Es waren einmal ein König und eine Königin, die sehnten sich über alle Maßen nach einem Kinde. Aber obgleich sie sich liebten und auch schon eine ganze Zimmerflucht in dem großen und prächtigen Palast für ein kleines Kind vorbereitet hatten, erfüllte sich ihr Wunsch nicht. Einsam standen die goldene Wiege und die großen und kleinen Spielsachen in den Ecken der Zimmer.

Eines Abends, als sie am Kamin beieinander saßen, sagte der König zu seiner Gemahlin: "Ach, wie ist es so einsam im Palast für uns. Wenn wir doch ein Kind hätten, dann wollte ich immer an deiner Seite bleiben und nie mehr in den Krieg ziehen, wie ich es in meiner früheren Regierungszeit in einem fort tat. Ich wollte auf ewig Frieden bewahren in unserem Lande, und meine Untertanen sollten ihr Blut nie mehr in einer Schlacht vergießen. Wahrlich, ich schwöre, dass ich das tun würde, wenn wir ein Kindlein bekämen."

Und er sank auf die Knie und betete um die Erhörung seines Wunsches.
Als einige Monate vergangen waren, kam eines Abends die Königin zu ihrem Gemahl und gestand ihm errötend, dass sie ein Kind unter dem Herzen trüge. Da jubelte der König und ließ die goldene Wiege herrichten. Und Kissen ließ er fertigen, am Rande bestickt mit Edelsteinen, sanft und rund geschliffen. In der Mitte aber, wo das Köpfchen des Kindes liegen sollte, waren sie aus weicher, blauer Seide.

Doch dann kam der Tag, an dem sich alles ändern sollte. Ein Bote des Nachbarherrschers brachte dem König einen Fehdehandschuh und eine Pergamentrolle, die enthielt eine Herausforderung zum Kampf und zugleich so böse Drohungen und Beleidigungen, dass der König es nicht mit seiner Ehre vereinbaren konnte, diese Beschimpfungen hinzunehmen.

So zornig wurde der König, dass er das Gelübde vergaß, das er getan hatte. Er ließ seine Soldaten aufmarschieren und sein Kriegsross satteln. Dann setzte er sich an die Spitze des bewaffneten Zuges und brach mit seinem Heer in das Land des Nachbarkönigs ein.
Es begann ein Schlachten und Morden, das den ganzen Herbst hindurch währte. Das Blut der Soldaten färbte die braunen Blätter, die am Boden lagen, dass sie noch dunkler wurden. Und als die Armeen schließlich voneinander abließen, weil ihre Kräfte erschöpft waren und keine den Sieg über die andere errungen hatte, bedeckten Verstümmelte und Tote das Schlachtfeld, so weit man sehen konnte. Der König war unter den wenigen, die das Schickal verschont hatte, und er floh auf blutendem Pferde zurück in die Heimat.

Als er über die Grenzen seines Landes ritt, war es Winter geworden, und Felder und Wege waren mit einem bleichen Tuch von Schnee bedeckt. Auf den weißbezipfelten Dächern der Hütten saßen die Krähen wie Tintenflecke und suchten mit glänzenden Augen nach Abfällen. Und sie krächzten:

"Das Kindlein ist bleich,
Das Kindlein ist kalt,
Sein Schicksal, sein Schicksal
Erfüllt sich im Wald!"

Aber der König achtete nicht auf das Gekrächze der Rabenvögel und ritt zum Schloss hinauf. Schwer ächzte das verwundete Ross, denn es sank bis zum Bauch in den tiefen Schnee ein.

Am Tor stand die Königin und erwartete ihren heimkehrenden Gemahl. Der König küsste sie und verlangte dann, das man ihn auf der Stelle zu dem Kinde führe, das während seiner Abwesenheit geboren worden war. Die Königin wurde traurig und sagte: "Lieber Gemahl, unser Töchterchen ist nicht so wie andere Kinder sind."
Der König begann zu lachen: "Natürlich ist es anders als andere, denn es ist unser Kind und somit eine Prinzessin. Das Kind eines Königs gleicht niemals einem anderen Sterblichen. Es ist einzigartig."

