Das Krankenzimmer lag weit hinten, schon fast am Ende des Ganges, wo an der Rückwand so etwas wie eine Notbeleuchtung brannte. Alle Zimmertüren waren geschlossen, bis auf eine, die man wohl einfach nur vergessen hatte, ordentlich zu schließen.
Hinter dieser spaltbreit offenen Tür lag Amelia Jones, die jetzt ruhig schlief und erst vor wenigen Stunden wegen extremer Angst- und Panikattacken hier in dieses Krankenhaus eingeliefert worden ist.
Es ging ihr wirklich sehr schlecht und deshalb hatte man sie vorsorglich in einem der nkomfortablen Einzelbettzimmer untergebracht. Gut möglich, dass sie vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt sogar in eine psychiatrische Klinik verlegt werden musste, falls sich ihr ernster Zustand nicht alsbald zum Guten hin bessern würde.
***
Mein Name ist Dr. Alexander Hellfried und ich arbeite schon seit vielen Jahren als Stationsarzt im hiesigen Krankenhaus.
Ich schob die spaltbreite Tür behutsam weiter auf und ging wie auf Zehenspitzen leise ins Zimmer. Als Stationsarzt hatte ich meiner jungen Patientin eine starke Beruhigungsspritze gegeben und wollte mich jetzt selbst davon überzeugen, ob es ihr den Umständen entsprechend gut ging. Scheinbar war alles in Ordnung. Von draußen drang allerdings kühle Luft durch das offene Fenster ins Krankenzimmer, was mich dazu bewog, das Fenster zu schließen. Schließlich nahm ich den Stuhl aus der Ecke neben dem Esstisch und stellte ihn direkt ans Krankenbett. Als ich auf dem Stuhl Platz genommen hatte, beobachtete ich die junge Frau ein Weile aufmerksam. Ihr Atem ging ruhig. Sie machte insgesamt einen entspannten Eindruck auf mich.
Sie lag auf dem Rücken. Die diensthabende Stationsschwester hatte die weiße Bettdecke bis zu den Schultern nach oben gezogen. Nur der Kopf und ein Teil des Halses lagen noch frei. Die Stirn war verbunden, der Verbandsstoff leuchtete hell weiß. Die junge Frau sah friedlich wie ein Engel aus, was allerdings wohl nur ein subjektiver Eindruck meinerseits war.
Plötzlich passierte es.
Die ganze Zeit hatte Amelia Jones ruhig in ihrem Bett gelegen. Wie es aussah, war das jetzt ganz plötzlich vorbei, denn ihre Hände zuckten auf einmal wie wild hin und her, als wollten sie etwas abwehren, das sie bedrohte. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich zu einer hässlichen Fratze.
Vielleicht wird sie wach, dachte ich und rutschte mit dem Stuhl ein wenig nach hinten vom Bett zurück, denn die Bewegungen ihrer Hände und Arme wurden jetzt immer heftiger.
Doch dann war von einer Sekunde auf die andere alles wieder vorbei. Ihr Körper entspannte sich und die Patientin schlief ruhig weiter.
Ich betrachtete aufmerksam ihr Gesicht und wartete gespannt darauf, dass es sich möglicherweise wieder verändern würde. Aber da war nichts zu sehen, kein Zeichen irgendwelcher neuerlichen Erregung. Ich sah kein Zucken der Lider oder irgendwelchen Schweiß auf der Stirn. Auch ihre Hände waren mittlerweile ganz zur Ruhe gekommen. Die Augen blieben geschlossen. Nur der Schlaf schien nicht mehr so tief zu sein.
Durch die abrupten Bewegungen ihre Arme und Hände war die Bettdecke etwas nach unten gerutscht. Ich zog sie vorsorglich wieder bis zur Schulter nach oben und streifte sie ein wenig glatt. Dann wendete ich mich von Amelia Jones ab und drehte mich zur Tür um. Ich hatte die Absicht, das Krankenzimmer zu verlassen.
Gerade in dem Augenblick, als ich die Türklinke niederdrücken wollte, geriet sie wieder in Unruhe. Ich ging zurück an ihr Bett. Jetzt zuckten auf einmal nicht nur die Hände, sondern der ganze Körper wurde von ekstatisch anmutenden Bewegungen erfasst. Etwas stimmte jetzt ganz und gar nicht mehr mit ihr.
Ich wartete etwas ab, es blieb mir im Augenblick auch nichts anderes übrig. Ich fragte mich, ob ich meiner Patientin möglicherweise eine weitere Beruhigungsspritze verabreichen sollte, sah aber vorläufig davon ab, weil die Zuckungen nicht heftiger wurden.
