Schneeflöckchen,Weißröckchen für Opa

Viele Erwachsene haben eine Unart, Kinder gelegentlich vorzuführen, wie plappernde Papageien.
Die Kinder sollen auf Kommando ihre Fertigkeiten demonstrieren.
Leo, fast drei Jahre alt, hat sich da mal geweigert.
Er hatte auch allen Grund, musste er doch ersteinmal die Identität seiner Uroma herausfinden:Ist es die im Nachthemd oder die mit normaler Kleidung?

Meine Mutter ist 88 und stark gehbehindert, aber kopfhell drauf.
Leo und ich besuchen sie in Soest.
Erst will er nicht.“ Morgen zu Oma fahren“.
Aber bewaffnet mit einem riesigen Werkzeugkasten wagt er die Reise mit mir im PKW.
„ Ist Oma Gertrud angezogen?“, fragt Leo unterwegs.

Ich grübele eine zeitlang über den Sinn der Frage, bis mir einfällt, dass Leo meine Mutter vor kurzem in einem Wohnheim im Bett gesehen hat, mit Nachthemd.
„Oma ist immer angezogen, nur neulich im Wohnheim lag sie im Bett. Jetzt ist sie wieder gesund und angezogen“.

„Welche ist Oma Gertrud?“ Ich antworte nicht, weil mir nichts einfällt. Leo fragt auch nicht weiter, Thema für ihn erledigt?

Ich vermute, seine Frage zielte darauf ab, ob die im Nachthemd oder die mit Kleidung die im bekannte Uroma Gertrud ist.

„ Wie heißt die Straße hier?“ – Die Oma, die er kennt, wohnt Franz-Nölken-Weg.
„Wir sind gleich da“.
Eine Freundin meiner Mutter erwartet uns in der Haustüre, vier Treppen über uns,
Leo guckt hoch, erstarrt und bleibt länger stehen.
Ich ahne, was in seinem Köpfchen vorgeht:
“ Das –soll- Oma- Ger-trud - sein?.
„Ach die Ursula ist zu Besuch, hallo Ursula“.

Mit Gesten, die Leo nicht bemerkt, bedeute ich ihr, den Weg freizumachen.Sonst betritt Leo das Haus nicht.

Meine Mutter begrüßt uns vollständig angezogen im Fernsehsessel.
Leo bemustert ihre Kleidung stumm und offenkundig zufrieden, wendet sich dann seinem Werkzeugkasten zu, den er ausführlich präsentiert, Hammer, Schraubendreher, Zange, Sägen in Stoff und Plastik, Schieblehre, Winkelmesser, etc.
Der noch gewöhnungsbedürftigen Umgebung entzieht er sich diskret durch kräftige Hammerschläge auf die mitgebrachte Werkbank, in die er Plastikstifte als Nägel einschlägt.
Fertig, umdrehen, erneut hämmern. Und noch einmal.Und wieder.

Nachträgliche Ostergeschenke nimmt er zum Anlass, genüsslich ein Schokoladen-Ei zu naschen.
Langsam taut Leo verbal auf, bis es aus ihm immer mehr heraussprudelt.
So vergeht mehr als eine Stunde, bis ich sage:“ Wir haben ja noch gar nicht gesungen.“
Leo stutzt erneut, guckt die Freundin, Oma, dann mich an. Keine weitere Reaktion von ihm.
„Was singen wird denn mal?“, insistiere ich.
„Wer will fleißige Handwerker …?
„Oder ein anderes Lied?
Leo leise :... „Handwerker“.
Während ich Textbruchstücke vom „ Handwerker“ dann zweimal hintereinander retardierend anstimme, kommt von Leo allenfalls mal ein Wortfetzen.
Seine Unlust, zu singen, ist mit Händen zu greifen. Also lassen wir das.
Oma serviert noch Apfelstückchen, die Leo kaum anrührt.
Gegen 13.00 wollen wir wieder zuhause sein, also Abmarsch.