"Aber es ist bleich und kalt wie der Tod. Es hat weißes Haar und Augen so blass wie ein Gletscherbach. Und seine Hände sind eisig wie die Grabsteine auf dem Friedhof."

Der König trat an die Wiege. Da sah er sein Töchterlein bleich in den blauen Seidenkissen liegen. Das weiße Haar breitete sich wie ein Silbergespinst über die Edelsteine, welche die Kissen säumten. Als der Vater die Hände des Kindes in die seinen nahm, die vom Heimritt noch kühl waren, spürte er, dass die des Kindes noch kälter waren und es schauerte ihn. Dem Kind aber lief ein Lächeln über das weiße kleine Antlitz, und die großen Kinderaugen leuchteten trotz ihrer unnatürlichen Farblosigkeit.

Der König befahl, dass man alle Kamine des Palastes mit wohlriechenden Hölzern heizen sollte. Und die Daunendeckchen des Kindes ließ er mit dem feinsten Flaum von Sperlingen polstern. Und unter die Daunendecken ließ er goldene, mit Edelsteinen besetzte Wärmflaschen legen. Aber es nutzte alles nichts. Im Gegenteil, die Wärme schien dem Kind Schmerzen zu bereiten, denn es begann bitterlich zu weinen, wenn etwas seine Haut berührte, das nicht kühl war.

Da ließ der König Glaser und Künstler kommen, die mussten in die Fensterrahmen Glasbilder einsetzen, in denen rötliche Farben vorherrschten. So lag immer ein rosiger Schimmer auf den bleichen Wangen seines Kindes.

Weil es aber so blass und kalt war, wurde das Kind Schneeflöckchen genannt, und diesen Namen behielt es auch, als es größer wurde.

***

So wuchs Schneeflöckchen zu einem Mädchen heran. Seine Gestalt war die eines Engels, und sein Antlitz war von gleichsam überirdischer Schönheit, aber blass wie Marmor. Es tat auch kein Puder oder Schminke an seine Haut, denn es lag ein Zauber über dem Kind, der machte, dass ihm jedes Puder fortstäubte und die Schminke von den Wangen abfiel, kaum hatte es sie daraufgelegt.

Der Zauber bewirkte auch, dass es nur kalte Speisen essen konnte. Wenige Male hatte es etwas Warmes versucht, aber jedes mal hatte es danach unter unsäglichen Leibschmerzen gelitten.

Als Schneeflöckchen achtzehn Jahre alt wurde, ließ der König durch Herolde im ganzen Lande verkünden, dass seine Tochter im heiratsfähigen Alter sei und jeder um ihre Hand anhalten könne, der gemäßen Standes sei. Jeder könne kommen, eines jeden Werbung wolle man mit Wohlwollen anhören und erwägen, die letzte Wahl jedoch habe sein geliebtes Töchterlein selber.

Er ließ das Schloss mit Kerzen beleuchten, die verschleierten mit ihrem warmen Licht die Bleichheit von Schneeflöckchens Antlitz. Von draußen aber kam trotz der roten Fensterscheiben hartes, helles Licht herein, denn es war wieder Winter geworden.

Da jedermann wusste, mit welchem Gebrechen des Königs Tochter behaftet war, blieben die Freier aus. Keiner wollte eine weißhaarige Gemahlin, die bleich wie der Tod und kalt wie ein Frosttag war. Die Königin begann heimlich in den Nächten zu weinen, schließlich wollten ihre Tränen auch am Tage nicht mehr versiegen. Und es währte kein Jahr, da war sie vor Kummer gestorben.

Wieder kam ein kalter, frostiger Winter. Und in der Neujahrsnacht, als der Schneesturm um die Mauern des Palastes wütete, pochte ein fremder Prinz an das Tor und begehrte Einlass.

