Tim und Tom waren schon sehr lange sehr gute Freunde. Und noch viel länger waren ihre Väter mindestens ebenso gute Freunde. Während Tim und Tom nachmittags zusammen im Garten spielten, trafen sich die Väter von Tim und Tom fast jeden Abend zum Schachspielen.

Richtiges Schachspielen ist nicht so einfach. Wie ein Feldherr muss der Schachspieler Strategien und Pläne entwickeln, um das gegnerische Heer nicht nur kampfunfähig zu machen, sondern auch um es vernichtend zu schlagen. Manchmal war die Situation auf dem Schachbrett so verzwickt, dass das Spiel der Väter mehrere Abende dauerte, bevor der Sieger endlich feststand, oder mit einem Unentschieden endete, das nennt man dann Remis.

So war es auch an diesem bestimmten Abend vor dieser ganz besonderen Nacht gewesen. Fast eine Woche lang hatten sich die Väter von Tim und Tom - natürlich in aller Freundschaft - bekämpft bis die Partie schließlich mit einem Remis geendet hatte. Nachdem nach dieser besonders langen Partie die Schachfiguren wieder auf ihre Ausgangspositionen gestellt waren, damit das neue Spiel am kommenden Abend gleich wieder beginnen konnte, verabschiedete sich Toms Vater. Es war wirklich sehr spät geworden. Tims Vater machte das Licht im Wohnzimmer aus und ging ins Bett.

Plötzlich - mitten in der Nacht - war im Wohnzimmer, genauer gesagt aus der Schachecke, ein Wispern zu hören: "He, du, Schwarzer König! Schläfst du schon?" - "Nein, weißer König", antwortete der schwarze König. "Dieser Kampf war so anstrengend und dauerte viel zu lange. Mir tut jede einzelne Faser meine Holzes weh, so dass ich vor Schmerzen nicht schlafen kann." - "Mir geht es genau wie dir. Mir tut auch alles weh. Und nun stehen wir hier schon wieder bereit, damit uns die Herren morgenabend schon wieder kreuz und quer über die Felder jagen können. Ich habe einfach keine Lust mehr", stöhnte der weiße König. "Das kann ich gut verstehen", sagte der schwarze König und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Ich will einfach nicht mehr kämpfen. Nach so vielen Jahren und so vielen Kriegen sollen sie endlich aufhören, uns gegeneinander kämpfen zu lassen. Die Siege sind ausgeglichen. Jetzt sollte doch endlich mal Schluss sein!" - "Ich bin ganz deiner Meinung", rief darauf hin der Weiße König. "Mal muss Schluss sein! Aber wie können wir das schaffen?"

Die Könige riefen ihre Königinnen, ihre Läufer, ihre Springer und sogar die Türme und Bauern zusammen um zu beraten, wie man einen langen Frieden halten könne. Es sah wirklich erstaunlich aus, wie die Schachfiguren einträchtig zusammen standen und sich berieten, ohne sich gegenseitig von den Feldern zu schupsen. Die weiße Dame stand neben dem schwarzen Turm, der schwarze Läufer unterhielt sich mit einem weißen Bauern und die Springer beider Farben steckten ihre Köpfe zusammen und berieten, wie man es anstellen könne, nicht mehr kämpfen zu müssen, zumal es doch viel schöner sei, zusammen über das Schachbrett zu galoppieren.

Nach einer ganz langen Zeit der Beratungen trat schließlich die schwarze Königin hervor und begann, den anderen einen Vorschlag zu unterbreiten: "Meine Lieben, ich denke, der weiße Läufer und ich haben eine Lösung gefunden! Wir sind doch alle aus dem gleichen harten Holz geschnitzt. Unser Schachbrett ist aus einem weicheren angefertigt. Wie wäre es, wenn wir uns auf unsere Plätze begeben, uns ganz doll anstrengen, so dass wir anfangen Wurzeln zu bilden und diese in unsere Stammfelder wachsen lassen. Dann stehen wir so fest, dass uns niemand mehr bewegen kann. Nur wir sollten von nun an bestimmen, wann wir uns bewegen und wann nicht." Alle waren begeistern von diesem Plan, verabschiedeten sich voneinander, begaben sich auf ihre Plätze und begannen Wurzeln zu schlagen. Ganz fest bohrten sich die Wurzeln in das weiche Holz des Spielfeldes, so dass keine Figur mehr bewegt werden konnte.

