Schuld/1

© Youtube Drew Gourley Sandstorm

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„Wann können wir die Maschinen abstellen?“, fragte Doktor Hill ihren Vorgesetzten, während sie sich mit dem Handrücken eine blonde Strähne aus der Stirn strich. Stetiges Summen und Pulsieren füllte den sterilen und abgedunkelten Raum. Im Zentrum des Labors, hinter einer dicken Glasscheibe, lagen fünf nackte Personen, zwei Frauen und drei Männer, auf kalten blanken Edelstahltischen. Aus ihren Hälsen ragten Schläuche, mehrere Infusionen mündeten in den Venen ihrer Arme und überall an ihren Körper kontrollierten Elektroden ihre Körperfunktionen.
Professor Moore seufzte: „Ich bin nicht sicher. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Organe versagen, ist immer noch sehr hoch. Trotzdem… selbst wenn sie sterben, war es bis hierher ein großer Erfolg. Ich hätte niemals erwartet, dass sie so lange leben. Dass der Gentransfer am lebenden Subjekt erfolgreich war, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir sollten mit der Abschaltung zunächst bei Subjekt zwei und vier beginnen. Informieren Sie die Staatssicherheit über diesen Schritt. Sagen Sie, dass wir bald erste Ergebnisse liefern können.“. Kaum hatte er den Satz beendet, drehte er sich von der Scheibe weg und wandte sich den Dokumenten über seine Arbeit zu.
„Denken Sie daran, den Securityservice zu informieren. Sollte es zu unvorhergesehen Reaktionen der Subjekte kommen, darf nichts von dem, was hier passiert, nach außen dringen.“.
Mit dem Mittelfinger schob Professor Moore seine silberne Brille den Nasenrücken hinauf. In den Falten auf seiner Stirn schlugen sich die Sorgen über einen möglichen Fehlschlag nieder.
Bald würde sich zeigen, ob sich seine jahrzehntelange Arbeit bezahlt machen würde.



Aris zuckte zusammen, als eine weitere sandige Böe gegen die geschlossenen Fensterläden schlug. Mit jedem Windstoß schoben sich erneut Sandkörner unter dem Türspalt hindurch ins Zimmer. Wie jedes Jahr, wenn der Sommer langsam endete, trugen heiße Winde den Wüstensand in die Stadt Soledad, und bedeckten alles mit feinem weißen Staub.
Kerzen erhellten die Schlafstelle am Boden des Raumes, während Aris konzentriert in einem Buch las. Es war abgegriffen und vergilbt, wie all die anderen in ihrem Besitz, aber sie hütete sie wie einen Schatz. Die meisten waren Romane oder Krimis, die sie alle schon mehrfach durchgelesen hatte, doch einige hatten auch politische und geschichtliche Themen und stammten aus der Zeit vor dem letzten großen Krieg. Seither wurden keine neuen Bücher mehr produziert, denn hätte es noch intakte Verlagshäuser gegeben, so hätte sich niemand gefunden, der zu solchen Zeiten einen Gedanken daran verschwendet hätte, ein Buch zu schreiben. Auch eine Lektüre über den Klimawandel besaß Aris, es wurde im Jahr 2039 aufgelegt. Das war nun schon 136 Jahre her, und es las sich wie eine finstere Vision von dem, was für die Bewohner von Soledad und dem Rest der Welt heute bittere Realität war. Eins der wenigen Dinge, die man nicht vorhersagen konnte, war der dritte Weltkrieg. Allerdings war dieser Krieg die unumgängliche Folge der Klimaveränderungen gewesen, nachdem Küstenregionen überschwemmt worden und gewaltige Landstriche entlang des Äquators so lebensfeindlich geworden waren, dass ganze Völker in mildere Regionen fliehen mussten. Die Grenzen und Machtverhältnisse verschoben sich, Bündnisse wurden aufgekündigt und neu geschlossen, und alles endete mit dem Einsatz von Atomwaffen im Kampf um Lebensraum und schließlich auch Trinkwasser.
Wie wichtig Wasser war, spürte auch Aris jeden Tag am eigenen Leib. Die Ausgabe von sauberem Wasser wurde von der Staatssicherheit reguliert, seitdem sich eine neue Militärmacht als Regierung etabliert hatte. Egal wo man hinging, an jeder Ecke sah man bewaffnete Männer in schwarzer Uniform. Doch bei genauerem Hinsehen wurde einem schnell deutlich, dass keiner dieser Soldaten jemals eine militärische Ausbildung absolviert hatte; Die Staatssicherheit bestand zum größten Teil aus Männern, die ihre Familien verloren hatten, die zugewandert waren, oder die einfach nur die neue Führung begrüßten. Nichteinmal jeder von ihnen trug eine Schusswaffe, da der Krieg, Aufstände und Naturkatastrophen die Ressourcen dezimiert hatten.
„Ach, verdammt...“, murmelte Aris, als sie auf eine staubige Taschenuhr blickte, die neben ihrem Kissen lag. Es war bereits halb neun abends und die Wasserabgabe endete täglich um einundzwanzig Uhr. Sie verzog das Gesicht, als sie dem Sandsturm lauschte und ihr klar wurde, dass sie keine andere Wahl hatte, als trotzdem das Haus zu verlassen. Zum Glück wohnte sie am Rande der Stadt, denn von hier aus war die nächste Wasseraufbereitungsanlage nur etwa zehn Minuten entfernt. Den ganzen Tag hatte sie gehofft, der Sturm würde etwas nachlassen, um Wasser zu holen, aber der Wind peitschte unaufhörlich gegen die Hauswände.
Also stand sie widerwillig auf, richtete ihre staubige Kleidung und strich sich das schwarze Haar zurecht, obgleich sie wusste, dass es bei diesem Unwetter nichts nützte. Nachdem sie sich den großen Kunststoffkanister aus dem Schrank geholt hatte, wickelte sie sich ein dünnes graues Tuch um ihr Gesicht, um Augen, Mund und Nase vor dem Sand zu schützen.