Gerade draußen angekommen, Oma s Haustür geschlossen hinter uns, nehme ich Leo s Hand, damit er die vier Treppenstufen hinuntersteigen kann.
Er guckt mich an und singt spontan und allein:
„ Schneeflöckchen, Weißröckchen, wa han kommst du geschneit“.
Ende
Ich verstehe die Botschaft sofort.
Sie lautet sinngemäß:
„ Ich singe wann ich will und für wen ich will, aber nicht auf Kommando und vor fremdem Publikum“.
Unterwegs im Auto nach Hamm singen wir erst „ Handwerker“ und „Schneeflöckchen“, sowie „ Auf unserer Wiese“ und „Ging gang glulle“ *.
Danach hören wir den 2. Satz von Bruch s Violinkonzert und „Bridge Over Troubled Water“, bis Leo einzuschlafen droht.

Zu einer Oma Gertrud, Franz-Nölken-Weg 18 in Soest fahren wir bald wieder hin, wenn sie kein Nachthemd anhat.

Opa Wolfgang 21.4.2013


© Wolfgang Karwatzki


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Beschreibung des Autors zu "Schneeflöckchen, Weißröckchen für Opa"

Anmerkung:

Leo ist mein bislang einziges Enkelkind.
Siehe auch meine Gedichte
- „ Leo- mein erstes Enkelkind"
- „Opa Wolfgang verleumdet Weihnachten“ und
- „Im Kinderwagen“
hier bei Schreiber Netzwerk.


*„Ging gang gulle“
ist ein als Indianertanz verstandenes Lied, das ich als Jugendlicher in einer Campingfreizeit kennengelernt hatte. Zum Gesang haben wir dann indianermäßig im Kreis getanzt.
Es geht so:
Ging gang gulle gulle wotschgang, ging gang go, ging gang go.
Ging gang gullegulle wotschgang, ging gang go, ging gang go.
Hela hela schaba, hela schaba hela ho.
Hela hela schaba, hela schaba hela ho.

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Kommentare zu "Schneeflöckchen, Weißröckchen für Opa"

Re: Schneeflöckchen, Weißröckchen für Opa

Autor: Ricarda u Emaly   Datum: 28.04.2013 12:11 Uhr

Kommentar: Das ist wirklich eine schöne Geschichte, mit einem wahren Hintergedanken, Kinder machen Sachen aus Prinzip nicht, wenn man es von ihnen verlangt :) Das kann ich nur bestätigen.
Es haben sich ein paar Tippfehler eingeschlichen, aber das ist nicht schlimm :) Die Geschichte gefällt mir wirklich gut.
GLG Ricarda

Re: Schneeflöckchen, Weißröckchen für Opa

Autor: Pedda   Datum: 03.05.2013 8:35 Uhr

Kommentar: Hi Wolfgang, wieso sind mir deine Geschichten bisher nicht aufgefallen? Man schaut immer nur unter Gedichte... Das wird sicher mal eine selbstbewusste Persönlichkeit, dieser Leo bzw. er ist schon eine. Sehr gut. Gruß Pedda

Re: Schneeflöckchen, Weißröckchen für Opa

Autor: Hans Finke   Datum: 01.07.2013 13:28 Uhr

Kommentar: Ich musste immer wieder schmunzeln, dachte an unsere drei, die vor vielen Jahren geradeheraus so waren. Zum Glück hatten wir liebe Schwiegereltern, die, erfahren genug, nie eine "dressierte" Vorführung erwartet hätten. Wolfgang, du hast eine, mit feinem Humor unterlegte, Sprache. Auch ich werde jetzt auch mehr die Geschichten lesen; man denkt immer, ach, so lang. Aber sie erzählen mehr über den Verfasser und durch den fehlenden "Reimzwang" sind sie wie die Kür beim Eiskunstlauf. Ob dieser Vergleich hinkt, ist mir wurscht, hab keinen besseren gefunden. Liebe Grüße Hans

Re: Schneeflöckchen, Weißröckchen für Opa

Autor: simon   Datum: 01.07.2013 13:45 Uhr

Kommentar: Hallo Wolfgang, mir ging es wie Pedda, auch mir ist dieser wunderschöne Text bisher nicht aufgefallen; erst durch den Kommentar von Hans bin ich darauf gestoßen...Es ist eine echt kreative Erweiterung, wenn wir hier alle Texte mehr kommentieren und nicht nur mit einem "gefällt mir" quittieren [was ja auch schon schön ist und auch zu kurz kommt]; also, Danke Hans und Dir Wolfgang für das Werk!
LG Simon

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