Eine engelhafte Macht, ein verwaltender Engel, mit der Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass ...." alle Dinge zur rechten Zeit passieren".
Das alles ist Eth.

***



Heiß. Es war unerträglich heiß.



Von irgendwo her, aus weiter Ferne, drang eine Stimme an Eths Ohr. Er taumelte wie ein Betrunkener hin und her und hielt sich nur unter Aufbietung all seiner letzten Kräfte auf den Füßen.



Wieder hörte er diese weit entfernte Stimme, die jedoch schnell näher zu kommen schien. Die Worte klangen anfangs undeutlich, ja verzerrt. Doch dann hatte er den Eindruck, dass jemand direkt vor ihm stand und leise mit ihm sprach.



„Du hast deine Arbeit hier beendet. Gehe nun wieder und tue, was dir Neues aufgetragen wird! Reise in eine ferne Welt, die von Krieg, Elend und Tod überzogen wird. Führe zwei Menschen zusammen und lasse die Liebe siegen. Gehe sofort! Der “große Attraktor“ will es so...“, hörte er die flüsternde Stimme noch sagen, bevor sich die Welt um ihn herum zu drehen begann.



Eth konnte nicht mehr. Er versuchte sich mit all seiner verbliebenen Kraft zusammen zu reißen und bekam tatsächlich, wenngleich auch für wenige Sekundenbruchteile nur, immer wieder lichte Momente. Die Umgebung um ihn herum veränderte sich wie in einem Zerrspiegel. Der nahende, körperliche Tod schien unausweichlich zu sein. Immer kraftloser werdend stürzte er schließlich nach vorne und hatte das Gefühl, in ein bodenloses, schwarzes Loch zu fallen.



„So sieht also das Ende dieses Körpers aus, den ich nur vorübergehend bewohnen durfte. Meine Zeit in dieser Welt ist abgelaufen. Ich habe getan, was man mir aufgetragen hatte“, sagte er zu sich selbst mit leiser Stimme und ein Gedanke schoss ihm dabei durch den Kopf, wie es wohl in der kommenden Welt sein würde, auf die seine unsterbliche Seele jetzt unaufhaltsam zuschritt.



Im nächsten Augenblick durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Sein geliehener Körper zuckte schlagartig mehrmals hintereinander zusammen, als würde man ihn mit heftigen Stromstößen traktieren.



Eth verkrampfte sich zu einem Fragezeichen und blieb für mehrere Minuten in dieser Zwangshaltung am Boden liegen, bis schließlich schlagartig alle Wahrnehmungen von ihm wichen. Sein Gehirn schien in diesem Stadium zu implodieren. Das ist das Ende, war sein allerletzter Gedanke. Dunkelheit breitete sich in ihm aus.



Danach endlose Stille.



Nichts als Stille.



***



Als Eth wieder zu sich kam, lag er als deutscher Wehrmachtssoldat gut getarnt im tiefen Gras einer grünen Feldwiese. Eine nahe Explosion hätte fast sein Trommelfeld zerrissen.



„Die Deutschen kommen! Sie werden gleich da sein“, rief jemand aufgeregt vor ihm auf der zerstörten Straße, wo gerade eine explodierende Granate in eine kleine Gruppe verstörter Flüchtlinge eingeschlagen hatte. Der Geruch von verbranntem Fleisch machte sich in seiner Nase breit.



Die fürchterlichen Schreie der Sterbenden gellten zu dem Soldaten herüber.



„Ich bin nicht tot. Ich habe außerdem einen neuen Körper“, stellte Eth ungläubig fest. Seine Stimme klang ihm selbst irgendwie fremd. Er fragte sich auch, wie er hier hin gekommen war. Das Wissen um diesen geheimnisvollen Vorgang, der Raum und Zeit in Sekundenbruchteile überwinden ließ, hätte er gerne vom „großen Attraktor“ selbst erklärt bekommen. Irgendwann würde er sowieso dahinter kommen, sinnierte er nachdenklich verloren vor sich hin. Doch dann riss ihn die Wirklichkeit der neuen Welt schlagartig aus seinen diffusen Vorstellungen.



Vorsichtig schaute Eth jetzt aus der Deckung heraus und nahm die nähere Umgebung genauer in Augenschein. Mittlerweile hatte er sich an seine neue Umwelt angepasst.