Die Sonne war beinahe untergegangen und der Staub in der Luft schluckte auch den letzten Lichtstrahl. Trotz der schlechten Sicht konnte Aris bereits die kalten Lichtkegel erkennen, die die Wasseraufbereitungsanlage umsäumten. Neben und hinter den Zisternen standen noch einige Lagerhallen und alte Fabriken, die von der Witterung gezeichnet waren. Alle Gebäude waren von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben, auf dem Stacheldraht angebracht war. Der einzige Bereich, der von den Stadtbewohnern betreten werden konnte, war der Schalter, an dem das Wasser verteilt wurde.
Eine kleine Gruppe weiterer Personen stand vor dem Verschlag und trotzte dem Sand, der ihre Kleider zum Wehen brachte. Alle hatten ihre Gesichter verschleiert, um sich zu schützen und niemand sprach ein Wort. Aris reihte sich ein und wartete schweigend, während der Vorderste in der Reihe seinen Kanister befüllen ließ. Der Mann, der danach an der Reihe war, hielt seine Identifikationskarte auf des Lesegerät, dass der Sicherheitsbeamte vor sich liegen hatte.
Statt des Piepens, das bei einer erfolgreichen Erfassung zu hören sein müsste, ertönte ein verweigerndes Summen. Der schwarz gekleidete Beamte mahnte genervt den Mann vor sich: „Ihre tägliche Abgabemenge ist bereits erreicht. Kommen sie morgen wieder.“.
„Aber...“, begann der Mann, doch nach einem wütenden Blick auf die Waffe, die hinter der Theke hervorlugte, packte er bloß seinen Behälter und wandte sich resigniert ab. Kurz bevor er weg war, trafen sich Aris‘ und sein Blick und sie erkannte unter dem Tuch ihren guten Freund Otis.
„Hey, Aris. Hast du dich auch noch herausgewagt?“, ein Grinsen war unter dem Schleier zu erkennen, er hob seinen leeren Wasserkanister und zuckte mit den Schultern.“Ich hätte das Wasser ja aus dem Staatsarschloch herausgeprügelt, aber er hatte leider die besseren Argumente. Ich wette, die müssen sich nicht registrieren, wenn sie sich welches nehmen.“, er drehte sich kurz um und warf dem Beamten einen gespielt zornigen Blick zu. Aus den Ritzen seines Tuches schauten seine blonden, welligen Haare hervor, die im Wind tanzten.
„Warte bis ich dran war, dann gebe ich dir etwas ab. Mein Limit ist noch nicht erreicht.“, schlug Aris freundlich vor, ohne auf seine Hetzerei einzugehen. Er geriet häufiger mit den Männern von der Staatssicherheit aneinander und sein freches Mundwerk hatte ihm schon öfter Sanktionen eingebracht, aber er war nicht der Typ dafür, seine Abneigung ihnen gegenüber zu verstecken.
„Du bist die Beste.“, erwiderte Otis und stellte sich neben sie. Während ihnen immer wieder heftige Windböen entgegenschlugen, hörte man dumpf in der Ferne das Rattern eines elektrischen Rolltores.
Es war durch den Staub und den Schleier zwar schlecht zu erkennen, aber man konnte die Silhouetten von mehreren Personen erahnen, die sich nach rechts und links umsahen, bevor sie weiteren Männern hinter sich ein Zeichen zum Nachfolgen gaben.
Otis stieß Aris am Ellbogen an. Beide waren gleichermaßen überrascht, da die Hallen hinter den Zisternen immer als verlassen und ungenutzt gegolten haben.
Aris wandte ihren Blick wieder ab, als sie an der Reihe war, um ihren Kanister befüllen zu lassen. Sie scannte wortlos ihre Karte ein und der Beamte nahm das Behältnis mit in einen anderen Raum.
Während beide warteten, beobachteten sie weiter die Leute, die aus der verlassenen Halle kamen. Hinter diesen traten zwei weiß gekleidete Männer hervor, die jeweils einen metallisch glänzenden Tisch vor sich herschoben, auf dem etwas Großes zu liegen schien. Offensichtlich waren sie in Eile, denn sie bogen direkt nach links ab und verschwanden hinter dem nächsten Gebäude.
Als der Staatsbeamte mit Aris‘ Wasser zurückkam, nahm sie es wortlos und ging mit Otis einige Meter zur Seite.
„Hast du das gesehen? Was waren das für Weißkittel? Die hab‘ ich hier vorher noch nie gesehen.“, tuschelte Otis und beugte sich zu Aris herunter. „Ich auch nicht.“, antwortete sie verwundert, „Ich dachte immer die Hallen stünden leer.“.
Otis nickte und näherte sich dem Zaun, in der Hoffnung, noch etwas erkennen zu können, aber die Unbekannten waren verschwunden. Noch während sie fragend ihre Hälse reckten, kehrte die Gruppe zu dem Tor zurück, die Tische waren leer und schepperten auf dem Schotter, als sie hastig in die Halle zurückgingen. Mit lautem Poltern schloss sich der Eingang wieder, als Otis entschlossen den Zaun entlang ging, um außer Sichtweite des Beamten an dem Schalter zu gelangen.
„Was hast du vor?“, fragte Aris ihn aufgebracht, als sie ihm folgte.
Nach einigen weiteren Metern blieb Otis endlich stehen und sah sich um, um sicherzustellen, dass niemand sie sehen konnte. „Willst du denn nicht wissen, was da vor sich geht? Es ist doch seltsam, dass wir vorher noch nie jemanden bei diesen Hallen gesehen haben. Und der Stadtverwalter hat doch selber oft genug betont, dass die Fabriken verlassen und baufällig sind, weshalb sie nicht genutzt werden können.“. „Ja, da hast du Recht...“, murmelte Aris nachdenklich.
Otis zögerte nicht lange und zog aus seiner Tasche eine Art Schweizer Taschenmesser, an dem auch eine kleine Zange angebracht war. Mit geübten Bewegungen trennte er von unten beginnend die einzelnen Maschen des Zaunes auf. „Warte, wenn man uns erwischt, sind wir geliefert!“, rief sie ihm noch zu, als er sich bereits durch das Loch im Zaun zwängte. „Was haben wir schon zu verlieren?“. Darauf wusste Aris tatsächlich keine Antwort, weshalb sie ihm besorgt folgte, nachdem sie ihren Wasserbehälter vor dem Zaun abgestellt hatte.
