- Mensch, Mensch, Mensch,
krächzte der alte Papagei. Er saß auf seiner Stange, in seiner Ecke des Wohnzimmers. In der Wohnung der alten Frau, die dort mit ihm zusammen lebte. Er schrie nicht mehr so oft wie früher, er war nicht mehr der Jüngste, Papageien leben lange und altern, wie wir Menschen, und sein Federkleid, wie auch er selbst, wirkte müde, war stumpf und kraftlos. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich aufgestellt und die Flügel ausgebreitet und gesprochen und war hin und her getänzelt, wie ein Artist, mit der Leichtigkeit eines Clowns, doch dieser Clown war behäbig geworden, schminkte sich in traurig schweren Nuancen, und schwieg mehr und mehr, ließ seine Mimik für sich sprechen. Seine Fußkette raschelte immer seltener und seine Augen öffnete er, ob der Trübheit seines Blickes, oder aus Gründen mangelnder Kraft nicht mehr vollends. Das Tier schien am Ende seines Lebens angekommen zu sein und wirkte wie ein Relikt aus einer noch nicht vergessenen Zeit, aber einer Zeit, mit der das heutige Leben abgerechnet hatte. Die rustikalen Möbel, der ?Gelsenkirchener Barock?, die Bücher mit Lederrücken und Bilderrahmen, mit Aufnahmen von Kommunion-Kindern, mit roten Augen. Die Vitrine, gefüllt mit ?den guten? Gläsern, die nur zu bestimmten Anlässen heraus geholt wurden, die Schublade, in ihr eine matte, gelblich schimmernde Lupe und mehrere Alben voller Briefmarken. Eine Schere, die nicht fest zusammen geschraubt war, Briefe, Erinnerungen, Zeit. Der Papagei, auf seiner Stange.

In ihm ruhten Gedanken. Er hatte sich im Laufe seines Lebens an Abläufe und Handlungen gewöhnt, hatte sich wiederholende Muster zu erkennen gelernt und war in seiner Welt, mit dem sich ihm bietenden Tagesgeschäft, den Aufgaben, den Rechten und den Pflichten eines Individuums, ein weiser und bedachter Bewohner geworden. Er war gut erzogen. Ein Ärgernis war er nie gewesen. Er spielte mit und spielte gut. War satt und genügsam, folgsam.

- Mensch, Mensch, Mensch,
krächzte der alte Papagei. Ich blicke an ihm vorbei, auf eine riesige Schrankwand, über einen Wohnzimmertisch mit gekachelter Oberfläche hinweg, an den alten Polstermöbeln entlang, hin zu einem Sessel. Mein Blick wird von einem Kissen angezogen, der graugrüne Kordstoff ist ganz dünn geworden, an mehreren Stellen. Es liegt, wie frisch aufgeschlagen, auf der Sitzfläche, der Reißverschluss ist sorgsam hinter der Blendnaht verborgen. Ich gehe hinüber und berühre es, fahre sachte mit der Handfläche meiner rechten Hand darüber. Es ist dunkel im Wohnzimmer, die Vorhänge sind zugezogen und die Jalousien sind hinuntergelassen. Eine Stehlampe neben dem Beistelltisch ist die einzige Lichtquelle. Ich lösche das Licht, für einige Sekunden ist es nun dunkel und ziehe dann die schweren Gardinen beiseite. Lichtpunkte dringen durch die Schwärze, ich ziehe die Jalousien langsam nach oben, das Band brüchig und hart, faserig in meinen Händen, der alte Mechanismus laut und direkt. Es ist zwölf Uhr dreiunddreißig. Meine Uhr hängt locker an meinem Handgelenk, ich werfe einen kurzen Blick auf sie und schaue dann hinunter, aus dem Fenster in den Innenhof. Da gibt es mehrere eiserne Stangen, mit Wäscheleinen verbunden, zwei Jungen, nicht älter als zehn, spielen dazwischen Fußball. Es regnet nicht, aber es ist grau.