„Was ist hier los? Jemand schießt auf wehrlose Menschen“, sagte er mit leiser Stimme zu sich selbst und dachte darüber nach, woher das tödliche Geschoss gekommen war. Fast gleichzeitig schaute er in Richtung einer kleinen Anhöhe, von der deutliche Motorengeräusche zu hören waren.



Oben auf dem Hügel tauchten plötzlich einige olivgrüne Stahlungeheuer mit rasselnden Ketten auf, die nacheinander kurz stehen blieben und dann zügig weiterfuhren. Auf einer flatternden Fahne konnte man ein großes Hakenkreuz erkennen.



Der erste Stahlkoloss drehte seinen Turm mit der drohenden Kanone langsam nach rechts, dann nach links und zielte schließlich damit auf ein nah gelegenes Dorf im Tal.



Die Masse der Flüchtenden, die den Angriff der Panzer überlebt hatten, rannten von der Straße runter über ein offenes Feld zurück ins Dorf, wo sie verzweifelt versuchten, sich in den umliegenden Häusern in Sicherheit zu bringen.



Ganz unvermittelt tauchte neben Eth ein anderer deutscher Soldat im hohen Gras auf.



Er hatte blaue Augen, war sauber rasiert und trug kurze blonde Haare unter seinem schnittigen Stahlhelm, den er lässig nach hinten geschoben hatte.



„Ich bin Uffz. Hans Reinhard, Kamerad. Und wer bist du? Ich kenne dich nicht. Hab’ dich noch nie in unserer Kompanie gesehen. Bist du versprengt worden oder hat man dich uns erst kürzlich zugeteilt? Ach, was soll’s, wir können hier jeden Mann gebrauchen. Du kannst stolz darauf sein, dass wir mit unserer Panzerabteilung endlich die Feuertaufe bekommen haben. Viele sind zum ersten Mal an der Front. Alles junge Männer aus der Heimat, so wie du und ich. Nun, man sieht es ihnen an, dass das hier ihr erster richtiger Kampfeinsatz war“, sagte der Unteroffizier und grinste dabei.



Dann machte er sich schnell davon und folgte den vorrückenden Panzern ins Dorf, die schließlich vor der ersten Häuserreihe anhielten.



Eth nahm verdutzt seinen Karabiner in die Hand, verließ das schützende Hochgras und folgte unauffällig den anderen Infanteristen des deutschen Stoßtrupps, die jetzt langsam vorrückten, um sich schließlich alle hinter den wartenden Panzern zu sammeln.



Als er bei den Soldaten ankam, stand plötzlich wieder dieser Unteroffizier neben ihm.



„Unsere Panzer haben das Dorf zurückerobert. Es ist jetzt feindfrei. Eine hervorragende Leistung. Nur die Flüchtlinge sind noch hier. Sie haben sich in den umliegenden Häusern verkrochen. Um die kümmern wir uns später“, sagte er zu Eth, der den Mann in der deutschen Kampfuniform nur sprachlos mit offenem Mund anschaute.



„Im Augenblick gibt es keine neuen Befehle, Kamerad. Gehen wir ins Dorf und schauen uns mal die Kirche an. Du gehst sicherheitshalber mit und hältst die Augen offen. Also, Marsch, Marsch!“ befahl der Unteroffizier knapp.



„Ach ja, wie ist dein Name noch mal, Soldat?“ fragte der Uffz. unvermittelt und schaute Eth mit seinen harten blauen Augen prüfend ins Gesicht, als suchte er es in seinem Gedächtnis.



„Ich äh, ich heiße Jakob Spengler und...,“ stotterte der angesprochene und wunderte sich darüber, dass ihm so schnell auf Anhieb der neue Name eingefallen war.



„Ist schon gut, Jakob. Du kannst ruhig Hans zu mir sagen. Den Uffz. kannst du dir sparen. Militärisch ist das zwar nicht in Ordnung, aber ich mag nun mal keine Formalitäten. – Also, gehen wir!“



Der Unteroffizier drehte sich lässig um und ging direkt auf die Dorfkirche zu. Eth, alias Jakob Spengler, marschierte zügig hinter ihm her.