Der Sturm bot ihnen Schutz , sodass sie sich unbemerkt über den Platz schleichen konnten. Zunächst liefen sie geduckt an der Halle vorbei, um herauszufinden, was die Männer weggebracht hatten. Otis richtete sich auf und sah sich um. Es waren keine Wachen oder Beamte zu sehen, das Gelände war völlig unbewacht.
Einige Meter weiter entdeckte er einen kleinen Verschlag, auf den er sogleich zu schlich. Aris folgte ihm, während sie sich nervös immer wieder umsah. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Otis.“, murmelte sie, obwohl sie wusste, dass es ihn nicht davon abhalten würde, herauszufinden, was dort vor sich geht.
Otis stand inzwischen vor der Tür des Verschlags, die mit einem dicken Eisenschloss verriegelt war. Erneut suchte er in seiner Tasche, bis er ein Stück Draht zückte. „Hast du immer Werkzeug dabei, um Einbrüche zu begehen?“, fragte Aris vorwurfsvoll und Otis grinste sie nur wortlos an. Nach wenigen Sekunden, in denen er bedacht den Draht in verschiedene Richtungen geschoben hatte, öffnete sich das Schloss mit einem leisen Klicken. „Wenn mich meine Intuition nicht täuscht, haben sie hier abgeladen, was auch immer sie da raus gebracht haben.“. Langsam schob er die Tür auf, es war zu dunkel um zu sehen. Er holte ein Feuerzeug hervor, zündete es an und hielt es mit zusammengekniffenen Augen vor sich. Aris stand hinter ihm und konnte nicht in den Schuppen schauen, doch gerade als sie ihren Kopf am Türrahmen vorbei stecken wollte, spürte sie, wie Otis einen ruckartigen Satz nach hinten machte, stolperte und auf den Hintern fiel. Seine Augen waren weit aufgerissen und er stammelte: „Aris… Aris, da liegen Leichen drin! Hast du gehört? Leichen!“, seine Stimme zitterte und er murmelte mehrmals leise „Oh Gott“, während er auf seinen Händen und seinem Hosenboden immer weiter zurück rutschte.
Aris konnte zunächst nicht glauben, was er da sagte, aber sie sah an seinem Gesicht, dass es ihm ernst war. Sie kannte ihn schon viele Jahre, aber diesen geschockten Blick hatte sie bei ihm noch nie gesehen.
Auch wenn sie sich innerlich sträubte, in den Verschlag zu sehen, nahm sie trotzdem langsam Otis‘ Feuerzeug vom Boden auf, entzündete es und näherte sich dem Schuppen.
Als das warme Licht auf die kalkweißen Glieder schien, die am Boden lagen, erstarrte sie völlig und wagte es nicht zu zwinkern.
Zwei Menschen, nur zur Hälfte mit blutigen Tüchern bedeckt, lagen nackt und verkrümmt auf der kalten Erde, als hätte man sie wie Müll entsorgt.
„Otis… Was geht hier bloß vor sich? Wer sind diese Menschen?“, fragte sie kaum hörbar mit gebrochener Stimme.
Ihre Hand zitterte, als sie noch einen Schritt näher trat.“Sie sind erschossen worden. Aber was ist…?“, sie beugte sich hinunter und konnte auf dem Rücken der weiblichen Leiche eine Narbe erkennen, die sich vom Nacken bis zum Steiß erstreckte. Außerdem waren bei der anderen, männlichen, Leiche Schatten von violetten Venen auf dem Brustkorb auszumachen, die sich wie ein Netz bis zum Herz erstreckten. Ihre Köpfe lagen unter den Laken, aber das viele Blut verriet, neben einigen Einschüssen in weiteren Körperteilen, dass man ihnen in den Kopf geschossen hatte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit rappelte Otis sich wieder auf, sein Gesicht war kreidebleich. Große Ratlosigkeit machte sich breit, nachdem der erste Schock überwunden war. Aris stand bloß da, sie hatte das Licht bereits wieder gelöscht.
„Was sollen wir denn jetzt tun? Gehen und so tun als hätten wir nichts gesehen? Was auch immer hier vor sich geht, es ist definitiv eine Nummer zu groß für uns...“, begann Otis, in seiner Stimme schlug sich noch immer das Entsetzen nieder. Zunächst wusste Aris keine Antwort darauf. Wie den meisten Bewohnern von Soledad und vielen anderen Menschen, die mit und nach dem Krieg aufgewachsen sind, war der Tod nicht unbekannt für Aris und Otis. Auch durch die neue Regierung und die Staatssicherheit hatte es in den letzten Jahren immer wieder Exekutionen von Aufständischen gegeben und auch vorher gab es überall Gewalt, bis sich die Militärregierung formiert hatte.
Dennoch gab es einen großen Unterschied zwischen den Opfern des Krieges und den beiden Toten, die in diesem Schuppen entsorgt worden waren; Was hier passiert war, fand offensichtlich im Geheimen statt.
Aris atmete tief ein: „Wir sollten hier nicht zu lange bleiben. Die Männer kehren mit Sicherheit zurück, denn hier können die Leichen nicht bleiben und sie werden sie gewiss nicht am Tag wegschaffen. Aber so tun, als hätte ich nichts gesehen? Otis, irgendetwas passiert hier in diesen Hallen, von dem wir alle nichts wissen dürfen. Und bestimmt nicht erst seit heute. Was hat man diesen Menschen bloß angetan? Vielleicht sind da drin noch mehr Menschen...“.
Otis blickte sie überrascht an, denn selten hatte er so eine Entschlossenheit ihrerseits erlebt. „Ernsthaft Aris, wir stecken sowieso schon in verdammt großen Schwierigkeiten, sollte jemand mitbekommen, dass wir hier herumgeschnüffelt haben. Wir sollten uns da raus halten. Offenbar darf das hier niemand sehen. Wenn wir erwischt werden, sind wir die nächsten, die in diesem Verschlag landen.“, zischte Otis, während er sich nervös umsah. Aris war erstaunt darüber, dass er offenbar einen Rückzieher machen wollte und vor allem darüber, dass ihm diese Toten wohl egal waren.
Sie funkelte ihn wütend an, drehte sich um und näherte sich geduckt der verwitterten Lagerhalle. Otis seufzte, schüttelte den Kopf und begann ihr zu folgen, denn er merkte, dass er sie nicht davon abbringen konnte, der Sache nachzugehen. Zumal er sich an seine eigenen Worte erinnerte: Was hatten sie schon zu verlieren?

