Vor langer Zeit gab es in einem fernen Land einen König und einen Drachen. Letzterer lebte in Frieden mit den Menschen und beschützte sie. Dafür gaben sie ihm auf Geheiß ihres Herrschers bei jedem Vollmond von ihrem Vieh zu fressen. Somit waren alle glücklich und zufrieden.
Als dann der alte König starb und sein Nachfolger den Thron bestieg, begann der Drache, das Vieh von den Weiden der Bauern zu stehlen. Er beschützte die Menschen nicht länger, sondern bedrohte den Frieden des Landes.
Die Menschen konnten sich nicht erklären, warum er plötzlich so verändert war. Bald fürchteten sie ihn, und der König rief alle mutigen Ritter dazu auf, den Drachen zu töten.
Viele edle Ritter kamen auf ihren prächtigen Schlachtrössern an den Hof des Königs. Ihre Rüstungen glänzten in der Sonne ebenso wie ihre Lanzen. Mutig zogen sie zur Höhle des vermeintlichen Untiers, doch keiner von ihnen kehrte je zurück.
Nach und nach wagten es immer weniger. Zu groß war ihre Angst, dem Zorn des Drachen zum Opfer zu fallen. Da versprach der König, wem es gelänge, das Biest zu besiegen, der solle seine Tochter, die schöne Prinzessin Isabell, zur Frau und das halbe Königreich zum Lohn erhalten.
Wieder versuchten es einige Tapfere, doch auch sie wurden nie wieder gesehen.

***

Eines Tages kam ein Wanderer an des Königs Hof. Er hatte kein edles Pferd, auch keine Lanze und schon gar keine Rüstung. Seine Kleidung bestand einzig aus einem ledernen Wams und geflickten Hosen. In der Hand hielt er einen Wanderstab. Eine ausgebeulte Tasche hing über seiner Schulter.
Er hatte vom Versprechen des Königs gehört und dachte, so ein halbes Königreich und noch dazu eine hübsche Prinzessin zur Frau wären schon nicht schlecht. Darum wollte er dem König seine Dienste anbieten und zur Höhle des Drachen wandern.
Als er jedoch vor dem Herrscher und dessen Hofstaat stand und von seinem Vorhaben erzählte, da lachten ihn alle aus.
„Lieber Wanderer“, meinte der König, „nehmt es uns nicht übel. Aber seht, viele Ritter sind mit ihren Waffen und Rössern in den Kampf gezogen und nie zurückgekehrt. Ihr habt nichts als einen Wanderstab. Wie wollt Ihr damit gegen einen Drachen kämpfen?“
„Ihr wollt doch nur, dass er Euer Land in Frieden lässt, oder?“, fragte der junge Mann nach.
Der König nickte.
„Nun, dann lasst es mich auf meine Art versuchen. Was habt Ihr zu verlieren?“
Dem konnte der Herrscher nicht widersprechen. Also ließ er den Wanderer ziehen.
Der junge Mann ging in die Berge, wo sich die Höhle des Drachen befinden sollte. Es war sehr kalt hier oben. Schnee reichte ihm bis zu den Knien, bald schon spürte er seine Hände kaum noch und konnte nur mühsam seinen Wanderstab festhalten.
Endlich erreichte er die Drachenhöhle. Wohlige Wärme strahlte ihm entgegen.
„Hallo!“, rief er.
„Wer wagt es, mich zu stören?“, erklang eine tiefe Stimme aus dem Inneren.
„Ich heiße Olaf und bin ein Wanderer. Hier draußen ist es bitterkalt, aber bei dir brennt ein warmes Feuer. Erlaube mir doch bitte, mich bei dir ein wenig aufzuwärmen.“
Es blieb einen Moment still, dann erschien ein riesiger Kopf in der Höhlenöffnung. Schillernde blaue Augen musterten Olaf skeptisch. Die Schuppen der mächtigen Kreatur glänzten wie Eis. Sie hatte große Nasenlöcher und spitze Zähne, bedrohte den jungen Mann jedoch nicht.
„Gut, komm herein. Aber wenn du dich aufgewärmt hast, dann gehst du wieder.“
Olaf nickte. „Vielen Dank, werter Drache.“
„Ich heiße Rogal.“
„Nun denn, vielen Dank, Rogal.“