Den Karabiner im Anschlag, stieß der Wehrmachtsunteroffizier Reinhard mit einem Fußtritt das jahrhundertealte Portal der schönen Dorfkirche auf, das aus zwei schweren Holzflügeln bestand. Sie drehten sich schwer und quietschend in den Angeln. Beide Männer mussten ein wenig nachhelfen, bis alle Seiten schließlich ganz offen standen.



Dann traten sie ein.



In ihrem Halbdunkel wurden sie in der prächtigen Kirche jedoch nicht von der erwarteten Stille empfangen, sondern sie hörten von überall her ein dumpfes Gemurmel und ein seltsam anmutendes, schweres Atmen, das zu ihnen vordrang.



Ihre Blicke schweiften über die durcheinander liegenden Platten des Mittelganges, der zum Altar führte. Dort sahen sie, in der Mitte des Chores dicht zusammengedrängt, ein kleine Gruppe von Menschen, die sich um eine auf dem Boden liegende, blutverschmierte Person versammelt hatten. Es handelte sich offenbar um die Familie der verletzten Person. Einige von ihnen weinten laut vor sich hin. Es war eine Herz zerreißende Situation.



Als die beiden Soldaten näher kamen, drängelten sie sich durch die kleine Gruppe hindurch und erblickten auf einer schmalen Trage liegend einen ausgestreckten, blutigen Körper. Das Bild versetzte besonders Eth, der sich jetzt Jakob Spengler nannte, in einen tiefen Schock.



Es war ein junges, bildhübsches Mädchen, etwa so um die zwanzig Jahre alt, mit langen, dunklen Haaren. Er konnte nicht erkennen, ob sie tot oder nur verletzt war. Ein Junge kniete neben ihr und tupfte ihr fortwährend mit einem Stofftuch das Blut von der Stirn, das unablässig aus einer tiefen Wunde unterhalb des Haaransatzes quoll.



Der Soldat Spengler stellt plötzlich seinen Karabiner an den Altar, kniete sich vor das junge Mädchen und schaute sich die blutende Kopfwunde an. Die Verletzung sah sehr schlimm aus. Aber er konnte helfen. Das wusste er ganz genau.



„Sie braucht dringend einen Arzt. Sie verblutet sonst, wenn sie nicht sofort ins Krankenhaus kommt“, sagte er mit skeptischem Blick zu seinem Uffz. Hans Reinhard, der sich neben ihn gestellt hatte.



Reinhard trat sofort mit fragendem Blick auf die vermeintlichen Eltern der Verletzten zu. Sie waren der deutschen Sprache mächtig und sagten ihm, dass sie nicht aus dieser Gegend stammten, selbst auf der Flucht seien und in ihrer Not nicht wissen, wie sie ihrer Tochter helfen könnten. Das nächste Krankenhaus läge zehn oder fünfzehn Kilometer von hier entfernt in der nächsten Stadt, die von deutschen Truppen besetzt sei. Aber der Weg dorthin ist zu weit für sie und ihre verletzte Tochter. Sie würde unterwegs sterben.



Eth, alias Jakob Spengler vollzog plötzlich eine seltsam anmutende Handbewegung. Die Leute um ihn herum wurden still und verharrten spontan bewegungslos in ihrer jeweils eingenommenen Körperhaltung.



Dieses unglaubliche Wunder hielt mehrere Sekunden lang an, bis sich jeder der Erstarrten wieder normal weiter bewegte, als sei überhaupt nichts passiert.



Nichts schien sich rein äußerlich verändert zu haben. Und doch hatte sich unauffällig etwas ungewöhnliches getan, etwas, das keiner der Anwesenden bemerken konnte, weil es außerhalb ihrer erfahrbaren Sinne lag.



Eth bzw. Jakob Spengler, hatte die Zeit für einen kurzen Augenblick angehalten, um das Schicksal des Mädchens und das von Hans Reinhard nachhaltig zu beeinflussen. Das war eine seiner Aufgaben gewesen, wozu ihn der „große Attraktor“ hier in diese schreckliche Welt, die voller Zerstörung, Elend, Leid und Tod zu sein schien, hingeschickt hatte.



Doch es gab wieder Hoffnung.



Vom Pfarrhaus nebenan betrat auf einmal ein alter Priester die Kirche. Er hatte einen hölzernen Verbandskasten dabei. Als er das schwer verletzte Mädchen auf der Trage leblos liegen sah, erkannte er sofort, dass nur noch schnelle Hilfe echte Rettung bringen konnte.