Der Sturm hatte sich noch immer nicht gelegt, während sie sich auf dem umzäunten Gelände aufhielten. Zwar konnten sie selbst nicht allzu gut sehen, aber die sandigen Böen boten ihnen auch Schutz davor entdeckt zu werden. Beide waren in erdigen Farbtönen gekleidet, was in dieser Gegend nicht unüblich war, und sie verschmolzen beinahe mit ihrer Umgebung.
Aris Augen tränten von dem unaufhörlichen Wind, der sich auch durch ihren Schleier einen Weg bahnte. Sie schlichen um das Gebäude herum, um einen Weg hinein zu finden. Die Fenster bestanden aus dicken Glasbausteinen und boten keine Möglichkeit hineinzuklettern. Auf der Rückseite des maroden Baus angekommen entdeckten sie eine stählerne Tür. Natürlich ließ sie sich nicht öffnen, als Aris die Klinke hinunterdrückte, doch Otis begann sofort wortlos, sich an dem Schloss zu schaffen zu machen. Es brauchte einige Sekunden, bis er es schaffte den Hintereingang zu öffnen, aber nachdem er erfolgreich war, drückte er sie langsam auf und spähte vorsichtig hinein.
Kein Licht brannte und auch die Männer von vorhin waren nirgendwo in Sichtweite. Sie gingen hinein und schlossen die Tür hinter sich, wobei sie von der Dunkelheit verschluckt wurden.
Otis schlich mit seinem Feuerzeug voran und es dauerte eine Weile, bis sie feststellen mussten, dass sich in diesem Teil der Halle nichts Ungewöhnliches befand. Es stand beinahe leer, bis auf wenige Container die Teils geöffnet im Raum verteilt vor sich hin rosteten. In hohen Regalen, die von dickem Staub bedeckt waren, standen bloß Kisten und Kartons mit altem Werkzeug, das schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt wurde. Während sie darüber nachdachten, wo sie weitersuchen sollten ,schien Otis eine Idee zu haben. Er richtete sein Feuerzeug dem Boden entgegen, ging hastig hin und her und fand schließlich wonach er suchte. „Hier Aris. Schuhabdrücke.“.
Gut erkennbar in der dicken Schicht Staub und Sand waren die Abdrücke von einigen Stiefeln zu sehen, manche neu und andere schon mit neuem Staub bedeckt. Sie führten allesamt vom Eingangstor in den hinteren Bereich der Halle, wo sie erneut auf eine Tür stießen.
„Warte...“, flüsterte Otis, als Aris bereits nach der Klinke greifen wollte. Er hob den Zeigefinger und blickte sie an. Dann bemerkte auch sie die gedämpften Stimmen hinter der Tür. Sie schienen weiter entfernt und man konnte nicht verstehen, worum es ging. „Das ist schlecht. Lass uns versuchen, hinein zu sehen. Aber ich weiß nicht, ob wir hier weiterkommen.“, sagte er und begann so leise wie nur möglich die Tür zu öffnen.
Nachdem er einen tiefen Atemzug genommen hatte, zog er sich den Schleier etwas aus dem Gesicht und spähte durch den Spalt. Direkt vor ihm war niemand zu sehen, die Stimmen mehrerer Männer waren weiter im Hintergrund zu vernehmen. Gedämpftes, gelbliches Licht erhellte einen langen Korridor, der rechts und links von Türen gesäumt war. Die Unterhaltung, die immer noch entfernt schien, kam von rechts.
Otis steckte seinen Kopf weiter durch die Tür und sah in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Eine Treppe führte hinab und als er seinen Kopf neigte, konnte er drei schwarz gekleidete Männer erkennen, die sich leise unterhielten. Aris und Otis konnten sie nicht verstehen und er zog sich zurück.
„Was machen wir jetzt?“, tuschelte Aris, „Ich denke wir müssen da runter, aber an den Wachen kommen wir nicht so einfach vorbei.“. Sie schien zwar erst resigniert, aber dennoch kam es für sie nicht in Frage, umzukehren.
Otis überlegte kurz und sagte dann: „Ich weiß, wie wir dort hineingelangen können. Wie wir später wieder rauskommen, ist eine andere Frage. Und wir wissen nicht, wie viele Sicherheitsmänner sich da unten noch befinden.“.
Mit ernster Miene sah Aris ihm in die Augen, Schweiß rann ihre Stirn hinab und ihre Haare klebten im Gesicht. Das Tuch kratzte und war noch immer voller feinem Sand. Als sie nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass es weiter gehen soll, nahm Otis sie am Handgelenk und lotste sie links neben Tür. Er legte seinen Finger auf die Lippen und begann vorsichtig, die Stahltür komplett zu öffnen, sodass Aris fast dahinter verschwand. Dann schlich er sich zügig in die Halle. Das fahle Licht machte wenigstens die Umrisse des Inventars erkennbar und Otis sah sich kurz um. Er warf ihr einen raschen Blick zu, als er eines der maroden Regale am hinteren Teil des Rahmens ergriff.
Mit Nachdruck kippte Otis es nach vorne, bis es von selbst zu fallen begann. In diesem Moment huschte er wieder Richtung Tür, das alte Regal knallte zu Boden und mit ohrenbetäubendem Lärm verteilten sich einige Kisten mit Werkzeug und Gerümpel auf dem staubigen Boden. Aris erschrak und musste sich den Mund zuhalten, während Otis sich und sie hinter die Tür presste.
Nur Sekunden später ertönte lautes Rumoren aus dem Raum neben ihnen und Schritte näherten sich schnell über die metallene Treppe. „Wer ist da?“, brüllte einer der Männer, als sie mit gezückten Waffen in die Lagerhalle stürmten, noch während der Nachhall des umgestürzten Regals zu hören war.
Sofort nachdem die Männer im Halbdunkeln angekommen waren und einer von ihnen eine Taschenlampe zückte, um die Situation zu überblicken, packte Otis Aris am Handgelenk und zog sie gebückt an der Tür vorbei direkt nach rechts verschwindend.
Beide bemühten sich, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, als sie immer noch geduckt die Treppe hinunter hasteten.

