Termin in meiner alten Heimatstadt, und ich habe 2 Stunden Zeit übrig. Ich fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn raus, schlendere durch „meine“ ehemalige Straße, an ein paar bekannten Ecken vorbei. Die Bäckersfrau verkauft mir eine Rosinenschnecke, aber sie erkennt mich nicht. Und wie automatisch geleitet biege ich in den Ahornbogen ein. Endlos oft radelte ich dorthin zu Bettina. Ahornbogen 29, eines einer Reihe hübscher Einfamilienhäuschen.

Und hier ist eigentlich alles wie früher. Das kleine Eisengittertörchen, welches den Weg in den Vorgarten freigibt. Es war nie und ist auch sicher jetzt nicht verschlossen. Die Rhododendrenbüsche allerdings reichen jetzt bis an die Dachrinne des anderthalbgeschossigen Eigenheims. Um das Haus herum ein plattierter schmaler Weg, der hinter einem Essigbaum verschwindet und zum Seiteneingang führt. Bettina ließ ihre Freundinnen dort herein. Das war ok für die Eltern. Bettina war ja „zuverlässig“.

Auch Bettinas Fenster konnte man von der Straße aus nicht sehen, jedenfalls wenn der große Essigbaum belaubt war.

Ich mag nicht zu lange auf das Haus starren, was mögen die jetzigen Bewohner oder die Nachbarn denken. Ich laufe weiter bis zum Kinderspielplatz und lasse mich als kinderlose Mutter auf einer Bank nieder.

Mehr als 15 Jahre sind seitdem dahingegangen. Damals wollte ich Bettina mit einem kurzen Besuch überraschen. Ich wusste, ihre Eltern waren nicht da, und manchmal bot sie mit dann einen Eierlikör an.

Es war ein Herbstabend und schon dunkel. Ich schob mein Fahrrad durch das Törchen um es im Fahrradständer zu parken. Aber da stand schon ein Fahrrad, das ich nicht kannte. In einer blitzartigen Eingebung lehnte ich mein Fahrrad an die Grundstückseinfassung und öffnete das Törchen zum Vorgarten leise, lief den Plattenweg bis zu Bettinas Zimmer.

Natürlich hatte sie die Rollläden herabgelassen, aber bevor ich dagegen klopfte sah ich durch einen Spalt ins Innere von Bettinas Zimmer.

Bettina war nicht allein. Sie lag mit Marc nackt auf ihrem Bett, und sie poppten, Marc über ihr.

Wenn es einen Moment in meinem Leben gab, in dem ich das Atmen vergaß und mein Herz bald zersprungen wäre, so war es dieser.

Ich war 15, hatte noch nie was mit einem Jungen und wollte es auch noch nicht. Dass Bettina Marc „süß“ fand und gelegentlich was mit ihm und der Clique vom Sportverein unternahm wusste ich. Aber das - war unfassbar. Ich hatte ES weder selbst je erlebt, geschweige gesehen.

Zitternd wollte ich mich davon schleichen. Vermutlich war mir das Blut aus dem Gesicht gewichen. Hatte mich auch niemand gesehen? Die Straße war ruhig. Ich verharrte, hörte Bettinas Stimme, nonverbal, ließ mich behexen von der Magie des Vorgangs und drückte mein Gesicht wieder an die Rolllade. Es war so unwirklich so unglaublich. Bettina stemmte Marc ihr Becken rhythmisch entgegen und winselte bei jedem Stoß leise.

Erst als Marc sich von ihr löste und ich einen Moment seinen steifen Penis sehen konnte, haute ich ab. Kaum in der Lage mein Rad ordentlich zu lenken, hielt ich vor dem Schaufenster einer Bäckerei an und tat so, als ob ich dort etwas läse. Ich konnte mich in diesem Zustand nicht zu Hause blicken lassen.

Wieder im Hier und Heute sitze ich ungestört auf dem verwaisten Spielplatz in der warmen Frühlingssonne und möchte in mich hineinlächeln. Es will mir nicht gelingen. Auch der narkotische Duft der Holunderblüten trägt mich nicht fort in meine Kinderwelt.

Damals konnte ich das Geheimnis mit niemandem teilen. Lange blieb ich deswegen etwas „durcheinander“, wie meine Eltern feststellten. Sie dachten aber, ich sei verliebt. Und ich war froh, dass sie mir nicht in den Kopf schauen konnten.


© Leandra


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