Es war einmal, vor vielen Jahren, da passierte an einem wunderschönen Sommertag eine seltsame Geschichte.
Es war eigentlich ein Tag wie jeder andere. Nichts deutete auf etwas Ungewöhnliches hin. Die Menschen standen wie gewohnt am Morgen auf, frühstückten und begannen ihr Tagewerk.
Die Väter gingen zur Arbeit, die Kinder zur Schule und die Mütter begannen die Wohnung aufzuräumen. Dann gingen sie auf den Wochenmarkt zum Einkauf für das Mittagessen.Doch plötzlich, niemand wusste hinterher genau wer es zuerst bemerkt hatte, kam eine eigenartige Unruhe auf.
Frau Meier wunderte sich, dass das Baby schrie weil es offensichtlich Hunger hatte. Aber nach ihrer Küchenuhr war es noch gar nicht Zeit für seine Mahlzeit. Frau Meier versuchte erst, das Baby zu beruhigen, doch plötzlich bemerkte sie, dass ihre Küchenuhr stehen geblieben war. So etwas konnte ja mal passieren. Frau Meier fütterte also rasch ihr Baby und dachte sich zunächst nichts Böses.
Aber auch im Laden von Herrn Berger an der Ecke war etwas ungewöhnlich. Herr Berger macht seinen Laden über Mittag immer zu. Vor einer ganzen Weile hatte er auf die Uhr über der Ladentüre gesehen und dachte: Bald ist es soweit, bald kann ich schließen. Ich bin ja gespannt, was es heute zu Mittag gibt. Doch als er wieder auf seine Uhr blickte, war der Zeiger noch kein Stückchen weiter gegangen. Herr Berger wunderte sich, denn es war eine elektrische Uhr. Die kann doch gar nicht stehen bleiben wenn es keinen Stromausfall gibt. Sie war auch bisher immer auf die Sekunde genau.
Zum Glück hatte Herr Berger wie immer auch heute Morgen seine gute alte Taschenuhr eingesteckt. Sie hing an einer schönen silbernen Kette und er trug sie immer in seiner Westentasche. Jetzt holte er sie hervor und wollte sehen, wie spät es wirklich ist. Doch - sonderbar - auch seine Taschenuhr war in derselben Minute stehen geblieben wie die elektrische Uhr. Nun war Herr Berger ziemlich ratlos. Was sollte er denn jetzt tun? Wie konnte er denn nur erfahren wie spät es war?
Da kam ihm ein Gedanke. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Zeitansage. Das ist ja schließlich eine automatische Anlage, die immer die richtige Zeit ansagt - dachte Herr Berger. Doch als die Verbindung hergestellt war, traute er seinen Ohren nicht. Auch die Zeitansage meldete immer fort dieselbe Zeit zu der seine Uhren stehen geblieben waren. Das war rätselhaft. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu! Da ist doch irgendetwas passiert.
Herr Berger schloss jetzt rasch seien Laden und lief aufgeregt zum Marktplatz. Er wollte sehen ob wenigsten die Kirchturmuhr die richtige Zeit anzeigte.
In der Zwischenzeit hatte auch Oma Berger, die Mutter von Herrn Berger, zu Hause bemerkt, dass der lange große Perpendikel ihrer geliebten, alten Standuhr stehen geblieben war. Das kann doch nicht sein, dachte Oma Berger. So viele Jahre hat sie schon zuverlässig die richtige Zeit angezeigt. Ich habe sie doch immer sehr sorgfältig gepflegt und bin stolz darauf, wie zuverlässig sie trotz ihres hohen Alters noch ist. Nun stand Oma Berger ratlos vor ihrer Standuhr. Sie versuchte den Perpendikel wieder vorsichtig an zu schubsen, aber dieser wollte einfach nicht mehr schwingen.
Oma Berger war sehr traurig als sie es bemerkte. Sie liebte ihre Standuhr, die sie von ihren Großeltern geerbt hatte. Wie schade, dass sie nun anscheinend kaputt gegangen ist.
Am anderen Ende der Straße stand eine große Luxusvilla. Sie gehörte einer berühmten Filmschauspielerin. Diese hatte eben von ihrem Dienstmädchen die Koffer packen lassen, denn sie musste nach Amerika fliegen. Dort fand die festliche Uraufführung ihres neuesten Filmes statt. Das war ein wichtiger Termin für sie. Als das Taxi kam, bat sie den Fahrer: „Bringen sie mich so schnell sie können zum Flugplatz. Ich darf mein Flugzeug nicht versäumen.“
Der Taxifahrer fuhr so schnell er konnte.