"Ich habe die Kunde erhalten, dass die Prinzessin dieses Landes ihre Hand und ihr Herz verschenken möchte. Ich bin ein Prinz aus dem fernen Sizilien und wohl wert, ihr Gemahl zu werden."

Da merkte der König, dass der fremde Prinz noch nicht wusste, welcher Fluch auf Schneeflöckchen lag. Er stimmte der Brautwerbung deshalb freudig zu und war überzeugt, dass auch Schneeflöckchen mit dem edlen Manne glücklich werden würde. Er ließ einen großen Wagen mit Gold und wertvollem Geschmeide als prächtige Mitgift beladen. Dann segnete er die beiden und ließ die Abfahrt Schneeflöckchens in das Königreich Sizilien vorbereiten.

Schneeflöckchen wurde noch im Palast in eine Sänfte gesetzt, die rote Scheiben hatte. Und vier Diener trugen diese Sänfte zu einer Kutsche, in die durch die farbigen Scheiben ebenfalls nur rötliches Licht eindringen konnte. Man wollte nicht, dass der Prinz das Gebrechen seiner Braut sähe, bevor er sie in seine Heimat gebracht hatte.

Stolz stand der schlanke junge Mann neben der Kutsche und erwartete seine Braut. Er hatte leicht gebräunte Haut, glänzende dunkle Haare und einen Blick, der feurig und mutig funkelte. Schneeflöckchen schaute heimlich aus dem Fenster der Sänfte, und kaum, dass sie ihn so stehen sah, hatte sie sich auch schon unsterblich in diesen stolzen, starken Mann verliebt.

Als sie in die Kutsche eingestiegen war und sich wohlig in die weichen Polster schmiegte, zogen die Pferde an, und das Gespann verließ den Schlosshof.

***

Den frisch gefallenen Schnee aufstäubend fuhr die Kutsche durch den verschneiten Wald, da sah Schneeflöckchen durch die farbigen Scheiben der Kutsche ein Rehkälbchen, das halb verhungert war und verzweifelt nach verborgenen Grashälmchen suchte. Es scharrte mit seinen zarten Hufen auf dem Waldboden und weinte vor Hunger und Kälte.

Da verspürte das Mädchen Mitleid. Es vergaß die Blässe seiner Wangen, nahm vom Reiseproviant und stieg aus der Kutsche, um dem Rehkälbchen ein paar Bissen zu reichen.

Als es so im blendenden weißen Schnee stand, erkannte der Prinz, dass er getäuscht worden war. Da er aber aus einem Land im Süden kam, wo die Männer Mädchen mit gebräunter Haut und dunklen Augen allen anderen vorziehen, fürchtete er, man könnte ihn daheim seiner bleichen Braut wegen verspotten.
Er gab dem Kutscher den Befehl, weiterzufahren, und ließ seine arme Braut im einsamen Wald zurück.

Als Schneeflöckchen aufblickte und die Kutsche schon in weiter Ferne dahinrollen sah, fing es mit solcher Verzweiflung an zu laufen, dass es Mantel und Schuhe verlor. Der Prinz sah es und befahl dem Kutscher, noch schneller zu fahren. Da erhob sich ein Wind und trug Schneeflöckchen, das leicht wie eine Daunenfeder war, über den Boden hin, so dass es der Kutsche immer näher kam. Jetzt schwang sich der Prinz selber auf den Kutschbock und schlug auf die Pferde ein, dass die Peitsche weithin durch den Wald tönte. Die Pferde galoppierten, bis Schaumflocken von ihren Nüstern flogen und der Schnee sie in eine glitzernde Wolke wie von Silberstaub hüllte.

Plötzlich zerbrach eines der Kutschenräder an einem vom Schnee verwehten Felsblock. Das Gespann stürzte um, und Menschen, Pferde und Wagen stürzten übereinander.

Schneeflöckchen eilte heran und wollte dem Prinzen beim Aufstehen helfen. Doch der stieß es zurück und rief: "Geh wieder heim in das Schloss deines Vaters! Ich kann dich nicht mitnehmen in mein Land, denn dort haben die Mädchen gebräunte Wangen, und jeder wird mich verspotten, wenn ich ein solches Wachsgesicht wie dich mitbringe!"