„Wer hat das getan?“ fragte er absichtlich die herumstehenden Männer und Frauen.



Der alte Priester musterte Hans Reinhard nur für einen kurzen Moment, der aber alles sagte, bevor er sich dem blutenden Mädchen zuwandte.



Es gibt Momente im Leben, die kann man nicht messen. Der junge Unteroffizier blickt den alten Priester verlegen an und wusste sofort, wer als Schuldiger infrage kam.



ER, der Unteroffizier Hans Reinhard, der den Befehl dazu gegeben hatte, auf das Dorf und seine Bewohner zu schießen. Dabei schlug eine Panzergranate mitten in eine Gruppe flüchtender Menschen ein. Das junge Mädchen wurde von einem Granatsplitter an der Stirn getroffen und blieb bewusstlos liegen.



Man schaffte sie sofort auf einer provisorisch zusammengebauten Trage zurück in die Dorfkirche, weil man glaubte, wenigstens hier könne sie in Ruhe sterben. Draußen fielen hin und wieder nämlich immer noch Schüsse. Nur ein himmlisches Wunder konnte sie jetzt noch retten, dachten sich die Menschen in ihrer grenzenlosen Verzweifelung.



Als Uffz. Reinhard zu dem leichenblassen Mädchen herunterschaute, kam er sich wie ein Schüler vor, der sich gegen die Ungerechtigkeit seiner Menschen verachtenden Lehrers auflehnte. Eine seltsame Veränderung ging plötzlich in ihm vor, die er sich nicht auf Anhieb erklären konnte. Er ging nach draußen vor die Dorfkirche und wollte laut zu schreien anfangen.



Der Priester hatte recht. Natürlich war es seine Schuld gewesen, denn er hatte ja den klaren Befehl zum Dauerbeschuss des Dorfes und der angrenzenden Umgebung gegeben. Der Auftrag dazu war zwar ein militärischer gewesen, aber nichtsdestotrotz dieser Tatsache stand fest, dass er am Ende der Befehlskette gestanden hatte, und nur er hätte die flüchtenden Dorfbewohner verschonen können.



Es war sein menschliches Versagen. Der eigene militärische Sieg war ihm wichtiger gewesen, als das Leben unschuldiger Zivilisten.



Schuldgefühle stiegen in ihm hoch.



Erst vor einer Woche hatte er noch einen Brief an seine Mutter geschrieben:



„Liebe Mutter, du kannst auf deinen Sohn Hans so richtig stolz sein. Wir bekommen bald unsere Feuertaufe und müssen eine kleine Ortschaft vom Feind säubern. Ich darf zum ersten Mal als junger Unteroffizier eine Gruppe führen. Darunter sind sogar ein paar „alte Hasen“, die zu uns strafversetzt wurden. Alles erfahrene Frontkämpfer – und ich mitten unten ihnen als ihr Truppführer. Aber es sind auch eine ganze Menge junger Soldaten dabei. Manche von ihnen sind in meinem Alter. Sie können es kaum erwarten, so wie ich, endlich loszulegen. Anderen sieht man es an, dass sie die Hosen jetzt schon gestrichen voll haben. Aber die biegen wir schon hin. – Ja Mutter..., es geht endlich an die Front!“



Alles Gute Dir, Papa und Lorchen!





Dein Hänschen







Hans Reinhard schaute hinauf zu den vorbeiziehenden, weißen Wolken am blauen Himmel.



Das hier hatte er nicht erwartet. Seit gestern war er mit seinen Kameraden im Gelände unterwegs. Sie liefen singend mit aufgekrempelten Ärmeln hinter den Panzerfahrzeugen her. Zwischendurch kam es immer wieder zu kleineren Scharmützeln mit dem Feind, der jedes Mal schnell besiegt wurde. Das Knattern der Maschinengewehre, das Heulen der Stukas, das unablässige Donnern der Artillerie hallte jetzt noch in seinen Ohren. Sie waren unaufhaltsam auf dem Vormarsch und wollten verloren gegangenes Gelände wieder zurück erobern. Aber auf die Toten und die vielen Verwundeten auf beiden Seiten hatte er dabei nicht geachtet.



