Ralph Ascot zwischen Traum und Wirklichkeit

Ralph Ascot war ein kleiner Mann, fast ein Zwerg – ungefähr ein Meter sechsundfünfzig groß, sechzig Kilo schwer und sein Gesicht wurde von zwei wachen Knopfaugen und einer unförmigen Kartoffelnase beherrscht. Außerdem trank er gerne und war deshalb oft stockbesoffen. Vielleicht lag es genau daran, dass er keine allzu großen Chancen bei den Frauen hatte. Trotzdem träumte er davon, die Frau seines Lebens irgendwann einmal kennen zu lernen. Aber es blieb eben alles doch nur ein Traum. Nun ja, vielleicht.



Ralph Ascot schloss die Augen und schlief ein. Er konnte nichts dagegen tun, denn der Alkohol hatte ihn müde und schläfrig gemacht. Sein Kopf zuckte nervös hin und her. Im Nu hüllte ihn ein unbestimmbarer grauer Nebel ein, der ihn mit wachsender Stärke wie ein tosender Wirbelwind in sich hineinzog und ins Leere riss.



***



Als er seine Augen wieder öffnete, war er immer noch von einem wogenden Nebel umgeben. Tastend und unsicher auf den Beinen wanderte er vorsichtig durch die geheimnisvollen Schwaden.



Plötzlich drangen seltsame Schreie durch die geisterhaften Dämpfe. Von allen Seiten hörte er raue, kehlige Rufe, die nach kurzen Unterbrechungen weiter plärrten. Der kleine Mann blieb horchend stehend. Ein sich ständig wiederholendes Gewisper aus dem Nebel drang zu ihm durch, welches von einem unablässigen Murmel untermalt wurde. Er vernahm Worte, die mal hinterhältig, mal einschmeichelnd und häufig unanständig waren. Dann wiederum hallte aus den hin und her wogenden grauen Schwaden das Geheul wilder Tiere, gefolgt von dem grässlichen Geräusch, als würden sie an den Knochen eines Kadavers herum nagen.



Ralph Ascot ging trotzdem langsam weiter. Er fröstelte im aufwirbelnden Nebel und versuchte mühsam, sich in dieser Waschküche, so gut es ihm irgendwie möglich war, zu orientieren.



Mit einem Schlag teilte sich der Nebel und von einer Sekunde auf die andere stand er am Rande eines großen dampfenden Loches, das mit einer schwarzen, schleimig schäumenden Masse angefüllt war. Er erstarrte zu einer Säule, voller Angst, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Die ekelhaft brodelnde Flüssigkeit schien sich in einem Gärungsprozess zu befinden. An manchen Stellen wallten groteske Formen Körper ähnlich aussehender Extremitäten an die Oberfläche, verweilten dort einen Augenblick und verschwanden wieder, während neue Formen an anderer Stelle auftauchten. Es roch nach Fäulnis.



Eine schwarze Hand formte sich direkt vor ihm aus der pechschwarzen Masse und versuchte ihn zu greifen. Die faule Mischung schien ihn verschlingen zu wollen. Ralph Ascot trat hastig einen Schritt zurück. Die Hand verschwand wieder.



Stinkender Dampf sprudelte dafür jetzt an der gleichen Stelle an die Oberfläche. Riesige Blasen stiegen hoch, auf dessen Oberfläche Bilder zorniger Gesichter glitzerten, die ihn mit böse aussehenden Blicken, aus denen der pure Hass funkelte, finster anblickten. Sie versuchten ihn zu beeinflussen und drängten unablässig in sein Bewusstsein.



Über den zwergenhaften Mann ergoss sich ein Kaleidoskop von Szenen und Lauten, die sich zu den verschiedenartigsten Eindrücken verschmolzen und Bilder des Horrors waren.



