatte ein jähes Ende, als ein vertrautes Geräusch ertönte. Jemand sagte ‚Wuff’. Es war unverkennbar die Stimme der Gräfin Pudelia.
„Lass ihn!“, fauchte sie. „Wo willst du denn die Ratte noch hinschleppen?“
Erschrocken riss Knöllchen den Mund auf – ein intelligenter Gesichtsausdruck. Wirklich dumm sah er aber aus, als er ihn, den Pudelia ‚Die Ratte’ nannte, mit samt dem weichen roten Teil, das so hervorragend nach Wurstbrot roch, durch ein Loch in der Müllhalde entfliehen sah.
„Jetzt hat er es!“, war das einzige, was ihm dazu einfiel – und ein besonders trauriger Blick dazu.
„Hätte dir jemand erlaubt, das Ding zu nehmen?“, fragte Gräfin Pudelia streng.
Knöllchen schwieg betroffen. Natürlich sollte er alles, was er auf der Halde fand, zuerst Pudelia zeigen. Das taten aber die Anderen auch nicht. Jeder nahm und aß, was er fand. Knöllchen begann gerade an Pudelias Vorschriften zu zweifeln. Gräfin Pudelia hatte angeordnet: Alles, was man findet, sofort herzeigen! Und überall auf der Halde sah man Hunde, die einfach nahmen und aßen! Und keiner von denen war dabei gesehen worden, dass er Gräfin Pudelia gefragt hätte. Stimmten am Ende Gräfin Pudelias Gesetze gar nicht?
Jetzt, wo das wohlriechende rote Dinge ohnehin schon verschwunden war, wagte Knöllchen eine Frage: „Warum muss ich eigentlich um Erlaubnis fragen, bevor ich das nehmen darf, was ich finde?“
Nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm ganz übel von diesem fürchterlichen Mut. Er wollte nämlich gar nicht so mutig sein. Er zitterte sogar, weil er so mutig gewesen war. Vor allem wollte er jetzt nicht so mutig gewesen sein, denn Pudelia würde sich gleich auf ihn stürzen, ihn in die Knie zwingen, ihn zu Boden reißen, auf ihm herumtrampeln, ihm das Genick auseinanderbeißen, ihm…
Gräfin Pudelia wollte sich tatsächlich diese Respektlosigkeit nicht gefallen lassen. Es war nämlich eine Respektlosigkeit! Wenn eine alte, weise Dame eine sinnvolle Anordnung traf, so hatte diese befolgt zu werden! Und schon gar nicht durfte ein junger, dummer…
Gräfin Pudelia schritt majestätisch auf den kleinen, in seiner Angst erstarrten Mischwedel zu, fuhr mit ihrem Kopf auf den seinen zu, riss das Maul auf – und zwickte ihn sanft, aber bestimmt ins Ohr!
Es zog, aber es tat nicht weh. Oder nur ein kleines bisschen. Knöllchen hatte ziemliche Angst gehabt. Und jetzt war er eigentlich froh, dass ihm nicht gar das ganze Ohr fehlte.
„Und das nächste Mal, tust du gefälligst, was ich dir sage!“, bellte die Gräfin.
Knöllchen nickte und schwieg. Er setzte sich, wandte den Kopf zur Seite, leicht nach unten geneigt.
„Du willst wissen, warum du gehorchen sollst, und warum die Anderen einfach nehmen, was sie bekommen können?“ Weil Knöllchen so ordentlich saß und sich so demütig verhielt, wollte die Gräfin ihm den Gefallen tun und erklären, was zu erklären war. „Du sollst gehorchen, weil du manches noch nicht weißt. Und die Anderen wissen es schon. Wenn du dich besser auskennst, musst du nicht mehr so viel gehorchen. Ist das klar?“
Knöllchen nickte. Nichts war klar. Man konnte das nicht verstehen. Warum sollte er weniger wissen als die Anderen?
„Und schon gar nicht sollst du dich mit der Ratte einlassen“, fuhr die Gräfin fort.
„Der Graue? Du meinst den Grauen?“, fragte Knöllchen vorsichtig.
„Wir nennen ihn ‚die Ratte’.“
„Und warum nennen wir ihn ‚die Ratte’?“, fragte Knöllchen.
„Weil er eine Ratte ist!“, erklärte die Gräfin.
„Und, ist das schlecht?“, fragte Knöllchen.
Die Gräfin schnaubte verächtlich. Vielleicht weil sie an das Wesen der Ratte dachte. Oder an die Dummheit des jungen Knöllchens.
„Eine Ratte ist eben eine Ratte“, brummte sie. Damit war alles gesagt.