Jetzt erst, wo er das blutende, junge hübschen Mädchen mit dem Tod ringend vor dem Altar liegen sah, wurde er von einer tiefen Reue und zweifelnden Nachdenklichkeit über seine inhumanen Schandtaten erfasst. Auf diesen Anblick war er einfach nicht vorbereitet gewesen. Ihm graute davor, wieder hineinzugehen. Er riss sich dennoch zusammen und lief zurück zum Priester, der gerade dabei war, die klaffende Wunde des Mädchens frisch zu säubern, um sie mit einem weißen Verbandstuch abzudecken.



„Sie braucht dringend Hilfe. Tun Sie doch etwas, Herr Unteroffizier! Es steht in ihrer Macht, das Leben des Mädchens zu retten“, flehte ihn der Geistliche an.



Hans Reinhard schluckte mehrmals hintereinander, als hätte er einen dicken Klos im Hals. Sein Mund wurde trocken und die Zunge klebte ihm am Gaumen. Die Worte des Priesters berührten ihn tief. Er blickte um sich und suchte nach dem Soldaten Jakob Spengler, der ihn, lässig an einer Marmorsäule gelehnt, schon die ganze Zeit ruhig beobachtet hatte. Sein Gesicht sah irgendwie zufrieden aus.



Uffz. Reinhard rief ihn zu sich.



„Jakob, geh’ nach draußen zurück zu den Männern und lass’ die Sanitäter antanzen. Sie sollen sofort mit dem Sanka herkommen. Wir haben ein schwerverletztes Mädchen, dass ins nah gelegene Krankenhaus der Stadt gebracht werden muss. Beeile dich! Geh’ sofort und hol’ die Sanis her! Das ist ein Befehl!“



„Jawohl Herr Unteroffizier. Ich bin schon weg“, rief der Soldat Jakob Spengler wie aus der Pistole geschossen, drehte sich zackig um, verließ die Dorfkirche und strebte in der prallen Sonne geradewegs auf die wartenden Sanitätern am Dorfrand zu. Nach einer kurzen Unterweisung rollten sie alsbald mit ihrem Rot-Kreuz-Wagen der Wehrmacht direkt am offenen Eingangsportal der Kirche vor.



Nachdem sie das bereits ohnmächtige Mädchen einer medizinischen Erstversorgung unterzogen hatten, hievten sie es auf der Trage liegend behutsam in den Wagen und brachten es so schnell es ging in das besagte Krankenhaus, das geschützt weit hinter der Front in einer großen Stadt lag, die von der deutschen Wehrmacht noch uneingeschränkt kontrolliert wurde. Dort war man auch schon dazu übergegangen, verletzte deutsche Soldaten aufzunehmen.



In dieser Stadt lag auch die Kaserne des Unteroffiziers Hans Reinhard, der es sich ernsthaft in den Kopf gesetzt hatte, das junge hübsche Mädchen im Krankenhaus zu besuchen. Er wollte wissen, ob sie am Leben geblieben war. Ja, er wollte dieses Mädchen sogar unbedingt wiedersehen. Sein ganzes Denken war darauf ausgerichtet.



***




Zwei Tage danach.



„Du bleibst hier im Kübel bis ich zurück bin, Jakob! Hast du mich verstanden? Und kein Wort unserem Kompaniechef gegenüber, dass ich ins Hospital gegangen bin. Wenn wir in der Kaserne zurück sind, trinken wir einen zusammen. Sozusagen aus Dankbarkeit dir gegenüber, dass du mir dabei geholfen hast, das Mädchen besuchen zu können. Ich glaube nämlich, dass ich mich in sie verliebt habe. Es ist nicht zu fassen, Jakob...“ sagte der Unteroffizier und verschwand mit schnellen Schritten.



Keine zehn Minuten später, nachdem Hans Reinhard vom Wagen weggegangen war, stand er am Kopfende des Bettes jenes jungen Mädchens, das er vor zwei Tage hier hinbringen ließ. Er wusste auch, dass er sich damit befehlswidrig verhalten hatte, aber irgendwie war er jetzt froh darüber, dass er den Mut dazu aufgebracht hatte, anders zu entscheiden. Er fühlte sich jedenfalls moralisch gestärkt.



Auch dem Mädchen schien es besser zu gehen.



Lange stand er so da, jedenfalls lange genug, um zu sehen, dass sie besonders hübsch war. Er empfand zu ihr eine tiefe Zuneigung, die er wie ein göttliches Geschenk empfand. Ihr Name stand in schwarzer Schrift auf einem großen, weißen Zettel an der Wand.