In der Mitte der Höhle flackerte munter das Feuer. Aber weiter hinten, wo die Wärme der Flammen nicht hinreichte, erkannte der Wanderer viele viereckige Eisblöcke. Ob der Drache dort wohl Vorräte sammelte?
Das mächtige Geschöpf rollte sich neben dem Feuer zusammen und wartete, bis sich Olaf ebenfalls gesetzt hatte. Der junge Mann nahm aus seiner Umhängetasche einen Laib Brot und ein Stück Käse.
„Du hast doch nichts dagegen?“, fragte er höflich. Der Drache schüttelte den Kopf. „Möchtest du auch etwas davon?“
„Nein, danke. Ich esse lieber Kühe und Schafe.“
„Ah!“ Olaf brach Käse und Brot entzwei und begann zu essen. „Ich habe schon davon gehört, dass du im Dorf nicht gern gesehen bist, weil du das Vieh von den Weiden holst.“
Er beobachtete den blauen Drachen aufmerksam, ob er sich durch diese Worte angegriffen fühlte.
„Was soll ich machen, nachdem sie mich nicht mehr füttern?“, entgegnete dieser traurig.
„Seit wann tun sie das nicht mehr?“, wollte Olaf wissen.
Rogal schien ihm seine Neugier nicht übel zu nehmen. „Seit einigen Jahren.“ Ein tiefer Seufzer entwich dem großen Maul. Niedergeschlagen legte das Tier den Kopf auf seine Pranken. „Sie hassen mich.“
„Na ja“, meinte Olaf, „es ist auch nicht nett, ihr Vieh zu fressen. Kannst du mir sagen, wie das alles anfing? Ich meine, du lebst doch schon sehr lange hier. Und der König ruft erst seit einigen Jahren Ritter zusammen, die gegen dich kämpfen sollen.“
Der Drache blickte ins Feuer. „Einst war ich der Beschützer dieses Königreiches. Die Menschen brachten mir zu jedem Vollmond einen Ochsen oder zwei Schafe. Manchmal auch ein Schwein oder ein paar Gänse. Das genügte mir. Zum Dank beschützte ich sie vor Räubern und feindlichen Rittern. Doch dann starb der alte König und der neue Herrscher verlangte von mir, dass ich ihm meine Schätze übergeben müsse, weil alles in diesem Land ihm gehöre. Als ich ihm kein Gold und keine Edelsteine gab, verbot er den Bauern, mir weiterhin Vieh zu bringen. Er sagte, dass ich böse sei und schuld am Tod des alten Königs. Seitdem schickt er Ritter, die mich töten sollen, damit er sich den Schatz aus meiner Höhle holen kann. Sogar seine Tochter würde er dafür verkaufen. Darüber ist Isabell sehr unglücklich. Ich höre sie jede Nacht weinen. Um sich selbst und auch um mich. Sie kennt die Wahrheit, denn ich habe sie einmal gerettet, als sie bei einem Ausritt am Fuß der Berge in eine Spalte gefallen war. Sie versprach, ihren Vater über seinen Irrtum aufzuklären, doch er sperrte sie ein, damit sie niemandem die Wahrheit sagen kann. Irgendwann wurde mein Hunger so groß und das Wild in den Wäldern so rar, dass ich Vieh von den Weiden der Bauern stehlen musste. Darin sah der König einen weiteren Beweis für meine Bosheit und das Volk glaubte ihm. All die vielen tausend Jahre, die ich Wächter dieses Reiches war, scheinen jetzt vergessen.“ Rogals Augen schimmerten feucht, er schüttelte den Kopf. „Es ist immer dasselbe, die Menschen denken, wir Drachen hätten riesige Schätze. Und die wollen sie haben. Dabei ist der einzige Schatz, über den wir wachen, das Wissen der Welt.“
Auch Olaf wurde jetzt traurig. Was Rogal sagte, war ihm nicht unbekannt. Er war viel herumgekommen. Überall sprach man von bösen Drachen, die über Reichtümer wachten und dafür töteten. Doch schon sehr oft hatte Olaf erlebt, dass diese Geschichten nur Lügen waren und Drachen in Wirklichkeit sehr nette Zeitgenossen, weise noch dazu. Darum war er auch sicher gewesen, dass er Rogal ohne Waffen gegenübertreten könnte und die Menschen im Dorf ihn zu Unrecht verurteilten.
„Sag mal, Rogal, was ist eigentlich aus den Rittern geworden, die der König hierher geschickt hat, um dich zu töten?“
Der Drache drehte seinen Kopf zum hinteren Teil der Höhle, wo die Eisblöcke standen.
„Sie sind alle dort. Sie leben noch und schlafen nur.“
„Im Eis?“
„Aber ja. Ich bin ein Eisdrache. Ich kann Feuer speien, wie jeder unserer Arten. Aber ich kann mit meinem Atem auch Dinge erstarren lassen.“
Olaf war beeindruckt, denn das war ihm neu. Und er war sehr froh, dass Rogal keinen Menschen getötet hatte. Das sprach schließlich für ihn.
„Rogal, ich glaube, ich habe eine Idee. Wenn du mir hilfst, dann werde ich bald König sein und die Prinzessin Isabell heiraten. Dann, das verspreche ich dir, wirst du wieder das Land beschützen.“
„Wirklich?“, fragte Rogal hoffnungsvoll.
„Ja“, bekräftigte Olaf. „Ich möchte sogar, dass du dann nicht länger in der Höhle lebst, sondern im Schloss, damit nie wieder jemand solche Lügen über dich verbreiten kann."
Rogal konnte es kaum fassen. Wie gerne hätte er nahe bei den Menschen gelebt. Dann könnte er sie auch viel besser beschützen. Und wenn sie ihn dann nicht mehr hassen würden, wäre das zu schön, um wahr zu sein.
„Pass auf!“, sagte Olaf, „ich lege dir ein Geschirr an, mit dem ich dich führen kann. Dann gehen wir zusammen hinunter ins Tal. Die Eisbrocken binden wir an deinen Schwanz, damit wir auch die Ritter mit ins Dorf nehmen können. So ist bewiesen, dass du sie nicht getötet hast.“
„Aber ... was ist mit dem König?“
„Der kann nichts tun, solange du niemanden angreifst. Wenn du vor dem ganzen Volk versprichst, das Vieh nicht mehr zu fressen und auch sonst keinen Schaden anzurichten, dann muss der König zu seinem Wort stehen und mir das halbe Königreich schenken und Isabell zur Frau geben, weil ich dich gezähmt habe. Auch sie wird bestätigen können, dass du nicht böse bist. Dem König sagen wir, dass er deinen Schatz haben kann. Dann wird er in die Eishöhle gehen und du kannst diese mit deinem Atem versiegeln.“
Rogal war damit einverstanden. Olaf holte ein Seil aus seiner Tasche, das er dem Drachen um den Hals band, und ein zweites, mit dem sie die Eisblöcke an Rogals Schwanz befestigten. Dann gingen sie hinunter ins Tal. Erst erschraken alle vor dem riesigen, blauen Eisdrachen. Doch als sie sahen, dass der Wanderer ihn an einem Seil führte, kamen sie zögernd näher. Einige besonders Mutige wagten sogar, Rogal anzufassen.
Olaf erklärte, dass die Ritter noch lebten und nur zu Eis erstarrt wären. Auf seinen Befehl spie Rogal einen gezielten Feuerstoß, der das Eis schmelzen ließ, ohne die Ritter oder ihre Rösser zu verletzen. „Ah“ und „Oh“ ertönte in der Menge.
Da kam der König.
„Der Drache muss getötet werden“, rief er schon von weitem. Aber Olaf stellte sich ihm entgegen. „Nein, denn er wird niemandem etwas tun. Er hat auch den Rittern nichts getan, die ihn angegriffen haben. Ihr wolltet nur, dass ich ihn dazu bringe, keinen Ärger mehr zu machen. Nun haltet Euer Wort und gebt mir Isabell und Euer halbes Königreich.“

