Wolfram ist mein Nachbar. Er wohnt eine Etage unter mir. Ein skurriler Typ, etwas kleiner, Halbglatze, sieht ein wenig aus wie ein Mönch, nur weniger gepflegt. Er meint sich um alles im Haus kümmern zu müssen. Eigentlich ganz praktisch, wenn er nicht für jeden Quatsch klingeln würde.
Meistens geht es um Banalitäten, Gertrud aus der vierten Etage hat ihre Blumen um 17 Uhr statt um 18 Uhr gegossen, da gingen die Blumen doch ein, weil die Abendsonne die Blüten verbrennen würde, wenn dort noch Wassertropfen vom Gießen waren.
Ich sollte da aufpassen, aber er wisse ja dass ich da gewissenhafter sei und bereits früh um 7 die Blumen gieße.

Manchmal fand ich es etwas merkwürdig wie genau er über alles Bescheid wusste. Als würde er den lieben langen Tag nichts anderes tun als an seiner Tür stehen und lauschen was gerade draußen passiert. Hin und wieder öffnete er auch seine Tür, wenn man gerade im Treppenhaus daran vorbei geht. Das Gute daran ist, dass ich mich so sehr sicher fühle. Hier bleibt kein Huster unbemerkt. Als ob es so tatsächlich jemand weiter als bis ins Treppenhaus schaffen könnte. Vermutlich würde mich Wolfram sogar vor einem Feuer in meiner Wohnung warnen, bevor der Feuermelder Alarm schlägt.
Manchmal fragte ich mich aber schon, woher er immer alles weiß.

Auch heute klingelte Wolfram wieder an meiner Tür. Er lud mich auf ein Stück Kuchen in seiner Wohnung ein. Ich war noch nie zuvor in seiner Wohnung gewesen.

Der Flur war klein und dunkel, alle Türen zu weiteren Zimmern waren geschlossen. Er öffnete eine der Türen. Eine Wolke aus Zigarettenrauch, Schweiß und Bier kam mir entgegen. Widerwillig betrat ich das Zimmer. Er hatte den Kuchen und eine Tasse Kaffee bereit vorbereitet. Ein Schluck Milch, kein Zucker. So wie ich meinen Kaffee mochte. "Entschuldige mich, ich muss doch noch einmal kurz aufs stille Örtchen", sagte er und verschwand. Als ich nach 5 Minuten noch allein war, beschloss ich mich mal kurz umzusehen.
Das Schlafzimmer war geräumig aber quasi leer. Es gab noch ein zweites Bad und eine weitere Tür,vermutlich das Arbeitszimmer. Ich öffnete die sie und erstarrte. Viele kleine Bildschirme zierten den Raum. Und jeder von Ihnen zeigte meine Wohnung und die der anderen Hausbewohner aus einem anderen Winkel.


© Menschenblind


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