„Ich soll dir eine Gutenachtgeschichte erzählen?!“ Onkel Klaus kratzt sich am Kinn. Tja, damit hat er nicht gerechnet, als er sich als Baby-Sitter anbot. Er dachte, ein bisschen mit dem Kleinen spielen und dann ab mit ihm ins Bett. Er könnte es sich danach auf dem Sofa gemütlich machen und sich einen Krimi ansehen. Das Kinder-ins-Bett-Bringen sei ja ein Klaks!

Der vierjährige Oliver schaut seinen Onkel erwartungsvoll an. Tante Erika erzählt immer so fantastische Geschichten von Zwergen, die im Berg Gold schürfen und von Pilzen, die sich im Wald bewegen können. Dazu zeigt sie wunderbar farbige Bilder. Weshalb nimmt Onkel Klaus keines der Bücher aus dem Regal?

Onkel Klaus denkt nicht daran, etwas aus einem Bilderbuch zu erzählen. Diese Geschichten kennt er alle nicht. Aber beim Burgenbauen vorhin mit Oliver hat der Kleine von Rittern und Gespenstern erzählt. Wie kommt ein Vierjähriger bloss auf die Idee, dass es Gespenster gäbe?!

„Oliver, hast du schon einmal Gespenster gesehen?“ fragt Onkel Klaus. Eifrig nickt Oliver: „Oh, ja! Die lauern im Schrank hinter den Kleidern!“ Hoppla, mit dieser Antwort hat Onkel Klaus nicht gerechnet. „Hm, was mach ich jetzt?“ fragt er sich. Einfach so tun, als sei dies normal? Und nachfragen, klar. Aber dies muss er nicht, denn Oliver kommt jetzt so richtig in Fahrt: „Immer wenn Mama die Schranktüren aufmacht, dann verstecken sie sich. Normalerweise schwirren sie im Kasten umher. Sie stehlen Strümpfe und Pullover.“ - „Wozu sollten Gespenster Strümpfe und Pullover stehlen?“ wundert sich Onkel Klaus. „Mein Pullover mit dem Feuerwehrauto darauf ist weg! Den haben die Gespenster gestohlen.“ Oliver ist davon überzeugt.

Auch Onkel Klaus kennt diesen Pulli. Das war stets der Lieblingspulli von Oliver. Tante Erika hat ihm den zum zweiten Geburtstag geschenkt. „Oliver, du bist inzwischen zu gross für diesen Pullover. Der passt doch einem so grossen Jungen wie dir nicht mehr. Gewiss hat ihn deine Mutter weggegeben.“ Doch das kann Oliver nicht überzeugen. Er beharrt darauf, dass ihn die Gespenster genommen hätten.

Da muss eine andere Strategie her: Onkel Klaus öffnet kurzentschlossen den Kleiderschrank. Oliver schreit laut auf: „Nein, nicht! In der Nacht kommen sie heraus. Nur bei Tageslicht verstecken sie sich zuhinterst im Kasten! Jetzt kannst du sie nicht mehr hineinscheuchen!“ Nichts hält den Jungen mehr im Zimmer zurück. Er klammert sich an Onkel Klaus und zerrt ihn zur Türe. Nichts wie raus hier!

Onkel Klaus schlägt rasch die Türe hinter sich zu. Im Flur atmet er tief durch. Oliver weint immer noch. Er presst sich an seinen Onkel: „Nein, ins Zimmer gehe ich nicht mehr zurück!“ Zur Beruhigung trinken sie beide eine warme Ovomaltine.

Und nun? Im Zimmer der Eltern findet Onkel Klaus eine warme Decke. Er kuschelt sich zusammen mit Oliver darin auf dem Sofa ein. So haben sie es schon in den lauen Sommernächten draussen auf der Gartenschaukel getan. Oliver erinnert sich gut daran. Damals sah er den Sternenhimmel über sich. Und er träumte vom Fliegen.

Onkel Klaus ist froh, dass das Thema Gespenster vergessen ist und entwirft mit seinem Neffen neue Flugobjekte. Diese schrauben sich höher und höher in den Himmel bis sie dem Auge plötzlich entschwunden sind. Oliver ist einer der Piloten und er besteht kühne Abenteuer.

Das gleichmässige Atmen von Oliver verrät Onkel Klaus, dass der Kleine endlich sanft eingeschlafen ist. Er getraut sich nicht, Oliver zurück ins Zimmer zu tragen. Er hält seinen Neffen immer noch eng im Arm. Er schliesst seine Augen und seufzt leise. Heute muss er wohl auf seinen Krimi-Abend vor dem Fernsehen verzichten. Aber man erlebt ja nicht jeden Abend eine Gespenster-Jagd, oder?


© Pia Koch-Studiger


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