Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

es gibt viele Wissenschaftler, die hohen Ruhm genießen. Vor allem seit dem 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der man zielgerichtet begann, nicht nur den Körper des Menschen zu erforschen und gegen dessen Erkrankungen vorzugehen, sondern in der plötzlich auch die Seele, das Gemüt und die im Unterbewusstsein schlummernden inneren Antriebe des Menschen auf das ganz besondere Interesse der Wissenschaftler stießen.

An der Spitze dieser Forscher marschiert ein bärtiger Mann, nein, es war weder Kaiser Wilhelm noch Karl Marx, sondern es war Sigmund Freud, der ja eigentlich mit dem Namen Sigismund Schlomo Freud in Mähren geboren wurde. Ob sein Geburtsort in Mähren die Ursache dafür war, dass er in seinen Forschungen zuweilen zum Märchenerzählen neigte, ist umstritten.

Unbestritten ist jedoch, dass er seine Theorien in Narrative kleidete, die oft die Kraft echter Mythen aufwiesen, ja, die vermutlich sogar durch Literatur und die Hirne der Menschen strichen, als Freud noch gar nicht geboren war. Es waren also gewissermaßen archetypische Motive, die möglicherweise bereits durch die Geschichten geisterten, die sich die Urmenschen in vorgeschichtlicher Zeit am Lagerfeuer erzählten.

Ich möchte Ihnen das an einem bekannten Beispiel erläutern. Sicher haben Sie von Freuds Hypothese gehört, dass der Mensch in seiner Entwicklung als Säugling, Kleinkind und etwas älteres Kind drei bestimmte Phasen durchläuft.

Als erstes die „Orale Phase“. Der typische Vertreter dieser Phase ist der Säugling, der an der Mutterbrust nuckelt. Er bekommt in dieser Zeit alles, was er braucht, und zwar ohne etwas dafür leisten zu müssen, wenn wir einmal sein geschickt gehandhabtes Schreien und Lächeln beiseite lassen. Er bekommt Nahrung, Zuwendung, liebkosende Berührungen und das Gefühl, sicher behütet zu sein, was natürlich wichtig für die Ausbildung seines Urvertrauens ist.

Ist er dann ein wenig älter, kommt der kleine Mensch in die „Analphase“. Jetzt verfügt er plötzlich über ein erstes Eigentum, er ist Eigentümer seiner eigenen Fäkalien, die er benutzen kann, um einerseits Besitzerstolz zu entwickeln, andererseits aber auch, um sein Umfeld zu manipulieren. Sie haben ja vielleicht das Bild des Kleinkindes vor Augen, das wie ein König auf dem Thronsessel auf seinem Töpfchen sitzt, umgeben von Tanten, Onkeln und Eltern, die versuchen, dem Kind ein „Würstchen“ abzuschmeicheln.

Doch auch diese Phase geht vorüber. Jetzt tritt das Kind in die „Phallische Phase“ ein, natürlich das männliche Kind, denn dieses Geschlecht spielt ja bis in das 19. Jahrhundert und auch noch bis heute leider immer noch die maßgebliche Rolle. Aber so ist das wohl, wenn einer das Schwert besitzt, sein Gegner aber nur die leere Schwertscheide. In dieser Phase also entdeckt der kleine Mann plötzlich, dass er in Form des eigenen Penis eine Art Waffe in die Hand bekommen hat. Diese Waffe prüft es auch eine ganze Zeit lang intensiv mit bloßer Hand auf ihre Funktionsfähigkeit, denn in den Kelch der Erkenntnis kann er sie in diesem Alter ja noch nicht eintauchen. Aber er spürt schon jetzt, dass ihm seine neuentdeckte Bewaffnung Macht verleiht, später dann wahrscheinlich auch noch viel mehr davon.

Diese drei Phasen finden wir aber nicht nur bei Freud, sondern sogar in einem Märchen der Gebrüder Grimm, die es möglicherweise sogar zu Freuds Lebzeiten aufgezeichnet haben, obgleich es sicher schon vorher durch die Geschichten der Spinnstuben geisterte. Es handelt sich um das Märchen vom „Tischlein deck dich“.

In dieser Geschichte geht es um drei Brüder, von denen der erste zum Abschied seiner Beschäftigung bei einem Drechsler ein Tischlein als Lohn erhält, das den Hungrigen auf ein Wort hin mit jeder gewünschten Leckerei versorgt. Vom Grützbrei bis hin zum Angus­steak. Ein ziemlich genaues Pendant zum oralfixiert an der Mutterbrust saugenden Neugeborenen.

Der zweite Bruder erhält nach seiner Lehrzeit als Lohn einen Esel, der sich alsbald als unerschöpflicher Goldscheißer entpuppt. Auf ein bestimmtes Wort hin beginn er anstatt Fäkalien pures Gold auszuscheiden, was dem „Kackawürstchen“ des Kindes in der Analphase entspricht, das von diesem ja wie der reinste Goldschatz hoch geschätzt und bei Bedarf auch zur Durchsetzung eigener Wünsche zum Einsatz kommt.

Beiden wird ihr wertvoller Besitz von einem bösen Wirtspaar, bei dem sie genächtigt haben, entwendet, beziehungsweise gegen ein nicht zauberkräftiges Möbel, beziehungsweise ein schäbiges, altersschwaches Grautier vertauscht.

Jetzt tritt der Repräsentant der Phallischen Phase mit seinem Knüppel auf den Plan, dieser ist ja jederzeit einsatzbereit und sorgt dafür, dass der böse Dieb halbtot geprügelt wird und das wertvolle Gut wieder herausrücken muss. Der Mann, der „Mensch-Gott“ sorgt mit seinem harten Phallus dafür, dass er sich zum Schützer von leiblicher Versorgung und gleißendem Besitztum aufwerfen kann. Bezeichnenderweise wird die Verhärtung des sich erigierenden Gliedes im englischen ja auch mit der Metapher vom „knüppelharten Holz“ umschrieben.

Man kann diese Entsprechung aber noch weiter treiben. Wer sagt denn, dass die drei Phasen nicht auch noch den drei Ständen entsprechen, nämlich dem Nährstand, dem Besitzstand und dem Wehrstand? Auch hier soll der Mann, der im Besitz der Waffe ist, dafür sorgen, dass das Volk seine leiblichen Bedürfnisse stillen kann und die Besitzenden auf ihren Goldsäcken hocken bleiben können.

Was ich Ihnen mit diesem kleinen Vortrag nahebringen wollte, ist lediglich, dass Wissenschaft, Märchen und Mythen schon in früher Zeit aus ein und der selben Quelle entspringen. Aus dem Hirn des Menschen nämlich, das griffige Geschichten über alles liebt. Und dabei machen Wissenschaftler keine Ausnahme.

In der Hoffnung, dass die angehenden Psychotherapeuten unter Ihnen sich nicht desavouiert und als zukünftige Märchenerzähler verspottet fühlen, danke ich für das Interesse, das Sie meinen Ausführungen heute entgegengebracht haben.

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© Peter Heinrichs


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Eine weiterer Vortrag des Professors Anatol Schwurbelzwirn

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