Ich schüttle meinen Kopf und ziehe meine Handschuhe aus. Da sind einfach zu viele Gedanken, die ich formulieren möchte, ich bin traurig, dass ich noch keinen Weg gefunden habe. Meine linke Hand berührt die Fensterscheibe, sie ist kalt und es fühlt sich gut an, ich nehme die rechte hinzu, fahre willkürlich unbestimmten Bahnen nach und umfasse dann mit beiden Händen meine Wangen, mein Kinn, mein Gesicht. Ich presse meinen Kopf gegen die Scheibe, die Kälte tut mir gut, augenblicklich geht es mir besser, ich fühle mich getröstet.

- Mensch, Mensch, Mensch,
krächzte der alte Papagei. Ein kühler Windstoß fuhr ihm durch seine Daunen. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht, um aus dem Fenster blicken zu können. Er nickte langsam, auf und ab, es waren keine hektischen Bewegungen. Dies war ihm die liebste Zeit des Tages. Erst hatte er frisches Wasser und Futter bekommen, nun wurde die Wohnung gelüftet. Es war sein Abenteuer. Manchmal sah er etwas, was er noch nie gesehen hatte. Da draußen. Oft passierte gar nichts. Er wusste, dass es jenseits der Wohnung, hinter den Scheiben, mehr gab, aber er hatte keine Vorstellung davon, was und wie und warum dies wohl sein möge. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, er könnte sich erheben und hinaus fliegen, er hatte keinen Begriff von Freiheit, hatte sich an seine Kette gewöhnt, war ein konditionierter Beobachter, ohne Phantasie, ohne den Wunsch, etwas an seinem Dasein zu verändern. Die Fenster gingen im Laufe der Jahre auf und wieder zu. So war es. Der Papagei machte zwei kleine Schritte nach links, zum Fenster hin, und verharrte dort eine Zeit lang ruhig. Dann ging er wieder zurück. Zwei Schritte. Auf der Fensterbank blühte eine Kaktee, auf der Heizung lag Staub. Eine Uhr tickte, eine Sirene heulte auf. Der Papagei trank einen Schluck Wasser, eine lange Schwanzfeder fiel ihm aus, er bemerkte es nicht.

Ein junger Mann, in Uniform, schaut mich an. Ich streife mir meine Handschuhe über. Ich kenne ihn nicht, wir sind uns nie begegnet. Er lächelt, aber in seinen Augen ist noch ein anderer Ausdruck. Er hat Angst davor, etwas zu verlieren, etwas zum letzten Mal zu tun, etwas zu verpassen. Er überspielt es, aber er überspielt es nicht gut. Er ist noch sehr jung, jünger als ich es bin. Ich wende meinen Blick von ihm ab, von seinem Foto und öffne eines der Fenster. Die Luft in diesem Zimmer ist abgestanden, es riecht nicht unangenehm, es muss mehr Sauerstoff hinein. Ich denke an diesen Soldaten, was für Geheimnisse er gehabt haben mag, welchen Weg er gehen wollte und welchen er gezwungen war zu beschreiten. Ich atme tief ein. Ich nehme mir einen weiteren Bilderrahmen von der Vitrine, schaue mir die Aufnahme kurz an und stelle ihn wieder zurück. So viele Menschen, so viele Bilder. Aus meiner Jackentasche ziehe ich eine Flasche Cola Light und trinke einen Schluck daraus. Ich bin genauso wie sie alle und ich bin anders. Ich trinke, ich esse, ich atme, aber ich fühle, ich verlange, ich strebe. Ich bin mir meiner bewusst. Hinter mir krächzt der alte Papagei, ich blicke nicht zu ihm zurück. Ich verlasse den Raum. Ich höre ihn rufen: Mensch, Mensch, Mensch.