Rosemarie de Greef aus Belgien.



Eine Schwester betrat das Krankenzimmer und blickte den deutschen Wehrmachtsoldaten misstrauisch an. Sie brachte das Essen rein.



In diesem Augenblick schlug das Mädchen die Augen auf. Es waren wunderschöne, kastanienbraune Augen, deren Blick aber offenbar von der Verletzung am Kopf eingetrübt wurden.



Hans Reinhard war wie vom Donner gerührt. Er hatte nur noch wenige Minuten Zeit, um sich vorzustellen und ihr erklären zu können, warum er sie unbedingt wiedersehen wollte. Was war noch zu sagen? Als ob man mit ein paar Worten schon das ausdrücken könne, was er nun endlich durchdringend begriffen hatte, was bedingungslose Liebe und gegenseitige menschliche Zuneigung bedeutete.



In seiner grenzenlosen Verlegenheit nahm er ihre Hand, drückte sie zart und sanft und stammelt dazu lediglich: „Ich bitte um Verzeihung für das, was ich dir angetan habe. Ich bitte inständig darum...!“



Die Krankenschwester bekam alles mit. Tränen liefen ihr über die geröteten Wangen, als sie sah, mit welcher Inbrunst der deutsche Soldat das Mädchen um Verzeihung bat.



Sie lächelte ihn an und erzählte ihm die ganze Geschichte, wie sich alles aus ihrer Sicht ereignet hatte. Dass sie aus Belgien stammte und gerade bei Verwandte in dem besagten französischen Dorf zu Besuch gewesen war, als die Deutschen einen Gegenangriff auf die vorrückenden Alliierten Kräfte starteten, die vor Wochen an Frankreichs Küste in der Normandie gelandet waren. Zusammen wollte sie mit den anderen das Dorf verlassen, kamen aber nicht weit, als auf der einzig befahrbaren Landstraße eine Granate explodierte und sie von einem Metallsplitter am Kopf getroffen wurde. Doch hat sie eigentlich von alldem nichts mitbekommen und sei erst wieder hier im Hospital aufgewacht.



„Darf ich dich wiedersehen, Rosemarie? Es ist mir sehr wichtig. Bitte, sage nicht nein...“ flehte der junge Mann sie an.



Das Mädchen nickte vorsichtig mit dem Kopf und wieder lächelte sie ihn an, als würde sie es sich genauso wünschen wie er. Ihre trüben, kastanienbraunen Augen hatte sie mittlerweile wieder geschlossen und in ihrem blassen Gesicht ruhte überraschenderweise auf einmal ein tiefer Friede.



Unten hupte das Auto. Jakob wurde langsam ungeduldig. Sie mussten weiter, denn sie durften nicht zu spät in die Kaserne zurück kehren.



Reinhard verabschiedete sich von dem Mädchen und der immer noch anwesenden Krankenschwester. Als er das Hospitalzimmer verließ, weinte er still vor sich hin. Es waren Tränen der Freude.



***




Die Zeit verging wie im Flug.



Unteroffizier Hans Reinhard geriet bei den Rückzugskämpfen um das Deutsche Reich in alliierte Gefangenschaft, wie so viele seiner Kameraden auch. Sie hatten die Schnauze voll vom Elend und Tod eines sinnlos gewordenen Krieges und wollten nur noch nach Hause.



Schon in der Gefangenschaft fragte er sich, was wohl aus dem Mädchen Rosemarie geworden war. Denn der Krieg hatte für ihn eigentlich nur ein Opfer gefordert: das junge Mädchen aus kleinen Dorfkirche.



Nach etwa einem Jahr wurde er aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen und kehrte von England nach Deutschland zurück. Von seinem Elternhaus in seiner Heimatstadt war nicht viel geblieben.

Die Familie war nicht mehr da und wohlmöglich tot. Auch von den ehemaligen Nachbarn gab es fast niemanden mehr. Nur eine alte Frau sagte zu ihm, die ein paar Straßen weiter unten in einem verschont gebliebenen Keller wohnte, dass das Haus seiner Eltern von einer amerikanischen Fliegerbombe während eines fürchterlichen Nachtangriffes getroffen worden war und bis auf die Grundmauern nieder brannte. Auf seine Frage hin, ob jemand seiner Familie den Bombenangriff überlebt hätte, konnte sie keine schlüssige Antwort geben. Aber es hat in dieser Höllennacht sehr viele Tote gegeben, die bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren, antwortete sie traurig und schien mit ihren feuchten Augen in die Ferne eines weiten, imaginären Horizonts zu blicken.