Doch als die Filmschauspielerin in die Halle des Flughafens kam, war dort eine aufgeregte Menschenmenge versammelt.
Alle hatten ihre Uhren in der Hand. Einige der Reisenden rüttelten und schüttelten ihre Armbanduhren oder Taschenuhren, oder versuchten sie aufzuziehen. Andere diskutierten aufgeregt miteinander. "Was ist denn geschehen?" fragte die Filmschauspielerin erstaunt. Da deuteten die Leute auf die große Uhr am Flughafengebäude und auf alle anderen Uhren und alle waren in ein und derselben Minute stehen geblieben. Jetzt konnte man kein Flugzeug starten lassen, denn man wusste ja nicht wie spät es war und ob es die richtige Abflugzeit sei.
Natürlich waren die Fluggäste darüber sehr aufgeregt, denn jeder hatte etwas vor und wollte seine Termine nicht verpassen. Wenn nicht bald Hilfe kam, würde es ein fürchterliches Durcheinander geben.
Besonders schlimm erging es den Kindern in der Schule. Sie mussten lernen und lernen und lernen. Alle wurden immer zappeliger. ‚Wollte diese Stunde denn überhaupt nicht zu Ende gehen???’ wunderte sich auch der Lehrer. Es musste doch bald die Schulglocke läuten und damit anzeigen, dass der Unterricht für diesen Tag zu Ende war.
Aber der Hausmeister wartete in seiner Hausmeisterwohnung vergeblich darauf, dass die Zeiger seiner Uhr weiter gingen, damit er die Schulglocke läuten konnte. Schließlich stelle auch er fest, dass seine Uhr stehen geblieben war. Nun war guter Rat teuer. Was sollte er tun? Wie konnte er nur erfahren ob der Unterricht schon zu Ende sein musste? Er ging von einem Klassenzimmer zum anderen. Er klopfte leise an und fragte die Lehrer wie spät es auf ihren Taschenuhren oder Armbanduhren sei. Doch es war unfassbar. Alle Uhren waren in der gleichen Minute stehen geblieben. Man beratschlagte eine ganze Weile miteinander. Schließlich schickte man die Kinder nach Hause, denn die Lehrer und der Hausmeister wollten zum Bürgermeister gehen und fragen was denn passiert sei.
Sie mussten über den Marktplatz laufen und kamen am großen Dom vorbei. Da waren bereits hunderte Menschen versammelt. Alle blickten gespannt zur Turmuhr hinauf. Sie zeigte die gleiche Zeit an wie alle anderen Uhren auch. Einige Leute diskutierten aufgeregt miteinander. Doch so sehr sie auch warteten, die Zeiger der Turmuhr rückten kein Bisschen weiter. Es kam auch kein Glockenschlag, der anzeigte, dass eine viertel Stunde Zeit vergangen sei.
Am wenigsten merkte Herr Paulsen von all diesem Trubel. Er war Nachtwächter in einer großen Fabrik. Jeden Vormittag schlief er deshalb. Für mittags 12 Uhr hatte er seinen großen Wecker eingestellt, damit er rechtzeitig zum Mittagessen aufwachte. Doch heute schlief er und schlief und schlief, denn sein Wecker weckte ihn nicht. Auch der war stehen geblieben.
Inzwischen hatte der Stadtrat eine außerordentliche Sitzung im großen Rathaussaal einberufen. Der Bürgermeister und alle Ratsherren waren sehr in Sorge wegen dieses seltsamen Ereignisses. Alle waren ratlos und wussten nicht, was die Ursache dafür sein könnte. Einige meinten, dass die Zeit einfach stehen geblieben sei und es gäbe jetzt keine Zeit mehr. Andere sagten: „Nun hat bestimmt das Jüngste Gericht angefangen.“ Wieder andere vermuteten, es seien Außerirdische von einem fremden Planeten auf der Erde gelandet und hätten mit einem riesigen Magneten alle Uhrzeiger angehalten. Doch keiner konnte mit Bestimmtheit sagen wer oder was die Uhren angehalten hatte.
