„Wir vereinen Seele und Körper,
Wir binden die Kraft, die niemals zerreißt.
Mit Feuer und Eis, mit Luft und Erde,
Schützen wir dich, schützen sie.“
Die Landschaft um sie herum hob sich auf keinem Meter von der Erdoberfläche ab. Die weiße mit Schnee bedeckte Ebene erstreckte sich ruhig und gleichmäßig bis zu den Stämmen des kleinen Nadelwaldes, wenige Kilometer von ihrem Grundstück entfernt. Sie hatte den Weg dorthin schon unzählige Male zurückgelegt, jeder noch so kleine Stein wäre ihr aufgefallen. Die Kufen, auf denen sie stand, waren empfindlich, was Unebenheiten anging und hatten sie schon dreimal dazu genötigt, sie weiter zu optimieren.
Was konnte sie bei dem doch recht überschaubaren Budget, welches sie zur Verfügung hatte, als sie hierher kam, auch anderes erwarten? Das war nun etwas mehr als ein Jahr her und immer noch hoffte ihre Familie in Deutschland, sie würde zurückkommen. Auch wenn ihre Zuversicht bei jedem der seltenen Videotelefonate mehr und mehr schwand, da ihnen die Kamera die Fortschritte im Haus, Zwinger und der kleinen Werkstatt deutlich machen konnte.
Sie würde nie wieder zurückgehen, das hatte ab dem Moment festgestanden, als sie das laut Anzeige seit vier Jahren leerstehende Häuschen auf diesem Flecken Nichts in Lappland gesehen hatte. Aus einem kurzen Gedanken war über ein Dreiviertel Jahr hinweg ein Plan geworden, welchen sie mit einer Selbstsicherheit umzusetzen gedachte, welche sie selbst überrascht hatte. So hatte sie ihrer Familie drei Wochen vor dem Start ihres Flugs, von ihrer bevorstehenden Auswanderung erzählt und am selben Tag auch ihren Freunden. Doch es breitete sich zu ihrer Überraschung schnell das Gefühl aus, man habe es geahnt, dass dieser Tag kommen würde.
Ob nun ein Resultat mehrjähriger Enttäuschung und Verletzung durch so manche Menschen in ihrem Leben, oder ihre seit frühester Kindheit in ihr tief verwurzelte Liebe zu den Hunden - wirklich überrascht war niemand gewesen, dass sie sich entschloss mit ihren zwei Huskies und einer für Kälte geborenen Hütehündin dorthin zu gehen, wo niemand sonst zu sein schien. Bis zu jenem Tag als sie Abschied nahm und die drei Boxen mit ihren Tieren dem Flughafenpersonal anvertraute, hatte sie ihre Siberian Nemo und Lou so gut es ihr in den kälteren Gefilden wie Sauerland und Harz möglich gewesen war, auf hohem Niveau trainiert und sich vorgenommen, sie direkt einen Tag nach der Ankunft im neuen Zuhause, vorzuspannen und auf dem für sie ungewohnt weitläufigen Grund laufen zu lassen. Wie erwartet hatten sich die beiden nicht sonderlich irritieren lassen und waren mit gewohnter Ruhe und Konzentration zu ihrer ersten kleinen Tour bis zum Wäldchen gestartet. Ihre Hütehündin fuhr zu Beginn im Schlitten mit, sprang dann jedoch wie so oft den letzten Kilometer vor dem Ziel hinunter, um mit ihrem Rudel gemeinsam anzukommen. Dieses Bild war zum Symbol für Freiheit geworden und hatte sich in einem Foto im hölzernen Rahmen im kleinen Flur verewigt.
Jana schloss kurz die Augen, um die Tränen, welche sie nach wie vor bei diesem Anblick vor den Fenstern übermannten zurückzuhalten, und schlüpfte dann vor der Tür in ihre Stiefel.