Hans Reinhard beschloss daraufhin, seine Heimatstadt zu verlassen, die größtenteils wie eine einzige Ruine aussah. Mit gefälschten Papieren verließ er schließlich Deutschland und machte sich, da er fließend französisch sprach, auf die Suche nach dem jungen Mädchen, von dem er wusste, dass sie eine Belgierin war und jetzt wohl irgendwo in Belgien leben musste. So hoffte er jedenfalls.



Mehr als vier Wochen schlug er sich kümmerlich in der Fremde durch. Arbeitete mal hier und mal da. Deutsch zu sprechen vermied er konsequent, um nicht aufzufallen.



Eines Tages hatten tatsächlich seine ausdauernden Fragereien bei den entsprechenden Behörden und bei den Menschen im damals heftig umkämpften Dorf nahe der belgisch-französischen Grenze überraschenden Erfolg. Zum Glück erkannten ihn die Dorfbewohner nicht, denn die meisten von ihnen waren damals vor den anrückenden deutschen Soldaten rechtzeitig geflohen. Deshalb war er ihnen unbekannt geblieben. Der alte Priester war kurz nach Kriegsende gestorben und lag auf dem alten Kirchenfriedhof begraben.



Hans Reinhard besuchte das verwachsene Grab und legte frische Blumen auf die mit grünem Cotoneaster überwucherte Grabstelle, die am oberen Ende von einem kleinen Steindenkmal begrenzt wurde. Auf einer schwarzen Namensplatte war in goldene Schrift der Name des Priesters eingearbeitet worden.



Nach einer kurzen Gedenkminute verließ er den Kirchenfriedhof und ging, von seinen schlimmen Kriegserinnerungen übermannt, mit versteckten Tränen zum Dorf hinaus.



***



Rosemarie de Greef war nach Frankreich gezogen und soll den Aussagen der Dorfbewohner nach im Pariser Viertel Marais leben, wo sie angeblich mit ihrer alten Mutter zusammen eine kleine Mansardenwohnung bewohnte. Die Straße allerdings konnte er nicht in Erfahrung bringen. Doch angespornt von diesen neuen Erkenntnissen machte er sich auf dem Weg nach Frankreich.



Mehr als einen Monate brauchte er, bis er endgültig auf die richtige Spur des jungen Mädchens gestoßen war. Sie wohnte in der Rue Saint Gilles, zusammen mit ihrer alten Mutter, die ziemlich rüstig geblieben war und ihre Tochter liebevoll betreute.



Ja..., betreute, denn das Mädchen Rosemarie war mittlerweile auf beiden Augen erblindet. Die schwere Kopfverletzung hatte jenen Teil des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen, der für die Sehkraft zuständig war.



Trotzdem entschloss sich Hans Reinhard dazu, das jetzt etwa dreiundzwanzig Jahre alte Mädchen zu besuchen. Eine innerliche Stimme trieb ihn an, es einfach zu tun und nicht feige wegzulaufen.



Endlich stand er vor ihrer Tür und betätigte die nostalgische Glocke. Drinnen rührte sich etwas. Es hörte sich nach schlürfende Schritte an. Eine rüstige alte Dame öffnet langsam die Eingangstür und schaute misstrauisch durch den freien Spalt.



„Was wollen Sie von uns, mein Herr?“ fragte sie höflich mit leiser Stimme.



„Ich heiße Hans Reinhard. Ich möchte Ihre Tochter Rosemarie besuchen, die ich während des Krieges in einem Krankenhaus kennen gelernt habe. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich noch an mich erinnern können, Madame. Wissen Sie, ich bin der deutsche Unteroffizier aus der kleinen Dorfkirche, der sich damals um Ihre Tochter gekümmert hat und sie ins Hospital bringen ließ“, erzählte Reinhard mit stockender Stimme.



