Ich blicke nach oben. Hinauf zu der weißen Decke eines Raumes. Und ich sehe meine rechte Hand die sich nach jener Decke streckt. Sie ist schlank und zierlich. Einen Moment lang drehe ich sie. Bin ich wach? Ich versuche mich aufzurichten. Allerdings will mein Körper mir nicht ganz gehorchen. Dann höre ich erneut die Stimme, die mich in der Dunkelheit gerufen hat. „Bist du endlich wach?“ Unter großer Anstrengung schaffe ich es mich aufzurichten. Verwirrt sehe ich mich im Raum um. Der Raum scheint leer zu sein und misst einige Schritt Durchmesser. Jetzt kann ich auch sehen, auf was gelegen war. Es ist eine Art Bett. Rund und länglich. Genauso weiß wie der Boden und die Wände. Erst jetzt fällt mir der Stuhl auf, der am Bettende steht. Und auf diesem Stuhl sitzt ein Mann. Er hat kurzes schwarzes Haar und sanfte, aber kantige Züge. Aber er hat keine Falten. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Nicht gerade bildhübsch, aber auch nicht hässlich. Am Oberkörper scheint er stark gebaut zu sein, auch wenn ich das durch das dunkle Top und die Weste nicht erkennen kann. Seine Beine stecken in schwarzen Stoffhosen und Stiefeln. Er hat ein sanftes Lächeln aufgesetzt und schaut zu mir herüber. Ich kenne diesen Mann und Raum nicht. „Wo bin ich?“ Es ist nicht schwer zu sagen, dass ich verwirrt bin. Er antwortet mit der gleichen sanften Stimme, die ich auch schon zuvor gehört habe. „Keine Sorge. Du bist hier in Sicherheit. Dir wird nichts geschehen.“ Auch wenn das nicht die Antwort auf meine Frage ist, so beruhigt sie mich doch. „Entschuldige, dass alles muss sehr verwirrend für dich sein. Vielleicht hast du auch Angst. Aber erinnerst du dich an deinen Namen?“ Ich überlege. Ja, das Wort ist noch da. „Klara“ „Gut, Klara. Mein Name ist Alek. Alek Noktus.“ Alek…Noktus…. Die Worte hallen in meinem Kopf wieder. Aber ich erinnere mich nicht diesen Namen schonmal gehört zu haben. Er spricht weiter. „Erinnerst du dich warum du hier bist? Oder wie du hierhergekommen bist?“ Langsam schüttle ich den Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Manche haben nach dem Erwachen keine Erinnerungen. Mit der Zeit werden sie wieder zurückkehren.“ Erwachen? Habe ich geschlafen? Aber dieser Raum kommt mir nicht mal bekannt vor. Wo bin ich hier? Ich stelle ihm die Frage direkt. „Wo bin ich hier?“ „Wir nennen diesen Ort Kammer des Erwachens.“ Wieder keine direkte Antwort auf meine Frage. Ich will ihm die Frage erneut stellen, werde aber von ihm unterbrochen. „Ich möchte dich nicht noch mehr beunruhigen. Jedoch solltest du wissen, dass du gestorben bist.“ Bitte was? Ein verrücktes Lachen klettert meine Kehle empor. Das muss ein Scherz sein. „Ich soll tot sein? Aber ich bin doch hier, oder etwa nicht?“ Hilfesuchend schaue ich zu Alek. Jedoch ist seine Miene nicht gerade aufbauend. Ihm ist es ernst, was er gesagt hat. „Lass mich es dir erklären. Weißt du was man unter Diesseits und Jenseits versteht?“ Langsam nicke ich. Mir gefällt die Richtung in die er geht nicht. „Gut, dass vereinfacht die Sache. Dieser Ort befindet sich nicht in der diesseitigen Welt. Aber er ist auch nicht das Jenseits, kannst du mir folgen?“ Erneut nicke ich. Er wirkt etwas erleichtert. „Am besten ich erzähle dir die Geschichte von Anfang an.“ Er räuspert sich. „Zu aller Erst solltest du wissen, dass dies hier keine wirkliche Welt ist. Es ist eine künstliche Welt. Geschaffen von Forschern in der diesseitigen Welt.“ Er macht eine Pause und schaut, ob ich fragen habe. Dann fährt er fort. „Vor einigen Jahren entdeckten einige Wissenschaftler eine Methode, wie man die Seele vom Körper trennen kann und in ein digitales System lädt.“ „Seele?“ Er lächelt unsicher. „Seele, Verstand, Geist. Es ist das was uns ausmacht. Das was uns zu dem macht, der wir sind.