Hier wurde einem alten, schreienden Mann ein Bein abgesägt, das danach körperlos unablässig auf ein blutiges Gesicht eintrat. Dort wurden einige Frauen von Soldaten brutal vergewaltigt. Granaten explodierten, Menschen schrien in Todesangst. In einer anderen Szene entriss ein Mann in einer zackig aussehenden Militäruniform einen Säugling aus den schützenden Händen seiner Mutter. Der Soldat schleuderte das schreiende Baby gegen eine verkohlte Mauer, bis es mit zerplatztem Schädel in den rauchenden Trümmern liegen blieb.



Eine Gruppe von Skeletten erhoben sich aus dem wabernden Schlamm und begannen einen Totentanz. Sie versanken wieder darin, als sich ein wütender Mann in ein wolfsähnliches Ungeheuer verwandelte und kleine Kinder verfolgte, die er mit seinen riesigen Pranken erschlug.



Dann tauchte urplötzlich ein abscheulich aussehender, blutverschmierter Altar wie aus dem Nichts in der Mitte der brodelnden Flüssigkeit auf. Eine junge hübsche Frau mit platinblonden Locken lag nackt und in gespreizter Stellung auf einer mit Blut verschmierten Steinplatte. Ein Priester mit rotem Gesicht und kleinen Hörnern auf der Stirn hob gerade einen Dolch, um es seinem gefesselten Opfer ins Herz zu stoßen.



Die nackte Frau wendete abrupt ihren Kopf. Ohne ihre Lippen richtig zu bewegen flehte sie Ralph Ascot an, sie zu retten. Er konnte ihre ängstliche Stimme klar und deutlich vernehmen.



„Hilf mir! Rette mich!



Die Stimme rief abermals nach ihm.



„Rette mich! Spring! Ich kann nicht mehr länger warten. Er wird mich töten. Wenn du mich rettest, gehöre ich dir für alle Zeit.“



Ralph Ascot schwankte am Rande des dampfenden Loches entlang. Die Stimme war betörend eindringlich. Er fühlte, wie sie ihn langsam zu sich in den brodelnden Abgrund zog. Er kämpfte gegen den unwiderstehlichen Drang an, in die dunkle Flüssigkeit zu springen.



Mit dem letzten Rest seiner Willenskraft taumelte er zurück vom Rand des Höllenschlundes, bis er endlich weit genug von der schwarzen Masse entfernt war. Die schrecklichen Bilder in seinem Kopf verblassten daraufhin immer mehr.



Schlagartig war er wieder von dem unheimlichen Nebel umgeben. Ein abgehacktes Gelächter erfüllte die Stille aus, das zu ohrenbetäubender Lautstärke anschwoll.



Jemand stieß Ralph Ascot von hinten an die Schulter. Der wogende Nebel teilte sich und eine fünfköpfige Schlange kroch auf ihn zu, deren Schädel mit weit aufgerissenen Mäulern gierig nach ihm schnappten. Er konnte die Fäulnis, das Gift und das Böse förmlich riechen.



Wieder tauchte dieses entsetzliche schwarze Loch auf, das ihn wie magisch anzog. Die fünf Köpfe der Schlange bewegten sich auf ihn zu und ihre glühenden Augen kamen näher und näher.



Der kleine Mann fühlte sich umzingelt. Aber er war trotz allem zum Kampf entschlossen.



Dann hörte er wieder die Stimme der schönen Frau auf dem Altar, die nach ihm mit flehender Stimme rief: „Hilf mir! Rette mich, Ascot!“



Wieder trieb ihn ein innerer Zwang dazu, sich dem schwarzen Loch zu nähern.



***



„Du musst einen schlimmen Traum gehabt haben, Ascot“, sagte eine sonore Stimme zu ihm, die dem Wirt William Whinfleier gehörte. „Du bist an der Theke eingeschlafen und hast gekeucht und geschnauft wie ein Mann, der von Dämonen verfolgt worden ist.“



„Stimmt, William. Ich habe tatsächlich Dämonen und schlimme Dinge gesehen, die mir eine höllische Angst eingejagt haben.“



Ralph Ascot trank einen Schluck Bier, bevor er weiter redete. Er schilderte dem Wirt seinen seltsamen Traum.