Die alte Dame riss plötzlich die Augen weit auf und schlug völlig überrascht die Hände vors Gesicht. Offenbar konnte sie sich an alles noch genau erinnern. Sie war ja selbst dabei gewesen. Im gleichen Moment schwang die Tür ein Stück weiter auf und eine junge hübsche Frau stand im Gang. Sie trug ein schickes, blaufarbenes Blümchenkleid, das ihre makellose Figur besonders gut betonte.



Es war das Mädchen Rosemarie, und sie sah noch hinreißender aus, als damals im Krankenhaus.



„Mutter, wer steht da vor unserer Tür?“ fragte Rosemarie und drehte ihr Gesicht zum offenen Eingang herum.



„Es ist der junge deutsche Wehrmachtsunteroffizier aus der kleinen Dorfkirche, der dich damals ins Hospital bringen ließ und damit dein Leben rettete. Er besuchte dich auch dort. Er ist jetzt zu uns gekommen, um dich wiederzusehen, Rosemarie.“



Die junge Frau erschrak ein wenig, fing sich aber sogleich wieder und setzte ein überwältigendes Lächeln der Freude auf. Nur ihre Augen hielt sie geschlossen.



„Bitte ihn zu uns herein, Mutter! Er soll wissen, dass ich all die Jahre auf ihn gewartet habe. Ich konnte ihn einfach nicht vergessen. Ich habe nur einmal in sein Gesicht gesehen und war sofort verliebt ihn. Seine Stimme klang so sanft und voller Güte, als er sich bei mir entschuldigte. – Ja damals, da konnte ich noch sehen...“



Hans Reinhard wusste bereits von der Blindheit seines geliebten Mädchens und was in den zurückliegenden Jahren mit ihr geschehen war. Er hatte es rechtzeitig von einigen Nachbarsleuten aus dem Haus erfahren. Er war von ihrer Behinderung nicht enttäuscht. Im Gegenteil! Er liebte sie noch mehr, als je zuvor. Noch im Gang fielen sich die beiden jungen Menschen in die Arme und küssten sich lange und innig.



Leise schloss die alte Dame die Tür. Dann gingen sie alle drei ins gemütlich ausgestattete Wohnzimmer. Rosemaries Mutter machte sich anschließend in der kleinen Küche zu schaffen und richtete Kaffee und Kuchen für alle her.



Es wurde ein langer Tag und eine noch längere Nacht für Hans und Rosemarie.



Endlich hatten sie zueinander gefunden. Es sollte ein Wiedersehen fürs ganze Leben werden.



***



Unten, lässig mit der Schulter an einer hell erleuchteten Straßenlaterne in der Rue Saint Gilles gelehnt, stand Eth, der Engel, der stets dafür sorgte, dass alle Dinge zur rechten Zeit passierten.



Es war eine klare Nacht. Ein lauer Wind strich durch die Pariser Straßen.



Eth schaute zufrieden nach oben in einen wunderschön funkelnden Sternenhimmel. Gerade in dem Augenblick als er gehen wollte, hörte er eine sanfte Stimme hinter sich.



„Du hast deine Arbeit hier beendet. Gehe nun wieder und tue, was dir Neues aufgetragen wird. Deine nächste Reise wird dich in eine ferne Welt führen, auf der gerade intelligentes Leben im Begriff ist zu entstehen. Ihnen soll Liebe und Mitgefühl eingeimpft werden. Lasse alles zur rechten Zeit passieren. Eine große Aufgabe kommt auf dich zu. Der „große Attraktor“ will es so...“, hörte er die flüsternde Stimme noch sagen, bevor sich die Welt um ihn herum zu drehen begann.



Sein menschlicher Körper wurde schwächer und schwächer, bis er sich bald nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Schließlich stürzte er kopfüber auf das harte Pflaster und blieb dort regungslos liegen.



Eth hatte das Gefühl, in ein bodenloses, schwarzes Loch zu fallen.



„So sieht also das Ende diese Körpers aus, den ich nur vorübergehend bewohnen durfte. Meine Zeit in dieser Welt ist abgelaufen. Ich habe getan, was man mir aufgetragen hatte“, sagte er zu sich selbst mit leiser Stimme und ein Gedanke schoss ihm dabei durch den Kopf, wie es wohl in der kommenden Welt sein würde, auf die seine unsterbliche Seele jetzt unaufhaltsam zuschritt.


ENDE





© Heiwahoe


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