“ Ich nicke und bedeute ihm fortzufahren. „Allerdings hatte diese Methode einen Hacken. Der Prozess kann nicht rückgängig gemacht werden. Deshalb, als die Forscher versuchten Testpersonen zu finden, stießen sie auf viel Ablehnung. Also wendeten sie sich an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Sie fragten Todespatienten. Jene mit schweren Krankheiten und Einschränkungen. Menschen die nicht mehr lange zu leben haben, ob sie sich bereit erklären würden kurz vor ihrem Ableben ihre Seelen in das Projekt transferieren zu lassen. Am Ende erklärten sich zwanzigtausend Freiwillige bereit. Und damit wären wir hier.“ Mein Kopf raucht. Das ist eine Menge zu verarbeiten. Und doch spüre ich, dass er die Wahrheit sagt. In meinem Hinterkopf meine ich eine Erinnerung zu sehen, wie ich etwas unterschrieb. Ob es diese Einwilligung war oder nicht, kann ich nicht sagen. „Also was ist das dann für ein Ort an dem wir sind?“ „Eine künstliche Welt. Eine digitale Welt, wenn du es so nennen möchtest. Es ist auch ein Experiment an dem wir teilnehmen. Für unsere Geister schufen sie eine Welt die der alten Welt sehr ähnlich ist. Und uns wurden die Mittel gegeben uns selbst zu versorgen. Eine zweite Chance könnte man sagen.“ Ich bin unsicher. Was wird nun geschehen. „Was wird nun von mir erwartet?“ „Du kannst tun, was du möchtest. Aber du musst dich nicht sofort entscheiden. Lass dir Zeit, bis du weißt was du tun möchtest.“ Ich nicke. In meinem Bauch fühle ich mich unwohl. Meine fehlenden Erinnerungen machen mir zu schaffen. Alek steht auf und tritt zu mir. Er geht in die Knie, damit ich ihm direkt in die Augen sehen kann. „Möchtest du nach draußen. Dir die Welt anschauen, die wir erschaffen haben.“ Meine Neugierde ist geweckt, also nicke ich. Er reicht mir eine Hand. „Kannst du stehen?“ Ich greife seine Hand und lasse mir aus dem Bett helfen. Erst jetzt schaue ich an mich herunter. Ich trage ein weißes Oberteil und weiße Hosen. Immerhin bin ich nicht nackt. Das stehen funktioniert ohne Probleme. Meine Beine tragen mich. Ich laufe ein paar Schritte und tatsächlich kann ich auch laufen. Alek schaut mir beeindruckt zu. „Erstaunlich. Die wenigsten können so früh nach dem Erwachen wieder laufen.“ Ich schenke ihm ein Lächeln. Ich glaube ich mag ihn. Naja bisher hat er mir auch keinen Grund gegeben ihm zu misstrauen. Im Moment fühle ich mich aufgrund meiner fehlenden Erinnerungen etwas unsicher. Er hält mir seinen Arm hin und ich hänge mich ein. Dann verlassen wir gemeinsam den Raum durch eine Tür, die mir vorher nicht aufgefallen ist. Wir kommen in einen großen Flur, der zur gegenüberliegenden Seite hin offen ist. Stufen führen nach unten und nach draußen. Ich kann geschäftiges Treiben hören Die Sonne scheint hoch oben am Himmel. Alek führt mich die Treppe herunter und in die warme Sonne. Ich blinzle durch die Helligkeit. „Alles in Ordnung?“ Er klingt besorgt. Ich schenke ihm ein Lächeln und er führt mich weiter runter. Dann nehme ich meine Umgebung in Augenschein. Ich befinde mich auf einem großen Platz. Überall stehen Häuser aus Stein und Holz unterschiedlicher Größe und Bauart. Hinter mir steht das Gebäude, aus dem wir gekommen sind. Es ist das größte und modernste Gebäude, soweit ich sehen kann. Und es sieht aus wie eine riesige Kuppel aus Beton oder Plattenbau. Und überall laufen Menschen durch die Gegend. Ich bin etwas überwältigt von der schieren Anzahl an Menschen. Alek setzt unseren Weg in Richtung der Häuser fort. Vor uns laufen lachend einige Kinder über die Straßen. Laut lachend halten sie nicht an, sondern rennen einfach weiter. „Hier gibt es Kinder?“ Er nickt und ein trauriges Lächeln wandert auf seine Lippen. „Ja, sie sind genauso wie alle anderen.