Am Abend vor seinem Geburtstag war der kleine Emil so aufgeregt, dass er nicht einschlafen konnte. Er drehte sich in seinem Bettchen von einer Seite auf die andere, steckte den linken Daumen in den Mund und fasste mit der rechten Hand an sein rechtes Ohr, aber nichts half. Da rief er schließlich laut nach seinem Papa. Der kam auch ganz schnell und setzte sich zu ihm. „Wenn du nicht einschlafen kannst, musst du immer an die Schafhochzeit denken. Das hilft!“ „Schafhochzeit?“ fragte der kleine Emil ganz verwundert. „Ja“, sagte der Papa, „es war ein großes Fest und der Fotograf hatte Riesenprobleme, alle Gäste auf’s Bild zu bekommen.“ Das fand der kleine Emil ziemlich aufregend. „Erzählst du mir von der Schafhochzeit?“ fragte er, schloss die Augen und kuschelte sich an seinen Papa an.
„Gustav und Nele waren zwei Schafe und sie hatten sich schon lange sehr lieb“, begann der Papa. „Eines Tages beschlossen sie zu heiraten. Sie wollten ein großes Fest feiern und luden alle Schafe der Umgebung ein. Und so geschah es auch. Die Wiese, auf der Gustav und Nele lebten, war voller Schafe und überall gab es ein fröhliches „Mäh“. Es war Sommer, das saftige Gras leuchtete und alle waren satt und zufrieden. Bis auf einen, und das war der Fotograf. Er wollte vom Brautpaar und allen Hochzeitsgästen ein Foto machen, aber er hatte keine Idee, wie das gehen sollte. Es waren viel zu viele Schafe auf der Wiese.“
Der kleine Emil seufzte zufrieden. In seinem Kopf wurden die Schafe plötzlich lebendig. Die ganze Wiese war voll von ihnen. Es gab auch einige Lämmer, die wild umher sprangen und immer wieder zu ihrer Mutter zurückkehrten. Und auf einmal sah er Gustav, der ihm zuzwinkerte.
„Auf einmal hatte der Fotograf eine Idee“, erzählte der Papa weiter. „Er überlegte sich, immer nur kleine Gruppen von Schafen zu fotografieren und später die Fotos aneinanderzukleben. Das ergäbe ein schönes großes Foto von allen. Um die Gruppen möglichst gleichmäßig aufzuteilen, begann er die Schafe zu zählen. Er fing mit Gustav und Nele an und machte mit den Schafen in ihrer Nähe weiter. Aber es dauerte nicht lange, bis er den Faden verloren hatte, denn alle Schafe liefen durcheinander, und am Ende wusste er nicht mehr, welches Schaf er schon gezählt hatte und welches nicht.“
In Emils Kopf liefen die Schafe auch durcheinander. Er versuchte ihnen zu folgen, aber es gelang ihm nicht, denn alle Schafe sahen irgendwie gleich aus. Das machte ihn ganz schläfrig und er merkte, wie seine Augen von ganz allein geschlossen blieben.
„Also ging der Fotograf zu Gustav und erzählte ihm von seinem Problem. Sie überlegten hin und her, bis Gustav eine hervorragende Idee hatte. Er machte einmal kräftig „Mäh“ und stapfte los. Die anderen Schafe sahen ihm erstaunt hinterher. Gustav kletterte auf eine Kiste und bat die Hochzeitsgäste mit einem weiteren kräftigen „Mäh“ um Aufmerksamkeit. Er berichtete ihnen von dem Problem des Fotografen und forderte sie auf, sich in einer langen Reihe auf-zustellen, damit der Fotograf sie zählen konnte. Das dauerte eine ganze Weile, aber schließlich standen alle Schafe unruhig blökend hintereinander. Nur die Lämmer liefen noch umher. Um alle Schafe zu zählen, ging der Fotograf an der langen Reihe entlang. „Eins… Zwei… Drei… Vier…“, zählte er, und bei „Einundvierzig“ brachten ihn zwei Lämmer so durcheinander, dass er wieder ganz von vorne beginnen musste. „Eins… Zwei… Drei… Vier…“, zählte er und stapfte an den Schafen entlang. „Einundvierzig… Zweiundvierzig… Dreiundvierzig…“ Es war noch lange kein Ende in Sicht. Die Schafe blökten wild durcheinander und hatten ihre Freude an der kleinen Unterbrechung. „Siebenundsiebzig… Achtundsiebzig… Neunundsiebzig…“
Plötzlich kam es dem kleinen Emil so vor, als sei er selbst der Fotograf. Er betrachtete jedes einzelne Schaf ganz genau und wurde dabei immer schläfriger. Ganz langsam ging er an der langen, langen Reihe von Schafen entlang, bis er schließlich so müde war, dass er sich in das saftig grüne Gras legte und einschlief.
Der Papa lächelte versonnen, zog dem kleinen Emil noch einmal die Decke zurecht und löschte das Licht.


© Ulrich Kusenberg


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Beschreibung des Autors zu "Die Schafhochzeit"

veröffentlicht in: "Geschichten zum Vorlesen - Gutenachtgeschichten", epubli GmbH, Berlin 2012

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Kommentare zu "Die Schafhochzeit"

Re: Die Schafhochzeit

Autor: spelunkis   Datum: 15.12.2013 22:33 Uhr

Kommentar: klasse! nun weiß ich woher das schafe zählen kommt. danke!

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