"Wenn Ihr mich nicht mit Euch nehmt, lieber Prinz, so wollt ich, dass ich hier am Boden festwüchse wie ein Baum und vor Durst und Hunger stürbe", sagte Schneeflöckchen.

Kaum hatte es diesen Satz ausgesprochen, ertönte ein Donnerschlag, und es war am Boden angewachsen.

Der Kutscher hatte den Wagen bald wieder instand gesetzt, und als der Prinz eingestiegen und fortgefahren war, begann Schneeflöckchen zu weinen. Die Kälte tat ihm nichts, da es selbst so kaltes Blut hatte, aber die Einsamkeit und die Angst vor der kommenden Nacht ließen es erzittern.

Da fühlte es plötzlich etwas Feuchtes an seiner Hand, und als es hinabsah, erblickte es das Rehkälbchen, das es mit seinem Schnäuzchen ganz sachte anstieß.
"Du bist genau so allein wie ich, nicht wahr?" seufzte Schneeflöckchen.
Da fing das kleine Rehkalb an zu sprechen. "Du bist Schneeflöckchen, das kalte, weiße Königskind. Wir Tiere kennen dich alle, denn du hast ein gutes Herz, und das weiß jeder bei uns im Wald – vom dicken Bären bis zur kleinsten Ameise."
Schneeflöckchen aber weinte und sagte: "Was nützt mir mein gutes Herz, wenn ich von allen Menschen verstoßen werde, weil meine Haut blaß ist wie die einer Toten und mein Haar weiß wie das einer Greisin? Wie soll ich glücklich sein, wenn die Menschen zurückweichen vor meinem Atem, der kalt ist wie der Wind, der von Norden kommt? Sieh, dieser fremde, schöne Prinz mit seinen starken Armen und seiner gesunden, braunen Haut hat mich verlassen, als ob ich eine Aussätzige wäre. Jetzt bin ich sogar hier festgewachsen wie ein Baum und muss elend verhungern und verdursten. Ich hätte ihn treu geliebt und ihm viele Kinder geschenkt. Ach, was soll ich nur tun, es wäre wohl am besten, ich stürbe hier auf der Stelle!"

Da antwortete das Rehkälbchen: "Ich will zur Eule gehen, die ist weise wie ein Professor und kann sogar in alten Büchern lesen. Sie weiß bestimmt einen Rat, wie dir geholfen werden kann."

So ging das Rehkälbchen zur Eule, die in einem hohlen Baum wohnte. Es klopfte mit seinem rechten Vorderhuf an den Stamm und rief:

"Eule, Eule, Pinselohr,
Komm aus deinem Haus hervor!"

Die Eule streckte den Kopf aus dem Baum und heulte: "Huuu, wer stört mich denn am Tage? Ich kann ja kaum die Augen öffnen, so blendet mich das harte, helle Licht!"

"Ach, liebe Eule, das arme Schneeflöckchen ist von allen Menschen verstoßen, weil es eine Haut wie Marmor, Haare wie Schnee und Augen wie Gletscherwasser hat", sagte das Rehkälbchen, "jetzt ist das arme Kind auch noch festgezaubert am Boden und steht im Wald und zittert vor Angst."

"Da weiß ich mir auch keinen Rat", sprach die Eule, "ich kann Schneeflöckchen nicht von dem Zauber befreien. Ich kann auch keine roten Wangen machen und keine braunen Haare, so gerne ich es täte. Aber etwas dunklen Glanz von meinen großen Eulenaugen will ich für Schneeflöckchen geben, damit sein Blick Feuer und Wärme bekommt."

Das Rehkälbchen bedankte sich und lief weiter durch den dichten Wald. Da kam es an die Höhle des Bären, der im tiefen Winterschlaf lag. Es klopfte mit seinem rechten Vorderhuf an den Höhleneingang und rief:

"Meister Braun, Meister Braun,
Komm nach draußen voll Vertrau´n,
Schlag mich nicht mit deinen Klauen!"