“ Selbst diese Kinder sind tot? Diese Erkenntnis betrübt mich. „Die Zeit hier vergeht für uns nicht. Es gibt Tag und Nacht, aber wir altern nicht.“ Wie bitte? „Ihr seid unsterblich?“ Er nickt. „Wir altern nicht und sterben können wir auch nicht. Wir sind ja schon tot.“ Den letzten Teil hat er mit einem bitteren Unterton gesagt. „Der einzige Weg wirklich zu sterben ist sich unwiderruflich aus dem Projekt löschen zu lassen.“ Er setzt wieder sein ursprüngliches Lächeln auf. „Wenn jemand durch Verletzungen oder einen Unfall stirbt, dann erwacht er am nächsten Tag wieder. Ansonsten ist alles beim Alten. Hunger, Durst, Müdigkeit, Schmerz. Das alles ist geblieben. Schließlich sollen wir ein zweites Leben bekommen. Mit allem was dazugehört. Bis auf Kinder kriegen und sterben ist alles vertreten.“ „Aber da heißt dann…“ Ich will den Satz nicht zu Ende bringen. Aber Alek versteht. „Ja, sie werden für immer Kinder bleiben. Aber so können sie immerhin eine glücklichere Kindheit erleben, als es ihnen vorher vergönnt war.“ Da hat er vermutlich recht. Das ist der Sinn von dieser Welt. Denen ein Leben geben, die nie eins haben durften… Ich frage mich, wie mein Leben vorher ausgesehen hat. „Und hier leben zwanzigtausend Seelen?“ Aleks Blick wird traurig. „Nun ein Großteil lebt hier. Andere sind, so könnte man sagen, auf das Land gezogen in kleinere Städte und Dörfer. Auch sind es leider keine zwanzigtausend“ „Weshalb?“ „Die Trennung von Körper und Geist ist ein traumatischer Prozess. Manche haben nicht die Stärke diese Trennung zu verkraften und in dieser Welt wieder zu erwachen.“ „Oh.“ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Es ist alles so viel. So viel zu verstehen. Ich lasse meinen Blick über die Menschen wandern. Ich sehe Schmiede, Händler, Zivilisten und viele andere Gewerbe. So viel Leben. Ich lächle. Sie sehen alle so glücklich aus. Doch dabei kommt mir eine Frage in den Sinn. „Wer verwaltet diesen Haufen an Seelen?“ „Die Forscher haben ein Häusersystem eingeführt. Aufgeteilt in die verschiedenen Gewerbe und Aufgaben die anfallen könnten. Das Haus Brair hat die Aufsicht über alle landwirtschaftlichen Betriebe. Förster, Farmer, Fischer…al sowas. Das Haus Gildraen umfasst die Handwerksbetriebe wie Schmiede, Schneider und ähnliche. Im Haus Lokus findet man Beamte. Die Händler kommen aus dem Haus Ragnar. Und zuletzt gibt es das Haus Noktus. Soldaten, Kämpfer, Beschützer kommen aus diesem Haus.“ Soldaten? Wieso werden Soldaten benötigt? Da fällt mir etwas anderes auf. „Noktus? So wie dein Nachname?“ Er nickt lächelnd. „Allerdings. Ich bin das aktuelle Oberhaupt des Hauses Noktus.“ Ich bin beeindruckt. Damit habe ich nicht gerechnet. Er fährt mit seiner Erklärung fort. „Die Forscher haben jeden gefragt, was er sich vorstellen könnte als Berufung. Von daher ist jeder einem Haus zugeteilt. Auch wenn unser System auf Freiheit und Entfaltung baut, so war diese Ordnung notwendig.“ Jetzt kommt mir eine Frage auf. „Zu welchem Haus gehöre ich?“ Er lächelt stolz und freudig. „Du gehörst zu dem Haus Noktus.“ Bitte was? Ich soll eine Kämpferin werden? Als würde er meine Sorgen kennen, legt er mir eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Gedanken. Wie ich bereits sagte, musst du nichts tun, was du nicht tun willst. Und du musst auch keine Soldatin werden. Du kannst auch hier in der Stadt für Ordnung sorgen. Oder du schlägst einen anderen Weg ein. Aber bitte lass dir Zeit für deine Entscheidung und lass sie mich wissen.“ Puh. Ich weiß nicht, ob ich gerade überhaupt einen klaren Gedanken fassen kann. „Sag mal, Alek, wie heißt diese Welt eigentlich?“ Alek lächelt breit. „Einigen nennen es Paradiso, andere Purgatorium, wieder einige nennen es Nachleben. Aber der Großteil nennt es Albion.“


© Sora Hataki


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