Unter den Augen des Volkes blieb dem König keine Wahl. Er ließ seine Tochter Isabell holen und noch am selben Tag wurde Hochzeit gehalten. Rogal lag draußen im Hof und ließ sich einen gebratenen Ochsen schmecken, während Olaf drinnen dem König von dem Drachenschatz erzählte.
Noch in derselben Nacht brach der König alleine auf, den Schatz zu holen. Er wollte ihn mit niemandem teilen. Olaf und Rogal folgten ihm heimlich. Als der König in der Höhle verschwand, versiegelte Rogal den Eingang mit Eis. Dem Volk erzählten sie, dass sich der König auf eine Reise begeben hätte. Nur Isabell kannte die Wahrheit, doch sie lächelte und schwieg.
So lebten Olaf und Isabell glücklich bis an ihr Lebensende. Rogal wurde wieder der Wächter des Reiches. Er beschützte das Volk und diente dem jungen Königspaar und allen ihren Nachkommen.
So wird es bleiben: Drachen beschützen mit ihrer Weisheit die Menschen, wenn diese bereit sind, ihnen zuzuhören.


© Tanya Carpenter


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Beschreibung des Autors zu "Der Drache und der Wanderer"

Der Drache und der Wanderer ist ein Märchen, das von wahren Schätzen und falschen Schätzen erzählt. Von der Gier nach Reichtum und davon, dass Wahrheit und Weisheit viel kostbarer sind.

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