Ein weiterer kahler, gelblich beleuchteter Korridor tat sich vor ihnen auf. „Wohin jetzt?“, wisperte Aris, während sich beide hektisch umsahen. Links und rechts waren einige verschlossene Metalltüren zu sehen, mit jeweils einer gelb leuchtenden, runden Birne darüber. Die einzige, die in rotem Licht erschien war die Lampe einer Tür hinten rechts, die einen Spalt offen stand. Es schien, als wäre dort einer der Männer abgestellt gewesen, das Innere zu bewachen und hätte in der Eile die Tür nicht richtig zugedrückt.
Otis deutete wortlos in diese Richtung und sah sich noch einmal nach hinten um, bevor er die Tür nach außen öffnete. Es waren noch keine Geräusche zu vernehmen, dass die Männer schon zurückkehren könnten, man konnte bloß gedämpfte Unterhaltungen hören.
Otis atmete tief durch, als er die Tür öffnete, in der Hoffnung, dass sich in dem Raum keine weiteren Wachmänner befinden würden.

Auf den ersten Blick war niemand dort zu sehen. Aris schloss so leise wie möglich die Tür hinter sich und sofort fielen ihr die seltsamen Geräusche und die vielen Computer auf. Zischende und piepende Töne waren zu hören, die aus Lautsprechern zu kommen schienen, welche an den Computern angeschlossen waren. Auf diesen waren Aufzeichnungen von Herztönen und andere Kurven zu sehen, die keiner der beiden zuordnen konnte.
Zögernd richteten die beiden sich auf und Otis zischte:“Was zum Teufel ist das hier?“, als sein Blick über gläserne Schränke voller beschrifteter Fläschchen schweifte. Die Schreibtische waren voller ungeordneter Akten und an den Wänden standen hochmoderne Geräte, deren Zweck sie nicht kannten.