Plötzlich schlug Amelia Jones die Augen auf und blickte mich trübe an. Sie musste mich sehen können, deshalb war ich gespannt, wie sie reagieren würde.
Zuerst passierte überhaupt nichts. Dann blickte die Frau im Krankenzimmer herum, bis sich unsere Blicke abermals trafen. Sie bewegte schwach ihre Lippen, als wollte sie etwas sagen.
Im nächsten Augenblick deutete sie mit der rechten Hand auf den fahrbaren Nachttisch hin, wo ein leeres Glas neben einer Wasserflasche stand. Zwar wusste ich nicht genau, was sie sagte, aber ich reagierte trotzdem und griff nach der Flasche. Ich schraubte den Verschluss runter, nahm das Glas in die linke Hand und goss etwas Wasser ein.
"Sie haben Durst, nicht wahr?" sagte ich zu ihr und hielt das Glas Wasser an ihre geöffneten Lippen. Es sah wirklich so aus, dass sie großen Durst hatte, denn sie leerte es bis zum aller letzten Tropfen. Ihre Lebensgeister schienen mit jedem Schluck zurück zu kommen.
Ich stellte das Glas behutsam auf den fahrbaren Nachttisch zurück. Dann blickte ich der jungen Frau in die Augen und fragte sie: "Wie geht es denn meiner Patientin so? Sie haben mir großen Sorgen gemacht, Amelia."
Amelia Jones antwortete nicht sofort. Sie schien nachzudenken und sagte schließlich: "Wie schön, ich lebe noch. Liege ich in einem Krankenhaus?"
"So ist es", antwortete ich ihr.
"Gut. Sie sind wohl der Stationsarzt, wie ich annehme."
"Ja, der bin ich. Ich habe mich die ganze Zeit um sie gekümmert. Sie wurden mit großen Angst- und Panikattacken eingeliefert. Sagen sie mir einfach, was passiert ist. Hatten sie schon öfters solche lebensbedrohlichen Angstzustände?"
"Nein. Jedenfalls nicht so intensiv wie diesmal. Aber ich wurde offenbar von einem irren Mörder verfolgt. Er wollte mich erschießen."
"Haben sie ihn denn sehen können, ich meine diesen Killer, der sie verfolgt hat?"
"Sorry, das weiß ich nicht mehr. Ich konnte eigentlich gar nichts erkennen. Er hat offenbar hinter einer grauen Wand gestanden und von dort auf mich geschossen. Einfach so und ganz plötzlich. Ich bekam fürchterliche Angst, geriet in Panik und schrie mit aller Kraft um Hilfe. Dann spürte ich einen fürchterlichen Schmerz an meiner Stirn und wurde kurz darauf ohnmächtig."
"Ja, der Kerl hat sie erwischt. Aber sie haben verdammtes Glück gehabt. Es war nur ein harmloser Streifschuss, der aber stark blutete. Ein Pasant hat sie gefunden und gleich nach der Polizei und einem Krankenwagen gerufen."
Die Patientin drehte ihren Kopf zur Seite, schloss die Augen und sagte: "Er wird wiederkommen. Ganz bestimmt. Er wird keine Ruhe geben, bis er mich umgebracht hat."
"Vom wem reden sie eigentlich, Miss Jones?" fragte ich sie neugierig.
Ohne mich anzusehen antwortete sie stöhnend: "Ich kann seit einiger Zeit offenbar nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Auf jeden Fall war jemand hinter mir her, etwas Fremdes, etwas, das auf mich schon die ganze Zeit lauert wie ein hungriger Wolf. Ich kann es einfach beim besten Willen nicht erklären. Es ist wie diffuser, grauer Schatten, der mich packen und töten wollte. Seit ich das weiß, bekomme ich Angstzustände und Panikattacken, weil ich mich verfolgt fühle."
"Sie bleiben vorerst in diesem Krankenhaus. Unser Chefarzt, Dr. Murphy, wird sie morgen besuchen kommen und sich mit ihrer seltsamen Geschichte einmal näher befassen, damit wir weitere Maßnahmen gezielt beschließen können. Sie sollten jetzt aber erst einmal in aller Ruhe weiterschlafen. Ich werde ihnen noch eine Beruhigungsspritze verabreichen, falls sie es wünschen, Miss Jones."
"Ja, das wäre mir recht, Herr Doktor. Ich denke, dass ich von selber nicht einschlafen kann." sagte die junge Frau und legte sich einen Augenblick später flach wieder auf den Rücken.