„Mia, komm mit!“
Kaum hatte sie ins Haus hinein gerufen, kam die zottelige Hündin auch schon gemächlich aus dem Wohnzimmer am Ende des Flurs gelaufen und folgte Jana ins Freie. Und kaum spürte sie den Schnee unter ihren dicht behaarten Pfoten, schien ihre frühere Energie als Welpe in sie zurück zu fließen. Sie fing an vor sich hin zu brummeln, während sie mit allen vier Beinen gleichzeitig vom Boden abhob und nach den vereinzelt fallenden Schneeflocken schnappte. Jana musste lächeln. Ja, es waren unter anderem diese Momente, in denen sie wusste, das Richtige getan zu haben. Noch nie hatte sich in ihrem Leben etwas so tief beruhigend und vollkommen gut angefühlt. Zum ersten Mal schien ihr Gefühl sie nicht getäuscht zu haben.
Mit dieser Ruhe betrat sie nun das umzäunte Gelände hinter dem Haus und sah sich direkt von mehreren ihrer Schlittenhunde umringt. Jedoch waren es stets ihre drei Malamutes , welche sich die Plätze in nächster Nähe zu ihr sicherten. Ihre drei zuverlässigsten Tiere, wenn es um das direkte Manövrieren des Schlittens ging, hierbei kam ihnen ihr muskulöser Körper zugute.
Es brauchte in der inzwischen eingefahrenen Routine keine fünfzehn Minuten, um den Trainingsschlitten fertig zu machen, die Hauptleine zu verankern und das sechsköpfige Team anzuschieren. Leithündin Layka und Rüde Silver waren zwar aus dem Häuschen und verfielen in ein kurzes Heulkonzert, bewahrten jedoch dann die von Jana so sehr geschätzte Disziplin und ließen sich nicht vom herumspringenden Rest des Teams anstecken. Mia saß bereits auf ihrem Platz im Schlitten und wirkte gelassen, noch hatte sie nichts zu tun - ihren Einsatz würde sie niemals verpassen. Nicht um eine einzige Sekunde.
Jana zog sich den zweiten Handschuh an und umschloss die Querstange vor sich. Im selben Moment wandten ihre Leithunde den Kopf in ihre Richtung, sichtlich bereit zum ersten Befehl.
„Okay, dann wollen wir mal,“ raunte sie sich selbst leise zu. Dann richtete sie den Blick geradeaus: „Zieht an!“
Darauf hatten sie alle gewartet. Von vorne nach hinten liefen sie los. Yuno und Elliot sprangen kurz in ihre Geschirre, ehe sie die Körper mit voller Wucht in Fahrtrichtung stemmten und somit den Schlitten für den Rest des Teams in Gang brachten. Die Zugkraft verteilte sich innerhalb weniger Sekunden auf alle Hunde um und die Leittiere verfielen in leichten Trab. Jana sah aus dem Augenwinkel das rote Haus mit seinem gleichfarbigen Nebengebäude an sich vorbeiziehen, hörte das dumpfe und gleichmäßige Geräusch der aufkommenden Pfoten auf der Schneedecke. Sie erhöhten auf ihr Kommando noch einmal um ein Minimum ihr Tempo, Layka reagierte augenblicklich und Silver folgte der Sechsjährigen auf dem Fuß. Sie waren bereits als eingespieltes Team in Janas Hände übergeben worden, jedoch hatte ihr erster Musher sie nur in zweiter Reihe, als sogenannte swing dogs laufen lassen, welche den Rest des Teams an die Geschwindigkeit des Leittieres anpassten. Sie mussten jedes Kommando ebenso schnell umsetzen wie an der Spitze und es hatte nicht lange gedauert, bis Jana die hohe Auffassungsgabe der beiden Hunde erkannt hatte. Hinzu kam ihre Gelassenheit, welche sie auch im stärksten Trubel und der Aufgeregtheit der anderen Hunde nie ganz verließ.
Die Sechsundzwanzigjährige nahm den rechten Fuß von der Kufe und ließ ihn schleifen, um das Rudel bei der ersten Kurve auf ihrer Strecke zu unterstützen. In wenigen Metern würden sie den Weg vor sich haben, der in den Wald führte - und zwischen diesen Bäumen begann die Zeit, in welcher sich die Präzision zeigte, mit der die Sinne der Tiere arbeiteten.