Da kam der Bär aus seiner Höhle getapst und brummte: "Wer wagt es, mich in meinem Winterschlaf zu stören? Ich habe gerade von gelben, dicken Bienenwaben geträumt, aus denen der süße, braune Honig tropfte. Wer hat die Vermessenheit, mich aus einem so herrlichen Traum zu wecken!?"

"Ach, lieber Bär", sagte das Rehkälbchen, "Schneeflöckchen, das arme Kind, ist von den Menschen verstoßen, weil es bleiche Haut und weißes Haar hat. Bei der Eule war ich schon, sie hat etwas Glanz für Schneeflöckchens Augen gegeben. Was soll ich tun? Schneeflöckchen steht festgewachsen im Wald und hat Angst vor dem Alleinsein und der Dunkelheit."

"Ich bin nur ein dummer, dicker Bär", bekam es zur Antwort, "ich weiß nicht, was da zu tun ist, obwohl ich Schneeflöckchen sehr gern helfen würde. Nun, etwas vom Braun meines dichten Felles kann ich für Schneeflöckchens Haare geben, damit seine Locken Glanz und Farbe bekommen."

Das Rehkälbchen bedankte sich und lief weiter durch den Wald. Es war schon Abend geworden, und in der Dämmerung kam es an den Busch, in dem das Rotkehlchen wohnte. Dieses hatte bereits das Köpfchen unter die Flügel gesteckt und wollte gerade einschlafen. Da zog das kleine Rehkalb mit dem Schnäuzchen an einem Zweig und rief:

"Ach liebes Fräulein Purpurrot,
Hilf mir doch in meiner Not,
Bin vor Kälte schon fast tot –
Ich geb dir auch ein Stückchen Brot!"

Das Rotkehlchen äugte aus seinem Nest hervor und zwitscherte: "Du weißt doch, dass ich Angst vor der Dämmerung habe, weil ich dann meine Feinde, die Raubvögel, nicht sehen kann. Aber wenn du mir ein Stückchen Brot gibst, will ich dir nicht böse sein. Etwas Nahrhaftes im Magen kann bei dieser Kälte nicht schaden."

Das Rehkälbchen gab dem Rotkehlchen sein letztes Stückchen Brot und sagte: "Ich komme, um Schneeflöckchen zu helfen. Es ist im Wald festgewachsen und kann nicht von der Stelle. Jetzt steht es in der Dämmerung und weint vor Angst. Der Prinz hat es verstoßen, weil seine Haut so blass ist. Für sein weißes Haar hat der Bär schon Farbe gegeben und Glanz für seine Augen die Eule. Sag mir doch einen Rat, wie ich Schneeflöckchen helfen kann!"

"Wie du dem lieben, armen Schneeflöckchen helfen kannst, weiß ich auch nicht, aber etwas vom Rot meiner Brust will ich dir für das Prinzeßchen mitgeben, damit seine Wangen frischer leuchten."

Da bedankte sich das Rehkälbchen und sprang eilig den weiten Weg zurück, denn es wollte noch vor dem Einbruch der Nacht bei Schneeflöckchen sein, um bei ihm zu wachen und es zu beschützen.

Als es Schneeflöckchens Hand berührte, sah dieses mit tränenüberströmten Augen zu ihm hinunter.

"Spiegele dich in meinen Augen", sagte das Rehkälbchen, "dann wirst du etwas erblicken, das dein Herz über alle Maßen erfreuen wird."

Schneeflöckchen tat wie geheißen. "Aber ich habe ja rote Wangen und braunes Haar und glänzende, dunkle Augen!" rief es erstaunt.

Da seufzte das Rehkälbchen und sagte: "Das sind Geschenke von der Eule, vom Bär und vom Rotkehlchen. Aber was nützt das alles, wenn du hier am Boden festgewachsen bist und nicht mehr fortkannst!?"

