Es gab einmal ein Königreich, in welchem man der Kultur mehr zugeneigt war als in vielen anderen der umliegenden Reiche. Künstler, sowohl Maler als auch Musiker und nicht zuletzt Schriftsteller genossen dort allerhöchstes Ansehen. Und so war es nicht verwunderlich, dass auch der König sich zur Kunst hin­gezogen fühlte. Er schrieb Tag und Nacht Gedichte – leider ganz miserable. Eines war grässlicher als das andere. Trotzdem deklamierte er sie ausgiebig bei besonderen Anlässen, bei Staatsbesuchen und öffentlichen Reden vor allen Anwesenden. Und alle mussten schweigend zuhören und anschließend auch noch gemeinsam laut applaudieren und in begeisterte Hoch-Rufe ausbrechen.

Wenn sich die Zuhörer entsetzt die Hände vors Gesicht schlugen, hielt der König dies für Begeisterungsgesten, und wenn hin und wieder einer in den Park hinausging, um sich zu erbrechen und dann mit vom Würgen tränenden Augen zurückzukehrte, dachte er, dass den braven Mann sicher die Rührung über die Qualität der königlichen Poesie überwältigt hatte.

Die Minister – wenn sie privat zusammensaßen – überlegten oft, wie sie es anstellen könnten, diesen schrecklichen Vorträgen ein Ende zu setzen.

„Das Parlament könnte ein Gesetz einbringen, dass Gedichte nicht mehr öffentlich vorgetragen werden dürfen“, schlug der Justizminister vor.

Der Innenminister lachte leise: „So ein Gesetz würde er nicht unterzeichnen, und außerdem wäre er der Erste, der es ignoriert, wenn es doch auf irgend eine Weise erlassen würde“.

„Wir könnten die Herstellung von Papier und Tinte kontrollieren und dann die Lieferungen an den Hof unterbinden“, meinte der Finanzminister.

„Das kümmert doch den König nicht“, erwiderte der Kriegsminister, „er würde seine Machwerke sogar auf Goldplatten gravieren lassen, wenn es sein müsste“.

„Ich habe noch eine Idee“, sagte schließlich der Kultusminister, „wir empfehlen ihm, seine Gedichte veröffentlichen zu lassen, damit jeder Bürger im Reich sie lesen kann“.

„Und ich werde dafür sorgen, dass dieses Buch subventioniert wird“, ergänzte der Finanzminister, „dann kann es ein Prachtband werden, den sich trotzdem auch der ärmste Tagelöhner leisten kann. Und wenn er weiß, dass jeder seine Gedichte gelesen hat, verzichtet er vielleicht darauf, sie ständig vorzutragen“.

Alle riefen begeistert „Bravo!“ und stießen fröhlich ihre Weingläser aneinander.

Schon am nächsten Tage spannten sie den Hofnarren für ihren Plan ein, da er den engsten Kontakt zum König hatte. Der machte am nächsten Tag zum Vergnügen des Königs einen Purzelbaum bis vor den Thron und deklamierte dann im Singsang folgende Verse:

Majestät,
Ihr seid sehr groß,
Keiner dichtet so famos.
Ein jeder ist sofort betört,
Wenn er nur Eure Verse hört.
Und wenn er sie erst lesen kann,
Wie wär er glücklich, dieser Mann!
Selbst für den allerdümmsten Tropf,
Stünd' diese Welt dann auf dem Kopf!

Nach diesen Worten machte der Narr – hopplahopp! – einen Handstand, dass der König von oben in seine Nasenlöcher hineinsehen konnte.

„Das ist eine grandiose Idee, Narr“, lachte der König. Da machte dieser einen weiteren Purzelbaum und winkte heimlich dem Finanzminister, der hinter einer Säule auf dieses Zeichen wartete.

Er trat von den Thron und sagte sich verbeugend: „Könntet Ihr Euch mit der Idee befreunden, Majestät, Eure sprachlichen Kunstwerke drucken zu lassen? Wir könnten dann aus der zur Zeit gut gefüllten Staatskasse den Druck eines Prachtbandes subventionieren, und diesen sogar den Schulen zur Verfügung stellen. Alle Schüler im Lande könnten Eure herrlichen Gedichte auswendig lernen. Vielleicht sogar ihre Eltern. So wüchse eine Generation heran, für die Eure Poesie ganz selbstverständlich zum Leben gehörte. Jeder würde Eure Verse kennen, jeder könnte sie sogar auswendig rezitieren. Eurer literarischer Ruhm würde von Generation zu Generation weitergetragen“.

Der König nickte sehr, sehr selbstgefällig.

Und so geschah es, dass einige Zeit später in den Schaufenstern aller Buchhandlungen des Reiches der in feingegerbtes Kalbsleder eingeschlagene Gedichtband des Königs auslag, auf dem in feinstem Gold geprägt der Titel prangte:

DES KÖNIGS GEDICHTE
POESIE FÜR DEN ANSPRUCHSVOLLEN KENNER

Die aufs kunstvollste verzierten und verschlungenen Initialen eines jeden Gedichtes waren von berufenen Künstlern in Handarbeit ausgemalt worden. Und dieses herrliche Druckwerk kostete gerade einmal drei Kupferpfennige, gerade so viel, wie man sonst für ein einziges Brötchen ausgeben musste. Ausnahmslos alle Bürger des Reiches konnten es sich also leisten. Es war eine wahre Freude, in diesem wundervollen Buch zu blättern – sofern man vermied, die Gedichte zu lesen, denn die Lektüre dieser Reimereien hatte fast immer eine kaum zu unterdrückende Übelkeit zur Folge.