Otis fasste Aris an der Schulter an, während er langsam auf eine Scheibe direkt hinter den Schreibtischen deutete.
Es brauchte einen Moment, bis beide in dem fahlen Licht erkennen konnten, was sich hinter dem Glas befand.
Ihre Münder standen offen, als sie zu sehen begannen, dass dort Menschen auf glänzenden Metalltischen lagen. Um sie herum standen Geräte, von denen aus Schläuche in ihre Münder führten und einige Infusionen tropften stetig vor sich hin. Sie konnten eine Frau und zwei Männer in dem Raum erkennen, die alle nackt und kreideweiß waren.

„Scheiße, was ist das? Frankensteins Labor?“, flüsterte Otis angewidert.
„Wie konnte das so lange unbemerkt bleiben? Und was machen diese Menschen hier?“, fragte Aris sich selbst.
Drückende Stille füllte die Lücken zwischen regelmäßigem Piepen und dem Zischen von Atemgeräten.
Ratlosigkeit machte sich breit, während Otis begann, ziellos in den Unterlagen auf dem Tisch zu wühlen.
Schnaubend schmiss er sie zurück und sagte dann eindringlich zu Aris:“Keine Ahnung, was wir tun sollen. Wir sind jetzt nun mal hier. Unmöglich, sie so hier raus zu holen.“.
„Wir müssen Hilfe holen...“, meinte Aris, doch sie merkte schnell selbst, dass sie auch nicht wusste, wer ihnen helfen geschweige denn glauben würde.
„Es bleibt uns keine Zeit...“, Otis raffte erneut die Akten zusammen und stopfte so viele wie möglich in seine Taschen und Kleidung.
Dann begab er sich an einen der Computer. Aris verstand nicht viel davon, doch Otis schien zumindest genügend Grundkenntnisse zu besitzen, um ihn zu bedienen. Er öffnete verschiedene Reiter, klickte auf Symbole und schien etwas Bestimmtes zu suchen. Sein Gesichtsausdruck wurde immer fragender, während Aris hinter ihm stand und sich fehl am Platz vorkam: „Was suchst du?“.
„Ich will diese teuflischen Maschinen abstellen.“, murmelte er. Aris‘ Blick wirkte erschrocken. „Du weißt doch gar nicht, ob sie dann aufwachen. Vielleicht sterben sie auch einfach!“ ,sie bemühte sich, nicht zu laut zu werden.
Plötzlich waren Schritte und Unterhaltungen in der Nähe zu hören. Aris zuckte zusammen und ihre Augen durchsuchten den Raum nach einem anderen Ausweg. Die einzige Tür, die dort zu sehen war, war die, die in den separaten Bereich führte, in dem die Personen lagen.
Otis drehte sich kurz um und schnaubte: „Was schlägst du sonst vor? Ich an ihrer Stelle wäre lieber tot, als an mir herumexperimentieren zu lassen. Und wie du an den beiden Leichen gesehen hast, erwartet sie offenbar nichts Gutes, wenn sie mit ihnen fertig sind.“, er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, als er sich bückte und mit einem beherzten Griff die Stromkabel aus dem Rechner des Computers riss.
Kaum eine Sekunde später zeigten die anderen Bildschirme verschiedene blinkende Warnhinweise und die Geräusche der Maschinen und Überwachungsanlagen verstummten.
Otis nickte zufrieden: „Jetzt lass uns versuchen, hier heraus zu kommen. Siehst du das? Da führt ein Lüftungsschacht hinaus. Wenn wir dort nicht nach oben kommen, können wir uns wenigstens verstecken, bis uns etwas Besseres einfällt.“, er deutete mit dem Finger auf eine Klappe knapp über dem Boden in dem abgetrennten Raum.
Aris nickte, wobei sie noch immer nicht wusste, wie sie die drei Menschen dort raus bringen konnten.
Gerade als Otis durch die Tür gehen wollte, blieb er stehen und begann zu fluchen: „Scheiße. Hier kommt man nur mit einer Identifikationskarte weiter. Ich muss mir was einfallen lassen...“, er schlug aus Frust mit der Faust gegen die Tür, auch wenn ihn das nicht weiterbrachte.