Der Papagei hatte zu den Sanitätern hinüber geschaut. Sie trugen die alte Frau auf einer Bahre aus dem Zimmer. Sie hatte lange auf dem Boden gelegen. Er krächzte: ? Mensch, Mensch, Mensch. Sie kamen noch einmal wieder, sie holten eine Tasche, sie öffneten sie, taten etwas hinein, holten etwas heraus. Ein Mensch stellte sich direkt vor ihn und nickte mit dem Kopf. Er öffnete den Mund und imitierte seinen Ruf. Dann waren sie gegangen und er war alleine.

- Heutzutage werden kaum noch Papageien gekauft. Meistens findet man sie in den Wohnungen und Häusern von alten Menschen. Sie werden einfach zu alt, heute lädt sich niemand mehr eine solche Verantwortung auf, heute, wo viele ja nicht mal mehr Kinder haben wollen, was will man da schon mit einem Papagei. Und das Sprechen, das ist doch immer nur schön, wenn der Vogel vorgeführt werden kann und seine Tricks brav aufführt. Ansonsten ist es doch eher lästig. Niemand spricht mit einem Vogel, es gibt doch genug Menschen und genug Telefone. Nein, die Zeit des Papageien als Haustier ist vorbei, darüber sind wir uns hier im Klaren.

In einer Schublade hatte sie etwas Bargeld aufbewahrt, ich hatte es gesehen, als ich ihr das Essen in die Wohnung gebracht hatte. Ich arbeite für einen mobilen Pflegeservice und wir, beziehungsweise ich brachte ihr sieben Tage die Woche ihr warmes Mittagessen. Es gab keine Verwandtschaft in der Nähe, es schien niemanden zu kümmern. Es wurde gezahlt. Das musste genügen. Den Fotos von strahlenden Kindern waren Überweisungen von Erwachsenen gefolgt. Der Mann vom Tierheim, mit dem ich wegen des Papageien telefoniere, macht mir wenig Hoffnung.
- Dieser Papagei wird sterben, es wird nicht mehr lange dauern. Er hat sich an ein Leben, an einen Rhythmus, an eine Struktur gewöhnt. Die gibt es nun aber nicht länger. Das wird er nicht verkraften. Er wird leiden, und an seinem Leid wird er zu Grunde gehen.
Er macht eine kurze Pause, ich höre, wie er sich ein Zigarette anzündet, das Klicken eines Feuerzeugs.
- Selbstverständlich nehmen wir in hier auf, wir sind dazu sogar verpflichtet, aber man muss dazu einen Antrag auf Verzicht der Übernahme des Tieres einreichen, den ein Verwandter der Verstorbenen ausgefüllt hat. Sie wissen schon, Bürokratie, der gesamte Verwaltungsapparat und so weiter?
Ich höre ihm weiter zu, notiere mir Einzelnes und verabschiede mich freundlich. Zuletzt hatte er mich gefragt, ob ich mich nicht um den Papagei kümmern möchte, aber ich hab sofort abgelehnt.

- Mensch, Mensch, Mensch,
krächzte der alte Papagei. Er hatte gesehen, wie die alte Frau die Türe geöffnet hatte und der Mann, der immer das Essen brachte, eintrat. Er hatte gesehen, wie die alte Frau ihm etwas gab und wie der Mann lächelte. Er hatte nicht gehört, was die alte Frau und der Mann gesprochen hatten, er hatte gesehen, dass die alte Frau von dem Mann in den Bauch geschlagen wurde, er hatte gesehen, wie der Mann etwas aus der Schublade nahm. Dann hatte der Mann der alten Frau ein Kissen auf den Kopf gedrückt. Die alte Frau lag auf dem Boden und bewegte sich nicht, ihre Beine lagen verdreht, so dass beide Schuhinnenseiten auf dem Teppich lagen. Und als der Mann dann ging, hatte er die Lippen zusammen geschürt und eine Melodie gepfiffen.