Doch sie leisteten so vieles mehr… Jeder einzelne Herzschlag der insgesamt zwanzig Hunde, welche sie größtenteils im Rahmen des Tierschutzes zu sich geholt und am Schlitten trainiert hatte, war ein gespendeter Atemzug für sie. Sie hatte da draußen so viele emotionale Schläge von Menschen kassiert, war immer wieder aufgestanden. Der letzte Gedanke daran, sich das Leben zu nehmen, war von einem scheinbar willkürlichen Knurren ihrer ersten Hündin durchbrochen und somit zu ihrem persönlichen Sinnbild für ihre Bindung zum Rudel geworden. Mia sprang in diesem Moment aus dem Schlitten und schloss mit wenigen Sätzen zu Silver auf. Gemeinsam liefen sie zwischen den Bäumen, wobei die Hündin zu Beginn noch einige übermütige Haken schlug.
Jana atmete langsam aus, schloss für einen Moment die Augen, ehe der Wald sich wieder lichtete und sich der Schnee vor ihnen ausbreitete. Mia begann sich freudig zu wälzen, während die anderen noch ein paar Meter dem Befehl ihrer Musherin folgten, ehe sie hielten und abgeleint wurden. Diese Einladung ließ sich keiner ein zweites Mal machen, somit verwandelte sich die Ebene in einen großen Spielplatz.
Jana ließ sich auf den Schlitten fallen und kramte ihre Thermoskanne mit Kaffee hervor. Während ihr Blick untermalt von gelegentlichem Knurren in die Ferne schweifte, musste sie sich wie schon unzählige Male zuvor konzentrieren, um gedanklich nicht vollständig zu verschwinden. Oft fühlte es sich an, als wäre sie in solchen Momenten gar nicht mehr da. Ja, so musste es sich anfühlen, sich aufzulösen. Seit sie hier lebte, war sie öfter als jemals zuvor wirklich glücklich. Weil sie keine Menschen mehr um sich hatte. So absurd ihr der Gedanke vor einigen Jahren auch noch vorgekommen wäre - mit der Zeit hatte alles darauf hingewiesen, dass es irgendwann so sein würde. Sie konnte nicht mehr anders, wenn sie wirklich weiterleben wollte. Und eben das war immer der Moment im Gespräch, wo sich das große Unverständnis des Gegenüber zeigte.
Der Mensch sei doch ein Rudeltier. Nur von welchem Rudel genau die Rede war, wurde nie gesagt.
Huskies waren dann am glücklichsten, wenn sie Artgenossen um sich hatten, waren sie alleine, konnten sie daran zugrunde gehen. Immerhin waren sie nicht vollständig domestiziert und hatten daher noch einen großen Anteil ihres wölfischen Urvaters in sich. Ein Mensch konnte ihnen einen anderen Hund nicht ersetzen. Niemals.
Dieses Gesetz ließ sich für Jana umgekehrt nicht mehr übertragen. Telefonate und Schriftverkehr waren völlig ausreichend und sie hatte auch kein Problem damit, wenn mehrere Tage auch mal absolut nichts davon bei ihr ankam. Seit sie hier lebte, war der einzige Besuch, den sie zwangsläufig ins Haus hatte lassen müssen, die Besatzung der Umzugswagen gewesen. Seit einem Jahr hatte sie sonst niemanden hier bei sich gehabt. Und es würde noch eine ganze Weile so bleiben, dessen war sie sich bewusst. Es war keine klare Entscheidung, es war einfach das, womit sie sich am sichersten fühlte.
Diese Tiere gaben ihr das, was sie in der Vergangenheit bei den meisten Menschen schmerzlich vermisst hatte. Und dazu zählte als erstes Treue.
Ein Liebespaar an was bestimmtes dachte,
er brachte sie heim nachts nach dem Restaurant,
auf der Haustürtreppe sich Lust entfachte,
küssen, streicheln, die Freude nahm überhand.
Ich renne um mein Leben
Dich zu finden nebenan
Für Bryan Adams
Und sein HEAVEN
Das sich ausbreitet
Wie ein Klangteppich
Eine Ballade voller Liebe
Die sich aufbäumt
Und ins Herz [ ... ]
Jeden Tag aufs Neue,
übertreten wir die Schwelle,
des Unbekannten,
des Hoffens,
beginnen zu kämpfen,
wollen bestehen,
es gibt kein Entfliehen,
kein Entrinnen, wie gefangen,
in einer Grube [ ... ]