Ich gab der Patientin eine weitere Beruhigungsspritze. Allerdings nur eine abgeschwächte Dosis. Trotzdem würde sie danach gut schlafen können. Ich hatte zwar kein gutes Gewissen dabei, aber als Stationsarzt blieb mir keine andere Wahl. Ich musste die Frau auf jeden Fall unter Kontrolle halten, wenigstens bis zum nächsten Tag, wenn der Chefarzt die Sache übernehmen würde.
Kurz darauf verließ ich das Krankenzimmer und zog die Tür hinter mir behutsam und leise zu.
***
Amelia Jones blieb allein zurück. Das Licht auf ihrem Zimmer reichte mit seiner Stärke gerade mal aus, um auch die Tür zu sehen, die jetzt geschlossen war.
Die Beruhigungsspritze begann zwar langsam zu wirken, aber trotzdem wurde sie nicht schläfrig. Im Gegenteil.
Plötzlich erlebte die junge Frau wieder das Unheimliche, das sich in ihrer Umgebung zusammenzog, von dem sie wusste, dass es ihre Angst- und Panikgefühle erneut anfachen würde, trotz der verabreichten Beruhigungsspritze.
Sie bewegte nur ihre Augen. Sie spürte auf einmal sehr genau, dass etwas in ihrem Zimmer war und auf sie zukam. Aber sie konnte es nicht sehen.
Das war eben das Wahnsinnige, das Unerklärbare und Schreckliche an dieser Situation. Etwas hatte sich von irgendwas gelöst und bewegte sich unablässig auf sie zu. Es gab einfach nichts, das es hätte stoppen können. Seltsamerweise stieg diesmal keine Angst in ihr auf, von der sie sonst immer in solch einer schlimmen Lage heimgesucht worden ist.
Das Unerklärliche erreichte das Bett und nahm sie jetzt gewaltsam in Besitz.
Amelia Jones konnte nichts dagegen tun. Sie konnte die Veränderung nicht beschreiben, die sie dabei erlebte. Sie musste alles über sich ergehen lassen und hatte auf einmal das Gefühl, im Nichts zu liegen. Etwas Fremdes hatte sie gepackt, das über unglaublich magische Kräfte verfügen musste. Die junge Frau lag einfach nur so da in ihrem Bett. Sie wusste instinktiv, dass es nicht gut war, wenn sie sich jetzt bewegen würde. Trotzdem wagte sie es, denn sie wollte sehen und erkennen, was um sie herum vorging.
Die Beruhigungsspritze hatte ihre Wirkung total verloren.
Sie schaute zuerst nach links vorsichtig über den Rand ihres Krankenbettes hinunter zum Boden. Unwillkürlich riss sie den Mund auf. Dann schnappte sie nach Luft. Sie fasste es einfach nicht, was sie da zu Gesicht bekam. Zuerst glaubte sie an einen Irrtum. Der Boden unter ihrem Bett hatte sich entfernt und war tiefer gesunken, und zwar rundherum auf allen Seiten. Er sank immer weiter, bis er nicht mehr zu sehen war und in einem undurchsichtigen Nebel verschwand.
Die junge Frau schwebte plötzlich im Nichts!
Amelia Jones hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Sie kroch zurück vom Rand in die Mitte des Bettes und legte ihren Kopf zurück auf das flache Kissen, weil sie zur Decke hoch schauen wollte, um zu erklären, wo sie sich befand. Sie erschrak abermals. Auch hier war nichts. Ihre weit geöffneten Augen blickten in einen unendlichen Himmel hinein oder in ein Nichts, das kein Ende zu haben schien.
Anstatt jetzt in Angst und Panik zu verfallen, wie sonst immer, wollte es die junge Frau auf einmal genauer wissen, wo sie war. Sie riss sich zusammen und dachte darüber nach, wo sie sich befand. Sie war doch in einem Krankenhaus, was sie genau wusste.
Das Bett stand offenbar noch immer am gleichen Platz, nur die Umgebung hatte sich verändert. Da sie keine Fixpunkte hatte, musste sie davon ausgehen, irgendwo in einer anderen Dimension zu sein. Möglicherweise war alles auch nur eine üble Täuschung, eine Fata Morgana sozusagen.
Abermals schaute Amelia Jones vorsichtig über den Rand des Bettes. Diesmal blickte sie hinüber auf die gegenüber liegende Seite, wo sie die Zimmerwand vermutete, die aber nicht zu sehen war. Sie versuchte mit einer Hand den Boden zu ertasten, griff aber ins Nichts. In diesem Moment erblickte sie einen grauen Schatten, der von der rechten Seite auf sie zukam und sich ihr schnell näherte.
Er kam näher und näher, bis er in seiner ganzen Größe direkt vor ihrem Bett stand. Unheimlich und drohend verharrte er mehre Minuten so und starrte Amelia Jones böse an.