Am nächsten Abend kam Toms Vater zur verabredeten Zeit zu Tims Vater hinüber, um mit ihm eine neue Partie Schach zu spielen. Sie setzten sich an das Schachbrett in der Schachecke, machten die Stehlampe an, nahmen sich noch jeder ein Glas Selters und ein Stück Schokolade und wollten mit dem Spiel der Spiele beginnen. Doch als Tims Vater mit einem seiner weißen Bauern das Spiel eröffnen wollte, konnte er die Figur nicht bewegen! Toms Vater glaubte, dass ihn sein alter Freund veralbern wollte. Der versicherte ihm aber, dass es kein Scherz sei und die Figur tatsächlich nicht zu bewegen sei. Also probierte Toms Vater, seine Figuren anzuheben. Nichts - wie festgeklebt. Nun untersuchten die Freunde das Brett mit den Figuren genauer. "Unsere Söhne haben uns jedenfalls keinen Streich gespielt. Es ist nirgends Leim oder ein sonstiger Kleber zu entdecken. Die Figuren sind wie angewurzelt. Das ist wirklich äußerst merkwürdig", sagte Tims Vater. "Was machen wir denn jetzt?" Toms Vater konnte nur mit den Schultern zucken. "Dazu fällt mir auch nichts ein. Ich denke, heute Abend nehmen wir unsere Familien und fahren ins Kino. Von dem merkwürdigen Schachbrett erzählen wir besser nichts. Sonst denken nachher alle, wir spinnen!"

Also fuhren beide Familien zur Freude von Tim und Tom zusammen ins Kino. Ein ungewöhnlicher Abend! Nicht nur für die Familien, sondern auch zu Hause auf dem Schachbrett. Denn kaum waren alle Menschen aus dem Haus, stieg im Wohnzimmer hinten links in der Schachecke ein großes Fest! Alle Schachfiguren lösten ihre Wurzeln aus dem Schachbrett, der schwarze König tanzte mit der weißen Dame, der weiße König mit der schwarzen Dame, die Springer galoppierten einträchtig zusammen über die Spielfelder, die Läufer veranstalteten einen Wettlauf von einem Ende des Schachbrettes zum anderen und die schwarzen und weißen Türme passten auf, dass dieses außergewöhnliche Fest von keinem beobachtet werden konnte, und die Bauern bildeten einen Kreis um die tanzenden Königspaare und klatschten im Walzertakt. Als die Familien wieder nach Hause kamen, gaben sie eine Warnung und alle Figuren vom König bis zum Bauern nahmen wieder ihre angestammten Plätze ein, ließen ihre Wurzeln treiben und standen als sei nichts gewesen wieder fest und unbeweglich auf der Stelle.

Tims Vater, der während des gesamten Kinofilms an sein Schachspiel im Wohnzimmer denken musste, ging noch einmal ins Wohnzimmer hinüber zum Schachbrett und versuchte nochmals, die Figuren zu bewegen. Aber genau wie vor einigen Stunden bewegte sich gar nichts - nicht einen Millimeter, nicht einmal einen halben Millimeter. Mit einem Kopfschütteln gab er auf, löschte das Licht, schloss die Tür und begab sich ins Bett. In der Schachecke jedoch war ein leises Lachen zu hören. Die Schachfiguren waren glücklich, nicht mehr kämpfen zu müssen. Und in so mancher Nacht, wenn im Haus alles schläft, sind im Wohnzimmer bis fast in den Morgen hinein leise, fröhliche Stimmchen zu hören.


© Minna vom Sund


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