Gut. Dann sollte die Ratte eben eine Ratte sein. Wen kümmerte es? Knöllchen jedenfalls nicht. Was er betrauerte, war sein Nachtmahl. Das war dahingegangen durch die Ritzen der Halde. Dahingegangen mit dem, den sie ‚Ratte’ nannten. Still hoffte Knöllchen, es würde die Gräfin selbst noch so ein schönes Stück Nachtmahl herbeizaubern können. Und sonst noch ein paar Leckerbissen. Und einen guten Schluck klares, reines Wasser.
Und während er träumte und hoffte, bewegte sich etwas – heftig und plötzlich. Eine Erschütterung in den Planken. Ein Scheppern zerriss seine Gedanken. Dicht hinter der Schwanzspitze des kleinen Mischwedels stürzte ein Brett zu Boden. Und noch eines, und ein paar Blechbüchsen. Die verursachten dieses schauderbare Geräusch. Knöllchen sprang auf, klemmte sich den Schwanz sicherheitshalber zwischen die Hinterbeine und ging einige Schritte im Rückwärtsgang, so weit, bis es nicht mehr weiterging. Das Weiche, das ihn bremste und dazu zwang, sich gleich wieder auf das Hinterteil zu setzen, war Gräfin Pudelia. Nun saßen sie hintereinander: Knöllchen Mischwedel zwischen den Händen der Gräfin. Und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, neugierig herrschend.
Inzwischen waren noch ein paar andere Hunde gekommen. Die Geräusche aus dem Trümmerstapel hatten sie angelockt. Keiner wollte übersehen, was hier vorging. Knöllchen konnte nicht richtig deuten, was er hörte. Es waren nicht nur die Geräusche der Bretter und der Dosen. Viel schlimmer noch war das lebende Geräusch! Ein lebendes Geräusch, das fast schon wie tot klang, dachte Knöllchen. Dumm, dachte er gleich darauf. Wie konnte ein lebendes Geräusch fast wie tot klingen? Und was war überhaupt ein lebendes Geräusch?
Da war plötzlich wieder der unglaubliche Duft. Er stach in Knöllchens Nase und schob sich bis zum Magen durch, und der Hunger wurde beinahe unerträglich. Sofort sah Knöllchen, warum es hier auf einmal wieder so gut roch: Zwischen den herabgestürzten Brettern lag am Boden ein schönes Teil von dem wohlriechenden, weichen, roten, das sicher kein Wurstbrot war aber noch viel besser als ein Wurstbrot roch. Das ganze Stück war es nicht, Aber ein Stück von dem ganzen Stück. Ein übrig gelassenes Stück.
Knöllchen schob sein Hinterteil aus Pudelias Umklammerung hoch. Vorsichtig, zentimeterweise. Am besten wäre es, dachte er, sie bemerkte gar nicht, dass er sich vorwärts bewegte. Er aber bemerkte sofort, dass sie es bemerkt hatte. Kaum war er zehn Zentimeter nach vorne gerutscht, trat Pudelia mit aller Kraft auf seinen Schwanz.
„Aua!“, schrie er laut. „Das hat aber wehgetan!“
Sie knurrte gefährlich leise: „Und das ist auch gut so! Sonst lernst du nie was!“ Und zur Bestätigung, dass sie es ernst meinte, kniff sie ihn gleich noch einmal ins Ohr.
Aus diesem Grund hörte er nun das Kreischen und Quietschen gar nicht so richtig. Es dauerte auch nicht lange an. Gleich darauf ging es in ein Röcheln und Schnauben über. Als ob jemand beim Atmen stotterte.
Knöllchen erschrak und riss die Augen entsetzt auf. Zwischen den umgestürzten Balken, sah er den, den sie ‚Ratte’ nannten. Er taumelte und stolperte, dabei gab er grässliche grunzende Laute von sich. Zwischen seinen scharfen, spitzen Zähnen hing ein Stück von dem weichen, roten. Der Rest von dem Teil lag am Boden, ganz knapp vor Knöllchen. Dieses Stück roch noch immer sehr gut. Insgesamt roch es aber plötzlich nicht mehr gut. Und Knöllchen hätte keine Bewegung mehr gewagt. Er spürte das Beben, das von Pudelias Körper ausging. Ein paar Hunde, die sich an den Schauplatz des grausigen Geschehens gesellt hatten, murmelten vor sich hin, aufgewühlt, entsetzt. Manche sagten böse Worte in grimmigem Tonfall. Zum Beispiel: „Das hat er davon, der Gierige! Was muss er auch immer den Hunden etwas wegnehmen!“ Und: „Der gierige Fresssack! Jetzt bekommt er eben seinen Ranzen anders voll!“
Einer brummte leise: „Mir tut er leid!“
Nachdem diese Worte verklungen waren, war auch der, den sie ‚Ratte’ nannten, verstummt. Er hatte gezittert und gezuckt, und nun lag er ganz still. Die kleine Zunge hing ein Stück zwischen den Zähnen durch, und man sah, wie sie schlaff seitlich aus dem Maul rutschte. Genau so blieb die Zunge auch hängen. Und genau so blieb der Graue liegen, als er zu atmen aufgehört hatte.