Jeden Tag ließ sich der König die Listen bringen, in denen erfasst war, wie viele Bände bereits verkauft waren. Zuerst wunderte er sich, dass seine Gedichte in diesen Listen immer mit null Verkaufszahlen aufgeführt wurden, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Existenz des Buches ja erst einmal bekannt werden müsste. So ließ er in allen Zeitungen verkünden, dass es seine Gedichte ab sofort für einen sehr niedrigen Sonderpreis in allen Buchhandlungen zu kaufen gäbe.

Tagelang tat sich nichts. Das Buch fand einfach kein Interesse. Doch drei Tage später schien der Verkauf plötzlich anzulaufen. Der erste Interessent hatte eines der Bücher erworben. Doch dabei blieb es; für Tage, für Wochen, für Monate. Immer wieder ließ sich der König hoffnungsvoll die Verkaufszahlen vorlegen. Doch es blieb bei diesem einzigen verkauften Band.

Der König beschloss, den Käufer, der offensichtlich über einen erlesenen Geschmack verfügte, suchen zu lassen. Er wollte ihn belohnen, ihn mit Geschenken überhäufen und zugleich befragen, warum er offenbar als Einziger die Ausnahmequalität seiner herrlichen Gedichte erkannt hatte. Er befahl, dass alle Detektive des Reiches mit der Suche beginnen sollten. Und es dauerte nur kurze Zeit, bis der Bürger, der das Buch erstanden hatte, ermittelt war.

Es war ein Einsiedler, der sich im tiefen Wald eine ärmliche Holzhütte gebaut hatte, und dort zufrieden vom Wasser des nahen Baches und von den Früchten und Pilzen lebte, die der Wald ihm bescherte.

Der König ließ es sich nicht nehmen, den Einsiedler persönlich zu besuchen. Er hielt Ausschau nach der ihm bezeichneten Hütte, bis er sie endlich zwischen dem dichten Buschwerk entdeckt hatte. Erwartungsvoll trat er ein. Am einfachen Holztisch sass der Einsiedler bei einem dürftigen Mahle, von dem er dem König jedoch sofort bereitwillig eine Portion anbot. Der König schob das einfache Essen achtlos beiseite und fragte den Einsiedler, wie dieser denn seine Gedichte beurteilte. Höflich erwiderte der Mann, dass er sie noch nicht gelesen habe.

„So hast du also das Buch eben erst gekauft, oder du bist noch gar nicht dazu gekommen, es zu lesen. Schreckst du gar vor der erhabenen königlichen Lyrik zurück? Das musst du nicht, jeder in meinem Reich darf meine Gedichte lesen und bewundern. Aber jetzt sag mir doch, aus welchem Anlass du das Buch erworben hast. Was sollten dir so vollendete Gedichte bei deiner anspruchslosen Lebensweise denn nützen?“

„Das Buch war preiswert und es hilft mir im Leben sehr“, antwortete der Einsiedler. „Und? Weiter?“ insistierte der König und beugte sich vor, begierig auf das, was der Einsiedler Lobendes über seine Gedichte äußern würde. Der Alte lächelte und wiederholte: „Das Buch war mir nützlich, sehr nützlich sogar“ Mit diesen Worten geleitete er den König höflich aber bestimmt zur Tür.

Als der sich noch einmal umsah, fielen seine Blicke auf die selbstgefertigten kalbsledernen Schuhe des Einsiedlers. In Goldlettern konnte er auf der Seite eines der Schuhe den Teil eines goldenen Schriftzuges lesen. Es war der Titel seines Gedichtbandes, der durch einen Abnäher im Oberleder zum Teil abgeschnitten war. Anstatt „DES KÖNIGS GEDICHTE. POESEIE FÜR DEN ANSPRUCHSVOLLEN KENNER“ konnte man dort nur noch die Worte lesen:

DES KÖNIGS
POESIE FÜR DEN A

Der König war zwar empört, jedoch fasste er sich schnell und sagte: „Gut, so hast du dir aus dem Buchumschlag also Schuhe genäht“, er seufzte, „dafür habe ich durchaus ein gewisses Verständnis, guter Mann. Aber was ist mit den eigentlichen Gedichten?“

„Wozu mir die Innenseiten mit Euren Gedichten gedient haben? Das wollt Ihr nicht wissen, Majestät. Ich glaube wirklich nicht, dass Ihr das wissen wollt“.

Es entstand eine Pause, erst wurde der König blass, dann schüttelte er den Kopf, und schließlich hastete er mit flatterndem Hermelinmantel wortlos hinaus in die Dunkelheit der Nacht.


© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Des Königs Gedichte"

Ein Märchen über die Selbstüberschätzung

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Kommentare zu "Des Königs Gedichte"

Re: Des Königs Gedichte

Autor: Maline   Datum: 15.09.2019 19:42 Uhr

Kommentar: Ein fabelhaftes Märchen, welches sicher nicht unter den Tisch gehört. Ich hab´es mit Genuss gelesen. Schönen Abend! Maline

Re: Des Königs Gedichte

Autor: mychrissie   Datum: 15.09.2019 22:07 Uhr

Kommentar: Danke liebe Maline,

die Idee kam mir gestern, als ich mich gestern mit ein paar Freunden nach einem literarischen Abend unterhielt, und einer erzählte von einem Buch, bei dem er es einfach nicht schaffte, mit dem Lesen anzufangen.

Ping! Schon war die Idee da, und heute vormittag entstand das Märchen. Der Nachmittag ging dann unter anderem mit einigen Korrekturen rum.

Und jetzt gefällt's Dir. Das freut mich.

Lieben Gruß Peter

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