"Ich weiß, dass ich sterben muss", sagte die Prinzessin, "aber dich, mein kleines Reh, bitte ich fortzugehen. Such dir Futter, damit du nicht verhungerst. Wenn schon ich sterbe, so sollst wenigstens du leben."

"Ich will bei dir bleiben und mit dir sterben", sagte das Rehkälbchen. Und es legte sich seufzend neben Schneeflöckchen in den kalten Schnee, schloss die blanken Augen und wartete auf den Tod.

Und dann kam die tiefe, schwarze Nacht.

***

Da hörte man plötzlich im dunklen Wald tastende Schritte im weichen Neuschnee. Dann konnte man eine Stimme vernehmen, die immer wieder rief: "Schneeflöckchen, wo bist du?"

"Hier bin ich", antwortete Schneeflöckchen, "ich kann mich nicht bewegen."
Da kam jemand im Dunklen herbei und es war der Prinz. Er griff nach ihren Händen und sagte: "Ich habe dich nicht vergessen können, Schneeflöckchen. Als ich so allein im Wald war, begegnete mir ein alter Einsiedler. Er wusste von allem, was geschehen war, als sei er dabeigewesen. Und er sagte mir, dass ein Mensch niemals sein Glück wegwerfen solle, wenn es ihm einmal begegnet sei. Ich habe lange über diesen Satz nachgedacht und erkannt, wie töricht ich war, als ich nur die Blässe deines Antlitzes beachtete. So bin ich aus der Kutsche gestiegen und zu Fuß zurückgegangen, um dich in mein Königreich zu holen. Die Leute mögen über deine Hautfarbe sagen, was sie wollen, mir ist es ganz gleich – jetzt und für alle Zukunft."

Er nahm sie in den Arm, küsste sie und flüsterte: "Ich liebe dich, Schneeflöckchen, und ich wünschte mir, du könntest mir vergeben und mich noch lieben nach dem, was ich dir angetan habe!"

Als er das gesagt hatte, wich der Bann von dem Mädchen, und es konnte die Füße wieder frei bewegen. Es sagte zu dem Prinzen: "Zünde eine Laterne an und sieh mir ins Gesicht. Sieh mich genau an und dann sag mir, ob du mich wirklich zur Gemahlin willst."

Der Prinz zündete eine Laterne an und blickte Schneeflöckchen in das schöne Antlitz. Da sah er, dass sie rote Wangen hatte, dass ihr Haar braun war und ihre Augen in dunklem Glanze strahlten. Er zog sie in die Arme, um sie mit sich fortzutragen.

Aber Schneeflöckchen sagte: "Warte, wir wollen das kleine Reh mitnehmen, das mir so geholfen hat." Der Prinz nickte und zog seinen dicken, gefütterten Mantel aus, um das Reh zu bedecken, damit es nicht friere.

Doch das Rehkälbchen war schon vor Kälte und Hunger gestorben und hatte die großen Augen für immer geschlossen.

Da begruben sie es unter einer dunklen Tanne und stellten ein Holzkreuz auf das Grab. Dann gingen sie mit wehem Herzen hinaus aus dem Wald zu der wartenden Kutsche, um in das Heimatland des Prinzen zu fahren.

Dort war bald große Hochzeit. Sie lebten in Liebe miteinander und bekamen drei Kinder, und alle hatten getönte Haut, dunkle Augen und braune Haare. Nur das Jüngste, ein Mädchen, hatte zuweilen in den Augen einen hellen Schimmer wie von frischgefallenem Schnee. Aber das sah man nur, wenn es den Blick aufhob und in den Himmel schaute.

Und jedes Jahr, wenn das Weihnachtsfest nahte, fuhren der König, seine Gemahlin und alle drei Kinder zum Grab des Rehkälbchens und besuchten es an seiner ewigen Ruhestätte. Dann häuften sie Nüsse, Zimtsterne und Lebkuchen auf das Grab, damit die vielen hungrigen Tiere des Waldes am Christfest etwas Feines zu essen hatten und nicht im harten Boden vergeblich nach erfrorenen Grashalmen scharren mussten.




© Peter Heinrichs


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