Plötzlich - während die Sitzung mit lebhafter Debatte in vollem Gange war - ging die Türe auf und ein sonderbarer Mann kam in den Sitzungssaal. Er war ziemlich klein und dünn und schien schon sehr alt zu sein. Er hatte eine lange Hakennase auf der eine riesige, altmodische Nickelbrille saß. Seine Finger waren lang und knochig. Unter seinen linken Arm hatte er ein dickes, altes, schwarzes Buch geklemmt. Auf dem Umschlagdeckel waren verschiedene Uhren abgebildet. Der Titel des Buches lautete: „Verzeichnis aller Uhren der Welt.“
Alle Blicke waren wie gebannt auf den seltsamen Besucher gerichtet. Es war mucksmäuschen still im Rathaussaal, als sich der Mann mit hoher Fistelstimme vorstellte. Dabei wackelte sein weißer, struppiger Vollbart. „Ich bin der größte Uhrengelehrte der Welt. Ambrosius Tacktacktides. Ich kenne alle Uhren auf der ganzen Welt. Die Sonnenuhren, Wasseruhren, Sanduhren, Standuhren, Wanduhren, Turmuhren, Bahnhofsuhren, Taschenuhren, Armbanduhren und so weiter und so weiter. Nur ich allein kenne das Geheimnis, warum jetzt alle Uhren stehen geblieben sind.“
Ein erstauntes Raunen ging durch den Saal und alle drängten den sonderbaren Gelehrten: „Verraten sie uns dieses Geheimnis. Um alles in der Welt, so reden sie doch! Es muss doch schnellstens etwas getan werden, denn sonst gibt es die schlimmsten Verwicklungen. Sie haben doch sicher bemerkt, dass bereits der gesamte Verkehr lahm gelegt ist und alle Menschen nichts anderes mehr tun als ihre Uhren anzustarren.“
„Das ist es ja eben!“ sagte nun ganz aufgeregt der Mann mit der Nickelbrille. „Endlich bemerken die Menschen, dass die Uhren existieren und wichtig sind. Bisher haben zwar alle möglichen Leute Uhren besessen, aber mehr als einen flüchtigen Blick auf das Zifferblatt um die Zeit festzustellen, hatten sie nie übrig. Die Menschen nehmen den treuen Dienst, den die Uhren tagein tagaus leisten, so selbstverständlich hin, dass die überhaupt nicht mehr bemerken wie wichtig die Uhr eigentlich ist. Dagegen wollten sich die Uhren mit dem Uhrenstreik wehren. Nun endlich schenken alle Menschen ihren Uhren Beachtung und sie sollten sich diesen Uhrenstreik eine Lehre sein lassen!
Als der Mann zu Ende gesprochen hatte, herrschte atemlose Stille im Saal. Endlich, nach einer lange Pause ergriff der Bürgermeister das Wort und sagte: „Nun, da wir jetzt wissen, dass wir den Uhrenstreik selber verschuldet haben, müssen wir also etwas tun, um die Uhren wieder zu versöhnen, damit sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Ich schlage vor, dass der Gemeinderat einen Beschluss fasst, nach dem jeder Bürger verpflichtet ist, seine Uhr zu hegen und zu pflegen und ihr damit zu zeigen, dass er den Dienst, den sie stets treu erfüllt, schätzt. Außerdem sollte der Stadtrat ein Belobigungsschreiben für alle Uhren verfassen in dem er den Uhren für ihr treues Tick-Tack dankt. Dieses Schreiben wird in allen öffentlichen Gebäuden ausgehängt, sodass Jedermann erkennen kann, wie pflichtbewusst die Uhren sind.“
Damit war der gesamte Stadtrat einverstanden und nachdem das Protokoll dieser Sitzung verfasst war, begannen ganz plötzlich alle Uhren wieder zu ticken und zu tacken. Das war das verabredete Zeichen, dass auch die Uhren mit dieser Regelung einverstanden waren.
Am glücklichsten war darüber die alte Standuhr von Oma Berger. Sie wollte sich eigentlich nicht an dem Streik beteiligen und hielt ihren Perpendikel nur mit einem tiefen, traurigen Seufzer an. Sie nahm sich jetzt vor, nie wieder stehen zu bleiben.
Seit dieser Zeit hat es nie mehr einen derartigen Uhrenstreik gegeben. Aber, da niemand feststellen konnte, wie lange die Uhren gestreikt haben, weiß eigentlich niemand genau, wie spät es ist.


© Barbara Kohout


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Beschreibung des Autors zu "Der Uhrenstreik"

Eine etwas skurrile Geschichte, in der die Uhren stellvertetend für alle "treuen Diener" stehen, die man wegen ihrer Zuverlässigkeit vielleicht etwas mehr beachten sollte. Nicht alles was gut funktioniert ist einfach nur selbstverständlich.

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