Zeitgleich begannen sie, stöhnende und würgende Laute aus dem Raum hinter der Tür zu vernehmen. Beide waren völlig geschockt und Otis schrak zurück. Sie hechteten zur Scheibe, um zu sehen, was passiert. Ein Gefühl aus Angst und gleichzeitiger Erleichterung machte sich in ihnen breit.
Man konnte beobachten, wie der Mann, der ganz rechts auf dem Tisch lag, sein Bewusstsein wiedererlangte.
Nach einigen Sekunden der völligen Desorientierung, sah man die Panik in ihm aufsteigen. Der Mann begann sich die Schläuche aus Hals und Nase zu ziehen. Unter Husten und Würgen richtete er sich langsam auf, blickte verwirrt um sich und riss sich die Infusionen und Elektroden vom Leib. Er war nass von Schweiß und blass wie ein Toter, sein Haar war rabenschwarz und auf seiner Brust waren deutlich violett durchscheinende Venen zu erkennen, die zu seinem Herzen führten, wie bei der Leiche in dem Verschlag.
Dunkles Blut rann seine Unterarme hinab, sein Haar klebte an der schweißnassen Stirn. Die anderen beiden Personen begannen nun auch langsam, sich zu bewegen und zu Bewusstsein zu kommen.
In seinen Augen war purer Terror zu erahnen, der Raum und die Situation schienen ihm völlig unbekannt. Er fasste sich immer wieder an den Kopf, sah an sich hinab und auf seine Hände, als würde er an seiner Existenz zweifeln.
Durch das schockierende Schauspiel vor ihnen vergaßen Otis und Aris bald gänzlich den Zeitdruck und die drohende Gefahr, dass jeden Augenblick die Tür hinter ihnen aufgeschlagen werden könnte.