Im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen der jungen Frau vor lauter Entsetzen. Der graue Schatten teilte sich und ein gespreiztes Händepaar fingerte daraus hervor.
Es waren große, hässliche Klauen, die dazu bereit waren, sie zu erwürgen. Sie kamen näher und näher. Amelia Jones hätte sie greifen können, aber ihr ganzer Körper war wie paralysiert. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen. Langsam schwebten die Hände des unsichtbaren Killers über ihren zitternden Leib hinauf zum Hals. Die junge Frau wollte schreien, brachte aber keinen Ton über ihre erstarrten Lippen. In diesem Moment spürte Miss Jones auch schon, wie ihr schlanker Hals erbarmungslos zugedrückt wurde. Röchelnd nach Luft ringend versuchte die Frau noch dem schrecklichen Würgegriff zu entkommen und fing heftig mit ihren Beinen an zu strampeln. Aber es half nichts. Die brutalen Hände würgten sie solange, bis ihr gesamter Körper schlaff in sich zusammensackte und keinen Mucks mehr von sich gab. Ihr Gesicht war jetzt blau angelaufen und zu einer von Angst und Furcht entstellten, hässlich aussehenden Fratze erstarrt. Dann war wieder alles wie zuvor, als hätte es diesen schrecklichen Spuk nie gegeben.
Draußen im Gang war nur Stille. Niemand war zu sehen. Nur ein grauer Schatten huschte auf einmal durch ein geöffnetes Flurfenster des Krankenhauses nach draußen hinaus in die Dunkelheit, wo er zwischen den trübe erleuchteten Gassen irgendwo in der Nacht wie ein Geist verschwand.
***
Viel später.
Nachdem ich das Krankenzimmer von Amelia Jones verlassen hatte, machte ich mir große Vorwürfe. Sie musste sich wohl in der zurück liegenden Nacht irgendwann mit dem Laken an der eisernen Bettkante aufgehängt haben. Ich konnte nur noch ihren Tod feststellen. Es war nicht gut von mir gewesen, dass ich sie allein in ihrem Zimmer zurück gelassen habe. Nun, andererseits war sie ja auch kein kleines Kind mehr, sondern eine erwachsene Person, die ihre Entscheidungen selbst treffen konnte und es in letzter Konsequenz ja auch getan hatte. Niemand kann in einen Menschen hineinschauen, auch ein Arzt nicht.
Eine bekannte Männerstimme riss mich aus meinen grübelnden Gedanken. Es war einer meiner langjährigen Stationsmitarbeiter.
"Herr Doktor, die Leiche von Frau Amelia Jones soll heute noch in die Pathologie. Ist die Todesbescheinigung schon fertig? Die Leute vom Bestattungsinstitut sind bereits unterwegs. Sie werden bald hier sein und warten nicht so gerne."
"Es ist alles fertig bearbeitet. Frau Jones ist eines unnatürlichen Todes gestorben und muss obduziert werden. Sie können die Verstorbene wie besprochen abholen lassen."
Ich wies meinen Stationshelfer kurz ein und machte mich dann auf den Weg in mein Büro. Ich hatte unterwegs plötzlich das seltsame Gefühl, von jemand oder etwas beobachtet zu werden. Ich drehte mich daher ein paar Mal schnell herum und schaute nach hinten, konnte jedoch nichts genaues erkennen. Mir fiel allerdings auf, dass ganz hinten am Ende des Ganges das Fenster weit offen stand und ein eiskalter Wind an mir vorbeizog. Deshalb wies ich eine zufällig vorbei kommende Schwester an, das offene Flurfenster zu schließen und fuhr dann mit dem Aufzug nach oben, wo sich in der letzten Etage das Büro von mir befand.
Aber auch hier hatte ich das komische Gefühl, dass mich jemand oder etwas beobachten würde. Ich riß mich zusammen, zerstreute meine Gedanken und setzte mich an meinen Schreibtisch, schaute aber trotzdem skeptische durchs ganze Zimmer, weil ich dachte, plötzlich einen vorbei huschenden Schatten am Fenster gesehen zu haben.
Nie hing ich mehr in jemandes Bann
Gott! Ich will dich so sehr als meinen Mann
Mich dürstet es nach dir wie verrückt
Schande über mich, doch du bist gut bestückt
Es zieht sich alles zusammen [ ... ]
Morgen soll die Welt stehen bleiben!
Und es gibt nur einen Plan für Dich.
Singe und Tanze. Besuche ein Café.
Kauf Dir ein paar Schuhe. Gehe durch
den Park. Liebe das Licht und die
Stille. [ ... ]