„Rührt es nicht an!“, befahl Pudelia.
Knöllchen kannte sich nicht sofort aus. Aber bald wurde ihm klar, dass die Gräfin dieses rote Zeugs meinte. Sie erhob sich und schob vorsichtig mit der Pfote, den Rest dieses furchterregenden Essens ganz nahe an den Reglosen heran.
„Warum machst du das?“, fragte Knöllchen.
„Siehst du Kleiner! Das ist Gift! Ich habe dir davon erzählt. Da hast du nun gesehen, was Gift anrichten kann!“
Das war keine Antwort auf seine Frage, dachte Knöllchen. Andererseits war er überzeugt, die Gräfin würde schon noch seine Frage beantworten.
„Aber er war ja nur eine Ratte!“, fuhr die Gräfin fort.
Das tat Knöllchen ein wenig unter dem Brustfell weh. Wenn er den Grauen so daliegen sah, wurde er ziemlich traurig. Es ist eben traurig, wenn sich jemand nicht mehr bewegt.
„Ratten sind für gar nichts nützlich“, ergänzte die Gräfin. „Jemand wird kommen. Zweibeinläufer. Und sie werden ihn entsorgen. Wegwerfen. Darum lege ich den Rest von dem Fleisch zu ihm. Da können sie das auch gleich wegwerfen.“
„Außer“, machte sich Knöllchen wichtig und zeigte, dass er aufgepasst hatte, „außer es kommt einer von den Zweibeinläufern, die dieses Gift selbst hingelegt haben!“
Gräfin Pudelia schwieg betroffen. Was hatte sie denn geglaubt? Natürlich waren die Zweibeinläufer die Bösen! Wie sonst wäre das Gift hierher gekommen? Und sie, die alte, weise Dame, musste sich von diesem Jungwedel so vorführen lassen! Er hatte nämlich völlig Recht, dieser Knöllchen. „Richtig“, sagte sie schließlich. „Wir werden das Fleisch aber trotzdem nicht anrühren, denn es ist gefährlich.“
Knöllchen nickte. „Und was ist ‚Fleisch’?“, fragte er.
„Fleisch. Das da. So ähnlich wie Wurstbrot. Aber eben Fleisch.“
Das war nicht viel, aber man kannte sich aus.
„Und jetzt komm! Wir werden anderswo hingehen. Wenigstens für die nächste Zeit.“
Knöllchen hatte ohnehin keine Wahl. Was sonst sollte er tun, als mit Pudelia zu gehen. Mit jeder Minute wurde ihm klarer, wie viel er noch zu lernen hatte.
Dennoch blieb er einen Moment lang stehen, wenn auch Pudelia schon zum Aufbruch gedrängt hatte. Knöllchen starrte inständig auf den, den sie ‚Ratte’ nannten. Er starrte so anhaltend dorthin, dass seine Augen ganz feucht wurden.
„Was ist? Was hast du?“, fragte Pudelia, weil sie sah, dass er sich nicht aus seiner Starre lösen konnte.
„Es ist… ich weiß nicht… einfach weil…“ Da schwieg er jetzt noch eine Minute. Endlich fiel ihm ein, wie er es sagen wollte: „Ratten sind schon für etwas nützlich!“, erklärte er. „Der da ist jetzt tot, weil er mir das Leben gerettet hat!“
Während sie die Halde verließen, dachte Knöllchen über das nach, was er selbst gesagt hatte. Als sie schon eine halbe Stunde lang gegangen waren, wusste er noch immer nicht, ob das, was er gesagt hatte, gescheit war. Gescheit oder dumm – so war es eben gewesen! Und da konnte nicht einmal die Gräfin etwas dagegen sagen. Selbst wenn sie Ratten überhaupt nicht leiden mochte.


© Therie Enn


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Beschreibung des Autors zu "Knöllchen Mischwedel, der Weltenwanderer (Episodengeschichte)"

Das verwaiste Hundekind Knöllchen Mischwedel erfährt im harten Leben als Straßenhund Vorurteile, Misstrauen und Gewalt kennen. Dies alles hindert ihn nicht, mit kindlicher Unbefangenheit Grenzen zu überwinden und nach Vertrauen und Liebe zu suchen.

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