Wie ein wildes Tier getrieben versuchte der Mann aufzuspringen, rutschte beinahe auf dem gekachelten Boden aus und kam dann schwankend auf die Glasscheibe zu, die die drei voneinander trennte.
Er starrte die beiden eindringlich an, in seinen außergewöhnlich hellblauen Augen waren Wut, Verwirrung und ein befremdlicher Schimmer zu erkennen. Er konnte augenscheinlich zunächst nicht einordnen, in welchem Zusammenhang die zwei jungen Leute vor ihm mit seiner Zwangslage stehen, schien aber auch kaum einen klaren Gedanken fassen zu können.
Hektisch versuchte er das Blut von seinen Armen abzustreifen und drehte sich zu den zwei anderen Menschen um. Alle drei sprachen kein Wort, ihre Blicke trafen sich immer wieder und sie schienen sich nicht zu kennen. Noch konnten sie nicht aufstehen, die Frau hatte noch die Infusionen am Arm, die allerdings nicht mehr liefen. Sie war klein und zierlich und ebenso in Schweiß gebadet wie die anderen. Ihr Haar war lang und ebenfalls tiefschwarz und ihre Gesichtszüge verrieten ihre asiatischen Wurzeln.
Der zweite Mann, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, übergab sich, nachdem er die transparenten Schläuche aus seinem Hals gezogen hatte. Seine halblangen, aschblonden Haare waren verklebt von Schweiß und verdeckten zum Teil seine Augen.
Der Mann, der als erstes aufgewacht war, hatte nun die Tür entdeckt und hämmerte bald panisch auf sie ein. Otis und Aris zuckten bei jedem Schlag zusammen, aber sie konnten sich vor Schreck und Verwunderung kaum rühren.
Der Frau liefen in ihrer Fassungslosigkeit Tränen über das Gesicht. Alle drei schienen nicht zu wissen, was mit ihnen geschah und wo sie sich befanden. Der blonde Mann beugte seinen drahtigen Oberkörper nach vorne und ließ ihn auf seine Knie sinken, während er mit großer Übelkeit zu kämpfen schien.
Immer langsamer, aber dafür umso stärker, schlug der Mann voller Verzweiflung auf die Tür ein. Dort wo die Scheibe endete und die Tür anfing, konnte Aris nur noch seinen blutverschmierten Arm sehen, der immer wieder vor und zurück schwang.
„Wie …?“, Otis ging einige Schritte rückwärts, während er dabei die Tür fixierte. Mit jedem Schlag, der auf das Metall traf, schien sie sich ein kleines Stück zu wölben. Für einen kurzen Moment hörte er mit den Schlägen auf. Aris konnte beobachten, wie er Anlauf nahm, die Adern an seinem Hals waren geschwollen und schienen zu pulsieren, und mit voller Kraft seinen Körper gegen die Tür warf.
Mit einem ohrenbetäubenden Schlag sprangen die Türangeln aus ihrer Fassung und der Mann landete mitsamt der massiven Tür an der Wand, die direkt gegenüber lag.
Aris‘ entwich ein kurzer Schrei, während Otis zurücktaumelte und immer wieder zwinkerte, als könnte er seinen Augen nicht trauen.
Schnaufend und schwitzend rappelte er sich auf.
Seine Pupillen waren bloß noch stecknadelkopfgroß, das Blut an seinen Armen und Handflächen wirkte beinahe schwarz und er wandte sich leicht taumelnd Otis und Aris zu.
Kein Wort kam über seine Lippen, als er Aris gefährlich nahe kam, was sie beinahe auf den Schreibtisch fallen ließ. Erst jetzt bemerkte sie, dass er beinahe zwei Köpfe größer als sie und von furchterregender Statur war. Er beugte sich ein Stück weit hinab, während er sie zurückdrängte und stützte sich mit einer Hand an der Glasscheibe ab, hinter der sich bereits die anderen beiden Personen aufrafften.
„Linnea…?“, murmelte er mit finsterer Stimme, die in Aris Ohren wie ein Donnergrollen erschien. Sie konnte seinem Blick nicht ausweichen, und wagte es nicht zu sprechen.
„Hey! Lass‘ sie gefälligst in Ruhe! Wir haben dich da raus geholt!“.
Wenige Sekunden später wandte er seinen hypnotisierenden Blick von ihr ab, sah die Tür zum Korridor, riss diese auf und verschwand im Laufschritt.
Gerade als er den Raum verlassen hatte, ertönten mehrere Schüsse, Männer brüllten: „Stopp! Stehenbleiben!“, und kurz darauf ertönten Schreie, die Aris und Otis durch Mark und Bein gingen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, während das Geräusch von dumpfen Schlägen und brechenden Knochen zu ihnen drang. Nach kurzer Stille konnte man vernehmen, wie jemand barfuß davonlief und keine weitere Person war mehr zu hören.
„Los! Wir müssen hier verschwinden!“, rief Otis in Panik. Er warf noch einen letzten Blick auf die beiden anderen hinter der Scheibe, aber schüttelte nur noch widerwillig den Kopf. „Die schaffen es schon allein.“, sagte er leise und packte Aris am Arm, um sie anzutreiben.
Er drängte sie zur Tür hinaus und begann zu rennen.
Das Bild, das sich ihnen bot, war so verstörend, dass sie kaum hinsehen konnten.
Drei Männer lagen auf dem Korridor, einer mit dem Bauch nach unten, aber den Kopf fast gänzlich nach hinten verdreht. Blut rann aus Mund und Ohren, als hätte ein heftiger Druck auf seinen Schädel gewirkt.
Ein weiterer saß an der Wand, den Kopf nach unten geneigt. Es ließen sich harte Schläge ins Gesicht erahnen, aus seiner Nase strömte dunkles Blut, welches bereits seine Kleidung tränkte. Vor ihm lag ein Maschinengewehr, dessen Griff von Blut getränkt war. Der dritte lag auf dem Rücken mitten im Gang. Blutige Schlieren an der Wand verrieten, dass er mit Wucht dagegen geschleudert worden war. Seine Augen waren noch geöffnet und starrten an die Decke.
Für Aris und Otis fühlte sich alles wie ein Traum an. Ein Albtraum, den sie zu verantworten hatten. Sie spürten die Gefahr im Nacken und sie wollten nur noch raus aus dem alten Lagerhaus.
Es erschien ihnen wie eine Ewigkeit, bis sie die Treppe hinauf gehechtet waren, stets die blutigen Fußabdrücke vor ihnen, von dem Mann, der dieses Massaker angerichtet hatte.
All die Neugier und der Wunsch zu helfen waren verschwunden, bloß die Angst vor diesem unmenschlich wirkenden Mann und den zwei Unbekannten trieb sie voran, bis sie endlich draußen waren und der immer noch tobende Sandsturm sie umschloss.


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Beschreibung des Autors zu "Schuld/1"

Sie wollten diesen Menschen doch nur helfen.
Doch sie wussten nicht, was sie damit entfesselten.

Auf der Suche nach Erinnerungen und Vergeltung pflastern Leichen ihren Weg.
Auch an Aris Händen klebt nun das Blut der Schuld, doch auf welcher Seite steht sie?

Was ist noch gerecht in einer Welt, in der der Mensch alles zerstört hat und trotzdem noch Gott spielt?




Kommentare zu "Schuld/1"

Re: Schuld/1

Autor: hayodelight   Datum: 04.07.2019 10:44 Uhr

Kommentar: Erst einmal herzlich willkommen bei "Schreiber-Netzwerk". Dein düsteres Szenario über das Jahr 2175 n.chr. ist sehr ausdrucksstark und realistisch beschrieben. Ich denke, dass in extremen Notsituationen der Mensch gern versucht, Gott zu spielen, weil viele seiner Artgenossen den Glauben an Ihn verloren haben. Leider sind die Meisten nicht altruistisch, sondern macht- und geldgierig und machen die Situation noch schlimmer. Das Problem sind dann aber auch die "Guten", aber dass ist ja das Elixier einer Geschichte. Ich bin gespannt auf den zweiten Teil und hoffe, dass Deine gelungene Fiktion niemals Wirklichkeit wird.

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