„Ich reiste durch einen geheimnisvollen Nebel und fiel beinahe in ein schwarzes Loch, in dem sich Dämonen, Körperteile, Schlangen und alle möglichen anderen bösen Dinge tummelten. Dann tauchte urplötzlich ein abscheulich aussehender Altar wie aus dem Nichts in der Mitte der brodelnden Flüssigkeit auf. Eine junge hübsche Frau lag nackt und in gespreizter Stellung auf einer blutverschmierten Steinplatte. Ein Priester mit rotem Gesicht und kleinen Hörnern auf der Stirn hob gerade einen Dolch, um es seinem gefesselten Opfer ins Herz zu stoßen. Die Frau flehte mich an, sie zu retten. Ob ich das tat, weiß ich nicht. Ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern.“



„Du verwirrst mich, Ralph“, antwortete der Wirt. „Das ist aber ein seltsamer Zufall. Denn jedes Mal bringst du offenbar etwas anderes aus deinen Träumen mit. Da sitzt eine junge Frau am letzten Tisch hinten in der Wirtsstube, die erst vor ungefähr fünf Minuten, als du noch schliefst, hier reinkam und nach dir gefragt hat. Als ich auf dich deutete, sagte sie mir, dass ich dich nicht wecken soll und sie lieber warten würde, bist du aufwachst. Dann ging sie rüber zum Tisch hinten in der Ecke und hat seit dem kein Wort mehr gesagt.“



Ralph Ascot drehte sich behäbig um und erblickte in der letzten Tischreihe, ganz hinten in der Ecke des Lokals eine junge hübsche Frau mit platinblonden Haaren und roten Lippen, die ihm plötzlich lächelnd zuwinkte. Schließlich erhob sie sich von ihrem Sitzplatz und schritt direkt auf ihn zu. Als sie vor ihm stand, schaute sie Ascot tief in die Augen und sagte: „Hier bin ich Ralph. Du hast um mich gekämpft wie ein Löwe. Ich habe dir dafür etwas versprochen. Ich werde ab jetzt nur noch dir gehören, Liebster.“



Ralph Ascot schaute die junge Frau ungläubig an. Sie schien es tatsächlich Ernst zu meinen. War sie die Frau gewesen, die er im Traum gesehen hat und die ihn so flehentlich um Hilfe bat, um sie zu befreien?“



Als wenn die schöne Frau seine Gedanken lesen konnte, flüsterte sie ihm plötzlich ins Ohr: „Es ist alles so gewesen, wie du es geträumt hast, Ralph. Ich bin es, die auf der blutverschmierten Steinplatte des Altars lag. Zuerst dachte ich, du würdest dich aus Angst davon stehlen, aber am Ende hast du dich überwunden, bist zurückgekommen und großen Mut gezeigt, um mir zu helfen. – Du warst so tapfer. Ich war beeindruckt davon, wie du um mich gekämpft hast. Schließlich hast du den rotgesichtigen Priester mit den kleinen Hörnern besiegt, der mich töten wollte. Jetzt gehöre ich nur noch dir. Ich hab’s versprochen. Ich halte immer mein Wort.“



Die Schönheit, deren Namen Ralph Ascot noch nicht einmal kannte, schmiegte sich jetzt wortlos wie eine Schlange eng an seinen Körper. Er ließ sie willig gewähren und genoss dabei ihre prickelnde Erotik.



Während sie ihren blonden Lockenkopf auf seine Brust legte, sah er zufällig über ihre Schulter. Für einen kurzen Moment dachte er, ein rotes, hämisch grinsendes Gesicht mit kleinen Hörnern auf der Stirn draußen am Fenster des Lokals gesehen zu haben. Auch der Himmel schien ihm viel dunkler geworden zu sein und wabernde Nebelschwaden zogen dort vorbei, wo er meinte, die unheimliche Gestalt gesehen zu haben.



Oder hatte er sich alles nur eingebildet?





ENDE



© Heiwahoe


© Heiwahoe


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