Es sind dreihundert fünfundsiebzig Euro, die ich in der Schublade finde. Plus die fünf, die sie mir zuvor gegeben hatte. Ich wache nachts auf und begreife es einfach nicht. Ich sehe mich das Fenster abwischen, ich sehe mich es schließen, die Vorhänge vorziehen, eine Melodie begleitet diesen Wachtraum. Als ich neulich nicht schlafen konnte, habe ich Fernseher eingeschaltet und mir eine Tierreportage angesehen. Eine Eisbärin nimmt einen gefahrvollen und langen Weg auf sich, um zu einer Insel zu gelangen, wo es noch genügend Futter für sie gibt, um den nächsten Winter zu überleben. Doch sie ist nicht der einzige Eisbär dort. Ein großes, altes Männchen beansprucht die Robben und Seeelefanten für sich und lässt nicht zu, dass sie in seinem Revier jagt. Die Bärin ist tagelang geschwommen und am Ende ihrer Kräfte, doch es kümmert das Männchen überhaupt nicht. Es vertreibt sie jedes Mal, sobald sie einen Versuch auf die Robben startet. Erst als sie sich ihm unterwirft, lässt ihr das Männchen die Reste eines Kadavers übrig und trottet davon.
War es das wert? Ich frage mich das sehr oft. Ich denke oft an den Papagei. Ich hatte überlegt, ihn frei zulassen. Warum geht er mir nicht aus dem Kopf. Ist es, weil er in seinem Verhalten immer menschlicher geworden war? Und wenn ja, frage ich mich, bin ich am Ende animalischer geworden, oder folge ich einem alten, rudimentären Ruf? Meiner und unserer Natur? Überleben des Stärkeren? Oder habe ich bewusst mein Handeln getestet, nicht nach einem Nullpunkt gesucht, aber nach einem, ?, einem Grenzwert? Ich weiß nicht, was mich zu dieser Tat verleitet hat, ich weiß es nicht und werde es wohl auch nicht wissen. Ich habe beschossen, weiter durch die Straßen zu fahren und meine Augen offen zu halten. Nach Anhaltspunkten. Ich werde versuchen, mich mit dem Leben zu arrangieren, mich an diesem stoßen, Reibungspunkte finden, und mich zu friedlicheren Zeiten an seiner Brust laben und zufrieden schmatzen. Ich habe einige Ideen. Also aufgepasst.

- Mensch, Mensch, Mensch,
krächzte der alte Papagei. Er wusste nichts von Untersuchungen und Beweisführungen und auch nichts von Verbrechen. Man konnte ihm nicht erklären, was der Unterschied zwischen Tod an Altersschwäche und Raubmord war. Man konnte ihm auch nicht erklären, was Gerechtigkeit bedeutete. Aber man konnte ihm ansehen, dass er verstand, dass sich etwas verändert hatte und dass ihm diese Veränderung nicht gefiel, dass er unter den neuen Bedingungen litt. Er war kein Mensch, er war zu komplexen Kausalverknüpfungen nicht in der Lage. Aber das Band, welches vor Jahrzehnten zwischen ihm und der alten Frau geknüpft worden war, dieses Band hatte er gefühlt und verlangt und angestrebt. Er hatte eine Form des Glücks kennen gelernt. Traurig saß er auf seiner Stange und

Ich habe vergessen zu erzählen, dass die Eisbärin selbstverständlich gestorben ist.

versteckte seinen Schnabel unter einem Flügel.

Manchmal blicke ich in den Spiegel und wenn ich genau hinschaue, und wenn ich in der richtigen Stimmung bin, dann sehe den Papagei vor mir, wie er traurig den Schnabel unter einem Flügel versteckt. Ich habe das Gefühl, mit ihm fing alles an.
Könnt ihr ihn rufen hören? Jetzt? Was ruft er noch gleich?


© tierwater


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Beschreibung des Autors zu "Ara ist lieb"

Ein Mord, Ein Papagei und all diese Gedanken!




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